Rückkehr des entführten Soldaten nach Israel:Gilad Schalit - tausend für einen

Er wirkt schmächtig, geradezu unscheinbar. Doch die Bedeutung, die Gilad Schalit für Israel hat, ist gewaltig. Nach 1900 Tagen als Geisel der Hamas kehrt der Soldat zurück. 1027 Palästinenser kommen im Austausch frei. Wie konnte dieser junge Mann zu so einem Symbol werden? Welche Häftlinge kommen im Gegenzug frei? Was hat der Deal mit der jüdischen Geschichte zu tun? Und warum die säkulare Fatah-Regierung im Westjordanland nun in die Ecke gedrängt wird.

Matthias Kolb und Michael König

Wer ist Gilad Schalit?

Der damals 19 Jahre alte Soldat Gilad Schalit wurde am 25. Juni 2006 in Israel von Kämpfern der Hamas verschleppt. Die Militanten nutzten dafür einen Tunnel, der aus dem Gaza-Streifen nach Israel führte. Zwei israelische Soldaten starben bei dem Angriff, drei weitere wurden verwundet. Schalit selbst soll an der Schulter und der Hand verletzt worden sein.

Die israelische Armee beförderte Schalit während der Geiselhaft vom Hauptgefreiten zum Unteroffizier. Lebenszeichen des Entführten waren rar. Trotz mehrfacher Bitten durfte das Internationale Rote Kreuz den jungen Mann nicht im Gaza-Streifen auf- und untersuchen. Vereinzelt tauchten Briefe, Tondokumente und Videos von Schalit auf. Zuletzt war das jedoch im September 2009 der Fall. Seit zwei jahren also kein offizielles Lebenszeichen mehr von ihm.

Doch eine große Solidaritätsbewegung in Israel forderte immer wieder seine Freilassung, ließ ihn nicht in Vergessenheit geraten. Im Internet finden sich verschiedene Websites, die sich für die Freilassung Schalits und Frieden im Nahen Osten einsetzten. Selbstverständlich kämpfte auch Schalits Familie seit Jahren für seine Rückkehr: Die Eltern und Gilads Bruder Joel sowie Freunde und Unterstützer harrten monatelang vor dem Amtssitz des Premiers aus.

Dass der Soldat am Dienstag, mehr als 1900 Tage nach seiner Entführung, in seine Heimat zurückkehren kann, ist einem Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas zu verdanken. Zuvor waren mehrere Befreiungsversuche gescheitert.

Wie geht es Schalit jetzt?

Auf den Bildern und Video-Aufzeichnungen, die nach der Freilassung Schalits am Dienstagmorgen veröffentlicht wurden, macht der Soldat einen abgemagerten Eindruck. Sein Haut wirkt fahl, das Gesicht ist geprägt von den dunklen Augenringen. Zeichen dafür, dass er jahrelang das Sonnenlicht nicht oder nur kaum erblickte.

Im Interview mit dem ägyptschen Staatsfernsehen, das kurz nach der Freilassung ausgestrahlt wurde, sagt Schalit jedoch, er fühle sich gesund. Es sei aber irritierend, nun binnen kurzer Zeit so viele Menschen zu sehen, nachdem er lange nur wenige Menschen gesehen habe.

Die Hamas habe ihn gut behandelt, sagte Schalit. Er habe Zugang zu Massenmedien gehabt und wisse daher, dass viele Menschen für seine Freilassung gearbeitet hätten.

Nach seiner Ankunft in Israel wurde Schalit medizinisch untersucht. Die Armee bestätigt seinen guten Gesundheitszustand.

Warum hat die Freilassung so lange gedauert?

Die Entführer der Hamas haben seit 2006 verschiedene Angaben gemacht, unter welchen Bedingungen sie bereit wären, ihre Geisel freizulassen. Im Kern ging es jedoch stets um die Freilassung von Palästinensern aus israelischer Haft. Zunächst hatte die Hamas laut BBC die israelische Regierung aufgefordert, alle Frauen und Jugendlichen zu entlassen - erst dann würden sie ein Lebenszeichen von Gilad Schalit geben.

Nachdem Israel Gespräche mit der radikalislamischen Hamas anfangs abgelehnt hatte, begannen schließlich Diplomaten und Geheimdienstmitarbeiter aus Ägypten und Deutschland mit den Verhandlungen - neben der Hamas in Gaza musste auch die Exil-Führung in Damaskus eingebunden werden. Im November 2009 scheiterte eine Vereinbarung im letzten Augenblick.

Damals erläuterte ein Kommandeur der Kassam-Brigaden, eines bewaffneten Arms der Hamas, in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung das eigene Kalkül: "Für einen Soldaten bekommen wir tausend Gefangene, das ist doch unser Sieg." Israelische Gegner eines Austauschs, die sich auch im Kabinett Netanjahus finden, verwiesen auf diese menschenverachtende Berechnung und fürchteten einen Präzedenzfall. Die drei israelischen Geheimdienste warnten vor einer neuen Intifada - also eines neuerlichen Aufstandes der Palästinenser gegen Israel.

Letztlich einigten sich die Unterhändler darauf, Schalit gegen 1027 palästinensische Gefangene auszutauschen. Der Deal provozierte Unverständnis auf beiden Seiten: Eine israelische Organisation von Terror-Opfern zog vor Gericht, um die ihrer Meinung nach unproportionale Gewichtung - ein Israeli gegen mehr als 1000 potentiell gefährliche Palästinenser - zu stoppen. Die Klage wurde allerdings abgewiesen.

Die säkulare palästinensische Fatah-Regierung im Westjordanland ist durch den Deal weiter in die Ecke gedrängt worden und kritisiert etwas hilflos: "Die Hamas hätte einen besseren Handel vereinbaren können", sagte der Minister für die Belange palästinensischer Häftlinge, Issa Karaki, in Ramallah. Die auf einen friedlichen Ausgleich mit Israel setzende Regierung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Ramallah ist mit der Hamas zerstritten.

Wer kommt im Gegenzug für Schalit frei?

Rückkehr des entführten Soldaten nach Israel: Der heimgekehrte Soldat Gilad Schalit (Mitte) salutiert Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu auf dem Militärflughafen Tel Nov.

Der heimgekehrte Soldat Gilad Schalit (Mitte) salutiert Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu auf dem Militärflughafen Tel Nov.

(Foto: AP)

Die israelische Gefängnisbehörde veröffentlichte eine Liste mit den Namen der 477 Palästinenser, die im ersten Schritt gegen Schalit ausgetauscht werden sollen. Unter ihnen sind 280 zu lebenslangen Haftstrafen Verurteilte und 27 Frauen. Israel hat es zur Bedingung gemacht, dass einige Häftlinge nicht in ihre palästinensische Heimat zurückkehren dürfen, sondern ins ausländische Exil müssen.

Einige Namen auf der Liste:

[] Yihia Al-Sinwar - Wegen Beteiligung an der Entführung und Tötung des israelischen Soldaten Nachshon Wachsman im Jahre 1994 zu viermal lebenslanger Haft verurteilt. Gründungsmitglied des militärischen Arms der radikalislamischen Hamas im Gaza-Streifen. Sein Bruder soll an der Entführung Schalits beteiligt gewesen sein. Der 1962 geborene Al-Sinwar soll in den Gaza-Streifen zurückkehren.

[] Muhammad Al-Sharata - Anführer einer Terrorzelle, die 1989 zwei israelische Soldaten getötet haben soll. Zu dreimal lebenslanger Haft verurteilt. Geboren 1957, kehrt in den Gaza-Streifen zurück.

[] Husam Badran - Anführer des militärischen Hamas-Arms im nördlichen Westjordanland. Gilt als Drahtzieher eines Selbstmordanschlags in einem Hotel in der israelischen Küstenstadt Netanja, bei dem 2002 30 Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden. Beteiligung an zwei weiteren Anschlägen mit 35 Toten. Soll ins Ausland abgeschoben werden.

[] Nasser Yataima - Zu 29 Mal lebenslanger Haft verurteilt. Stammt aus Tulkarem im nördlichen Westjordanland, geboren 1977. Soll ins Ausland abgeschoben werden.

[] Khamis Agel - Zu 21 Mal lebenslanger Haft verurteilt. Soll in den Gaza-Streifen zurückkehren.

[] Amna Muna - Die 1976 geborene Frau soll 2001 über das Internet einen israelischen Jugendlichen nach Ramallah im Westjordanland gelockt haben, wo er von ihren Komplizen ermordet wurde. Sie soll zunächst nach Gaza, später ins Ausland abgeschoben werden.

[] Ahlam Tamimi - Eine Frau, die 2001 einen Selbstmordattentäter zu dem Restaurant Sbarro in Jerusalem gefahren haben soll. 15 Menschen wurden damals getötet und Dutzende verletzt. Soll in ihre jordanische Heimat zurückgeschickt werden.

[] Sami Yunes - Der älteste Häftling, der freigelassen werden soll. 1932 geboren und 1983 zu 40 Jahren Haft verurteilt. Israelischer Araber, soll in seine Heimat zurückkehren.

Die gesamte Liste ist als Excel-Datei auf der Internetseite der israelischen Gefängnisbehörde einsehbar.

Warum ist der Fall für Israel so wichtig?

Israel begreift sich als die einzige Demokratie im Nahen Osten und sieht sich nahezu komplett von Feinden umgeben. Die Gesellschaft ist in hohem Maße militarisiert, sowohl junge Männer als auch junge Frauen müssen als Wehrpflichtige jahrelang in der Armee dienen; zudem finden regelmäßige Übungen der Reservisten statt. Viele Eltern kennen also die Sorge, dass ihre Kinder während ihrer Dienstzeit in gefährliche Aktionen verwickelt sein oder entführt werden könnten.

Daher fanden die Aktionen von Noam und Aviva Schalit, mit denen sie an das Schicksal ihres Sohns erinnerten und die Regierung zum Handeln aufforderten, auch breite Unterstützung in der Gesellschaft - zu den Hunderttausenden Israelis, die sich mit den Schalits solidarisch erklärt haben, gehörte zum Beispiel der Schriftsteller David Grossman, dessen Sohn im Libanonkrieg getötet wurde. Auch bei den Sozialprotesten im Sommer hatten sich Demonstranten für die Freilassung Schalits eingesetzt.

Die israelische Armee tut alles, um Verschleppungen zu verhindern: Gemäß der sogenannten Hannibal-Direktive sind Soldaten angehalten, das Feuer auf Entführer zu eröffnen, auch wenn dadurch die Geisel verletzt werden könnte. Die BBC berichtet von Zeugenaussagen, wonach in früheren Jahren auch der Tod des entführten Soldaten in Kauf genommen wurde.

Bereits in der Grundausbildung werden die jungen Israelis darauf gedrillt, verletzte oder getötete Kameraden nicht in feindlichem Gebiet zurückzulassen. Auch deshalb müssen Soldaten kilometerlange Märsche mit Tragen über hügeliges Gelände und in größter Sommerhitze absolvieren.

Nach Einschätzung von Beobachtern spielt in die Anstrengungen, die Israel in die Überführung von Verstorbenen steckt, auch die Erfahrung des Holocausts hinein: Hunderttausende Juden wissen nicht, wann und wo ihre Angehörigen im Dritten Reich getötet wurden und ob sie begraben worden sind. Auch dies dürfe nie wieder geschehen.

Gemäß dem jüdischen Glauben sollte ein Verstorbener so vollständig wie möglich bestattet werden. Deswegen hatte etwa 2004 der Premier Ariel Scharon etwa 450 libanesische und palästinensische Gefangene freigelassen, um die Leichen von drei israelischen Soldaten und einem von der Hisbollah entführten Geschäftsmann zu erhalten. 2008 tauschte der Premier Ehud Olmert fünf libanesische Gefangene sowie die Leichen von etwa 200 Libanesen und Palästinenser gegen die Körper der getöteten Soldaten Eldad Regev und Ehud Goldwasser aus. Beide waren kurz nach Schalit von der libanesischen Hisbollah-Miliz entführt worden.

In mindestens einem Fall ist es der israelischen Regierung trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, einem Soldaten ein würdiges Begräbnis zu garantieren. 1986 stürzte der Pilot Ron Arad im Libanon ab: Er gilt bis heute als verschollen.

Was bedeutet der Austausch für den Friedensprozess?

Sowohl Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als auch die Hamas können von dem Gefangenenaustausch profitieren. Für die Hamas, die von vielen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird und das Existenzrecht Israels ablehnt, ist die Befreiung von etwa 1000 Gefangenen ein großer Erfolg, mit dem sie ihre seit einiger Zeit sinkende Popularität wieder aufbessern könnte.

Netanjahu bezahlt zwar einen hohen Preis, doch er bekommt nach Wochen heftiger Kritik aus dem Ausland rund um die geplante Unabhängigkeitserklärung der Palästinenser und nach monatelangen Protesten gegen die eigene Sozialpolitik endlich wieder positive Schlagzeilen. Offenbar hat die Regierung eingesehen, dass ein besserer Deal in naher Zukunft nicht möglich wäre: Dieses "Fenster der Gelegenheit" habe man nutzen müssen.

Ein diplomatischer Erfolg ist der Gefangenenaustausch für Ägypten. Unterhändler aus Kairo spielten - neben deutschen Vermittlern - eine entscheidende Rolle bei der Planung des Gefangenenaustauschs. Israels Premier Netanjahu hatte sich bereits kurz nach der Bekanntgabe des Deals per Twitter bedankt: "Danke an die ägyptische Regierung und ihre Sicherheitsdienste für ihre Rolle als Vermittler des Deals."

Auch Gilad Schalit lobte die Ägypter. Im Interview mit dem ägypischen Staatsfernsehen sagte er: "Ich glaube, die Ägypter waren in ihrer Vermittlung erfolgreich, weil sie sowohl zur Hamas als auch zu Israel gute Beziehungen haben." Die Beziehungen zwischen Kairo und Jerusalem galten nach dem Sturz des ägyptischen Dauerpräsidenten Hosni Mubarak und insbesondere nach dem Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo mit drei Toten im August als schwer belastet.

Für den eher moderaten Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas wird die Lage durch den Gefangenenaustausch nicht leichter. Seine Gegner betonen, die Hamas habe durch die gewaltsame Entführung Schalits viel mehr erreicht, als Abbas in vielen Verhandlungsrunden mit Israel.

Selbst Abbas' Verbündete befürchten, dass der bewaffnete Kampf nun wieder in den Vordergrund tritt - auf Kosten der gewaltfreien Strategie mit Verhandlungen und dem diplomatischen Vorstoß für eine breitere Anerkennung eines Palästinenserstaates. "Der Erfolg dieses Austauschs sendet die falsche Botschaft an die Öffentlichkeit", wird ein Mitglied der Abbas-Verwaltung zitiert.

Dazu passt, dass auch die im Libanon mitregierende radikalislamische Hisbollah dem Austausch applaudierte: Er widerlege die "Wahnvorstellung" derer, die an Fortschritte durch Verhandlungen oder Bittschriften glaubten.

Mit Material von dpa, Reuters

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