Neubeginn nach der Revolution:Tunesiens Zukunft in den Händen moderater Islamisten

Kämpfer gegen Korruption oder Vehikel der Fanatiker? Der Erfolg der En-Nahda-Partei in Tunesien sorgt weltweit für Aufsehen. Während Kritiker vor Radikalisierung warnen und um Frauenrechte fürchten, wollen die moderaten Islamisten Arbeitsplätze schaffen und freie Religionsausübung garantieren. Die Zusammensetzung der Regierungsmannschaft zeigt die Cleverness des Wahlsiegers.

Matthias Kolb, Tunis

Rachid Ghanouchi lächelt in sich hinein. Der Religionsgelehrte hat allen Grund, zufrieden zu sein: Vor einem Jahr saß der 70-Jährige noch im Londoner Exil, während in Tunesien Zine el-Abedine Ben Ali mit harter Hand regierte und seine Familie das Land ausplünderte. Mitte Januar fegte die tunesische Revolution den Alleinherrscher aus dem Palast und Ende Oktober siegte die moderat islamistische En-Nahda-Partei (Arabisch für Wiedergeburt) bei den ersten freien Wahlen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt gilt Parteichef Ghannouchi als einflussreichster Mann seines Landes und jede seiner Äußerungen wird genau interpretiert.

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Tunesien entdeckt die Demokratie und diskutiert offen über Fragen der kulturellen Identität. Immer wieder protestieren Frauen gegen die mögliche Einschränkung ihrer Rechte durch die moderat islamistische En-Nahda-Partei, den Sieger der ersten freien Wahl.

(Foto: AFP)

En-Nahda strebe ein System an, "das die Regeln der Demokratie und die islamischen Werte berücksichtigt", sagte Ghanouchi zu sueddeutsche.de (lesen Sie hier das vollständige Interview). Im Empfangszimmer im 5. Stock der Zentrale seiner Partei ist es ruhig, doch in der Eingangshalle herrscht ständiges Kommen und Gehen. Funktionäre, Freiwillige und Bürger hasten an einem Plakat mit den Zielen der Partei vorbei: "Freiheit, Gerechtigkeit, Entwicklung." Ghanouchi weiß, woran die Tunesier die Arbeit der En-Nahda bewerten werden: "Wir müssen die Arbeitslosigkeit reduzieren."

Vor allem um diese Herkulesaufgabe zu meistern, hat sich En-Nahda mit den säkularen Parteien "Kongress für die Republik" (CPR) und der linksgerichteten Ettakatol zusammengeschlossen: Gemeinsam haben sie 138 der 217 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung, die sich am Dienstag konstituiert. Experten rechnen damit, dass die Übergangsregierung vor allem aus Technokraten besteht und nur die wichtigsten Ämter von Parteivertretern übernommen werden. En-Nahda-Generalsekretär Hamadi Jebali ist als Premierminister vorgesehen, der 84-jährige weltlich orientierte Menschenrechtsaktivist Moncef Marzouki (von der CPR) soll Übergangspräsident werden, während der Sozialdemokrat von Ettakatol, Moustafa Ben Jafr, der verfassungsgebenden Versammlung vorstehen soll, die innerhalb der nächsten zwölf Monate ein Grundgesetz ausarbeiten soll. Ghanouchi selbst hat mehrmals ausgeschlossen, selbst ein politisches Amt zu übernehmen, weil er sich als Berater, Religionsgelehrter und Philosoph sieht.

Mit dieser breiten Koalition soll auch die Sorge des Auslands vor einer Islamisierung des Landes entkräftet werden. Samir Dilou, bei En-Nahda für internationale Zusammenarbeit zuständig, beteuert: "Wir verstehen die Besorgnis." Die Ängste seien aber grundlos: "En-Nahda wurde nicht in den Höhlen von Tora Bora geboren." Als Vorbild nennt der 45-Jährige die türkische AKP.

Dilou, der zehn Jahre unter Ben Ali inhaftiert war, arbeitete seit 2001 als Anwalt für politisch Verfolgte, weshalb ihm der Schutz der persönlichen Freiheitsrechte wichtig sei. En-Nahda wolle keine Frau dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Es reiche aus, sich an Artikel 1 der Verfassung zu orientieren, die seit der Unabhängigkeit Tunesiens existiert: "Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat; die Religion ist der Islam und die Sprache Arabisch und die Staatsform republikanisch."

Liberale Elite, konservative Basis

Doch nicht alle Beobachter glauben den aufgeklärt klingenden Worten um Ghanouchi und Dilou. Immer wieder sorgen einzelne Aussagen für Aufsehen: So nannte die En-Nahda-Politikerin Souad Abderrahim ledige Mütter "eine Schande für Tunesien" und der designierte Premier Jebali sprach in Anwesenheit eines Vertreters der radikal-islamischen Hamas bei einer Veranstaltung davon, Tunesien sei auf dem Weg in ein "sechstes Kalifat". Diese Aussage für eine islamische Regierungsform brachte die Koalitionsverhandlungen ins Stocken, bis Jebali von einem "Missverständnis" sprach. Auch die Gerüchte, En-Nahda werde von konservativ-islamischen Golf-Staaten finanziert, halten sich gerade in der tunesischen Mittel- und Oberschicht hartnäckig.

Die En-Nahda-Basis sei deutlich konservativer und radikaler als die Partei-Elite, erklärt die Journalistin und Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine im Gespräch mit sueddeutsche.de. Auch Slim Amamou, der bekannteste Blogger und Twitterer des Landes, hält es für möglich, dass 2012 bei der Neuwahl der Parteispitze "radikalere Kräfte aufrücken und Ghanouchi von der Bildfläche verschwindet".

Der 34-jährige Amamou ist überzeugt: "Die Leute, die im Januar die Revolution gemacht und Ben Ali gestürzt haben, wählen nicht En-Nahda." Die Islamisten seien eher spät auf den fahrenden Zug aufgesprungen.

Allerdings plädiert Amamou wie Bensedrine dafür, das Ergebnis der transparenten Wahl zu akzeptieren und En-Nahda an ihren Taten zu messen. Dieser Position folgen die westlichen Staaten: US-Außenministerin Hillary Clinton hat wie viele Amtskollegen ihre Bereitschaft zur Kooperation erklärt und auch das Auswärtige Amt ist zum Dialog bereit.

Nicht nur Amamou ist überzeugt, dass die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung die "momentane Stimmung der Tunesier" widerspiegle. Tausende Aktivisten von En-Nahda waren von Ben Ali und dessen Vorgänger Hagib Bourguiba ins Gefängnis geworfen oder ins Exil gezwungen worden. "En-Nahda hat auch Stimmen von jenen Tunesiern bekommen, die mit Islamismus nichts am Hut haben. Sie wünschten sich einen klaren Schnitt und wollten eine Rückkehr in die Ben-Ali-Zeit verhindern", erklärt Jamil Hayer vom Maghreb-Büro der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung. Unter den mehr als 100 Parteien und Listen, die am 23. Oktober antraten, sei En-Nahda eben am bekanntesten gewesen.

"Bräunen, auf demokratische Art"

Auch Kritiker geben zu, dass die moderat islamistische Partei im Wahlkampf am professionellsten agiert und in ganz Tunesien Klinken geputzt hatte. Dies war gerade im wirtschaftlich rückständigen Inneren des Landes, wo die Revolution Mitte Dezember 2010 mit der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi begonnen hatte, ein großer Vorteil. Ihr Versprechen, die unter Ex-Diktator Ben Ali und seiner Frau Leila Trabelsi grassierende Korruption aufzuklären und künftig zu verhindern, erschien vielen glaubwürdig. Ihre Slogans wie "Moins des voleurs et plus de valeurs" ("weniger Diebe und mehr Werte") verbreitete En-Nahda auch über soziale Medien wie Facebook und Twitter.

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"Ledige Mütter sind eine Schande für Tunesien": Mit dieser Aussage sorgte die tunesische En-Nahda-Politikerin Souad Adberrahim für großen Wirbel in Tunesien und im Westen.

(Foto: AFP)

Laut Amamou, der im Wahlkampf unabhängige Kandidaten unterstützt hatte, hat sich die Partei in der Freiwilligenarbeit sogar Strategien von US-Präsident Barack Obama abgeguckt. Die Prognose des Bloggers: "Wenn die anderen Parteien hier nicht nachziehen, dann wird En-Nahda alle weiteren Wahlen gewinnen."

Die Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine hält es für positiv, dass Ghanouchis Partei von Beginn an Verantwortung in der Regierung übernehmen muss. Tunesien stehe ein langer Weg bevor, in dem es jedoch weniger um "die Länge der Röcke oder die Länge der Bärte" gehe als um die Reform des Justiz- und Polizeiwesen oder die Garantie der Pressefreiheit.

Über allem steht jedoch die wirtschaftliche Entwicklung: En-Nahda muss vor allem Jobs schaffen, wenn die Partei bei der kommenden Wahl in einem Jahr wieder erfolgreich sein möchte. Nach offiziellen Angaben hat Tunesien eine Arbeitslosenquote von 14,9 Prozent, doch Experten zufolge liegt die Wirklichkeit eher bei 25 Prozent. Unter jungen Akademikern soll die Zahl gar bei bis zu 40 Prozent liegen. Die neue Regierung wird sich vor allem darum bemühen, weniger entwickelte Regionen zu fördern und nicht wie in der Vergangenheit vor allem die Küste und die Hauptstadt Tunis.

En-Nahda wird auch von einer großen Zahl an Geschäftsleuten und Managern unterstützt, die stets betonen, dass die Partei die liberale Marktwirtschaft unterstütze, die Korruption bekämpfen und für Rechtssicherheit sorgen werde.

Skeptischer äußert sich Slim Kchouk, der Chef der tunesischen Niederlassung von Siemens: Die Partei nenne lauter Ideen, die viel Geld kosteten, doch sie verrate nicht, wo das Geld herkommen solle. Dies sei bei den anderen neu gegründeten Parteien jedoch ähnlich.

Die nach dem Wahlerfolg geäußerte Sorge, dass En-Nahda die Schlüsselbranche Tourismus durch strenge Vorschriften gefährden könnte, scheint unbegründet. Der Konsum von Alkohol und das Baden im Bikini an der tunesischen Küste bleibt wohl weiterhin erlaubt. "Es wäre politischer Selbstmord, wenn En-Nahda den Tourismus nicht fördern würde", meint ein westlicher Hotel-Manager. Schließlich arbeiten 400.000 Tunesier in der Branche, die zwischen Januar und Oktober 2011 ein Drittel weniger Gäste als im Vorjahreszeitraum verbuchte. Samir Dilou, der smarte En-Nahda-Politiker, hat sich bereits einen Werbeslogan ausgedacht: "Bräunen Sie sich auf demokratische Art."

Für Elisabeth Braune von der Friedrich-Ebert-Stiftung kämpft Tunesien gerade um die eigene kulturelle Identität: "Der Stellenwert und die Rolle der Religion in der Gesellschaft wird erstmals offen diskutiert". Die Vorstellungen und Bruchlinien laufen quer durch die Familien und Büros und lassen sich nicht anhand von Symbolen wie dem Tragen eines Kopftuches festmachen. Die Journalistin Yosra Ouanes ist verschleiert und berichtet davon, dass sie für den säkularen Kongress für die Republik gestimmt habe, während ihre Bekannte Hajer Mtiri in flüssigem Englisch erklärt, für En-Nahda votiert zu haben - und nicht vorhabe, jemals ein Kopftuch zu tragen.

Die 21-Jährige erklärt, das Programm der gemäßigten Islamisten habe sie überzeugt. Die Aufregung des Westens versteht die selbstbewusste junge Frau nicht: "Wenn En-Nahda ihre Versprechen im ersten Jahr nicht einhält, dann gehen wir eben wieder auf die Straße und rufen 'Dégage', unser mot magique." Dieses magische Wort bedeutet "Verschwinde" und hat bereits Ben Ali aus dem Amt gefegt.

Linktipps: Eine gute Übersicht des Wahlergebnisses zur verfassungsgebenden Versammlung finden Sie auf "Tunisia Live".

Ein Interview mit Rachid Ghanouchi aus dem Jahr 1999 lesen Sie auf der Website des Wiener Standards.

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