Münsing:Große Literatur beim Pizzabäcker

Josef Bierbichler liest aus seinem Roman "Mittelreich" - in kunstwidriger Atmosphäre und vor begeistertem Publikum.

Felicitas Amler

Was hätte man nicht alles sagen können zur Einleitung eines Abends mit diesem wirklich großen Sohn der Gemeinde. Dass sein Roman "Mittelreich", von ihm selbst eingelesen, in diesen Tagen mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet wird. Dass alle deutschsprachigen Feuilletons den schreibenden Schauspieler preisen. Dass sie dem spät als solchen entdeckten Autor Naturtalent und Urgewalt attestieren, faszinierende Phantasie und sinnliche Emphase.

Das alles und noch mehr hätte man über den Künstler Josef Bierbichler sagen können. Die Veranstalter der Lesung am Montagabend im "Pinocchio", die Energiewende-Initiative Münsing und der Ostuferschutzverband, vertreten durch Ernst Grünwald und Ursula Scriba, zogen es vor, Bierbichler als einen der Ihren vorzustellen: Als "Energiewender", der sein Haus unten am See mit Sonnenenergie und Hackschnitzelanlage versorge.

Als Besitzer des Lokals "Bierbichler", in dem anno 1929 die Gründung des Ostuferschutzverbands stattgefunden habe. Zum Künstlerischen dann soviel: Man habe, so Grünwald, "den bekanntesten Schauspieler Deutschlands" zu Gast. Als sei nicht in Wirklichkeit jeder TV-Serienstar den Leuten geläufiger als Bierbichler. Und als sei überhaupt der Bekanntheitsgrad der Maßstab seiner Bedeutung und nicht sein einzigartiges schauspielerisches Können, sein eigenwillig von deftig bis lyrisch changierender Auftritt.

Der Abend im ausverkauften Lokal setzt sich atmosphärisch ähnlich kunstsinnig fort. Während Bierbichler aus seiner grandiosen Familien-, See- und Weltgeschichte liest, tuschelt an der Bar das Personal miteinander, vor dem Pizzaofen werden Krümel zusammengefegt, aus der Küche dringt Geschirrgeklapper. Und mitten hinein in phantastische oder berührende Szenen wie die der himmelfahrenden alten Mare oder des in der Odelgrube schier krepierenden Entenkükens klingelt das Gaststättentelefon.

So präsentiert sich Kunst auf dem Dorf - und so muss sie sich auch räumlich mangels besserer Möglichkeiten einfügen in das, was ein italokitschig aufgebrezeltes Sportheim eben bietet: Bierbichler sitzt vor der breiten, rot lasierten Stirnwand des hallenartigen, mit Padre-Pio-Gipsfigur, Papp-Fliegenpilzen und Fußballfanschals ausgestatteten Saals, links hinter ihm eine Schützenscheibe, rechts ein stolz gerahmtes Foto vom früheren Papst und der Mutter Theresa.

Aber bitte - das alles passe doch gut zu dem Mann, sagt ein Gast in der Pause. Und hat dabei offenkundig das hierorts verbreitete Bierbichler-Klischee im Kopf: hemdsärmlig, rustikal. Die Lesung zeigt einen anderen. Einen Literaten, süffig und surreal, poetisch und politisch, auch philosophisch. Rustikal? Einer, der Sätze schreiben kann, die über eineinhalb Buchseiten ohne einen Punkt auskommen und dennoch die Spannung halten? Einer, der den Kriegsbegeisterungswahnsinn 1914 so zeichnet: "Überall im Land schwollen die Köpfe zu ungesunder Größe".

Der Worte wie "Hochsprechsprache" erfindet und Passagen wie diese schreibt: "Die feuchte heiße Luft scheint fast zu schmatzen. Sonst ist es still. Der heiße Juninachmittag verdaut den kühlen Morgen." Und der lesen kann, dass es eine Art hat. Mal eilt er mit bassig-brüchiger Stimme, durch die noch im besten Hochdeutsch das Bairische durchschimmert, über alle Satzzeichen hinweg. Mal arbeitet er leicht den schlesischen Akzent einer Romanfigur heraus.

Und mal gibt er dem Affen einfach Zucker und liefert ein aufgeregtes Stammtisch-Gestotter so virtuos, dass das Publikum hingerissen applaudiert. Überhaupt sind die Zuhörer begeistert von dieser Lesung, lachen gern und rufen sogar "Bravo". Es ist die Antwort auf eine Gesangseinlage, die Bierbichler mit den drei Musikern gibt, die den Abend mitgestalten. Der frühere "Guglhupfa" Andreas Lechner (Bass, Gitarre, Ziehharmonika), Florian Burgmayer (Tuba) und Simone Lautenschlager (Klarinette) haben passende volksmusikalisch-kritische Lieder dabei. So auch eins zur Untermalung der von Bierbichler beschriebenen Seeuferbesetzung durch Hippies.

Die pochten in den 1970ern auf die bayerische Verfassung (freier Zugang zum See für alle) und brachten mit ihrer freizügigen, nackten, Joints-rauchenden Allgegenwart den Seewirt dazu, sein Grundstück mit Zaun und Hecke abzuschotten. Dazu singt Bierbichler dann das Lied vom Herrgott, der zur Sommerfrische an den oberbayerischen See kommt und nirgends baden kann, weil Stacheldraht und "Kein Zutritt"-Schilder es ihm verwehren. Dass dieser Herrgott "seinen Zorn konkret gemacht und sich parteipolitisch engagiert" hat - als Kommunist nämlich, das beklatscht das Münsinger Publikum inklusive der anwesenden Seevillen-Besitzer enthusiastisch. So stark ist die Suggestionskraft eines Künstlers wie Josef Bierbichler.

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