Leben mit Phobien:Im Teufelskreis der Angst

Arachnophobie. Okay. Aber auch Agoraphobie - oder Xylophobie? Etwa jeder Fünfte erkrankt an einer Angststörung - psychisch, emotional und körperlich. Neben der Angst vor Spinnen und Schlangen gibt es Angst vor Menschen, Holzstielen oder gar Knöpfen. Spätestens dann wird das Leben zur Hölle.

Ines Alwardt

Andrea Schneider ist in ihrem Leben schon öfters gestorben. Einmal sogar in dem Musical "Phantom der Oper". "Ich hatte solche Angst, dass ich dachte, ich muss schreien und ein Hubschrauber muss kommen, um mich rauszuholen." Andrea Schneider, die eigentlich anders heißt, hatte Todesangst: Stechen in der Brust, ihr Herz raste, Schweiß auf der Stirn - Symptome wie bei einem Herzinfarkt. Heute sagt sie: "Ich bin angstkrank."

Spinnen im Abendrot

Viele Menschen haben Angst vor Spinnen, aber nicht jede Phobie hat Krankheitswert.

(Foto: dpa)

Was der Volksmund lapidar als Platzangst bezeichnet, ist im Fall von Schneider eine ernstzunehmende "phobische Störung". Die 50-Jährige leidet an Agoraphobie. Sie hat panische Angst vor Situationen, in denen ihr die Flucht unmöglich scheint. Schneider ist mit ihrem Problem nicht alleine. Etwa jeder fünfte Mensch erkrankt einmal in seinem Leben an einer sogenannten "Angststörung".

Dazu gehören spezifische Phobien wie die Angst vor Spinnen, Hunden oder Ratten, aber auch die soziale Phobie - mit 13 Prozent der Betroffenen die häufigste Variante. Oft treten sie in Kombination mit einer Panik- oder der sogenannten generalisierten Angststörung auf. 6,91 Millionen Deutsche im Alter von 18 bis 65 Jahren leiden laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) jährlich unter einer behandlungsbedürftigen Variante. Frauen doppelt so häufig wie Männer.

"Nicht jede Phobie hat auch gleich Krankheitswert", sagt Nikolaus Melcop, Präsident der Landeskammer der Psychologischen Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (PTK). Wer wirklich krank ist, sagt der Experte, leidet psychisch, emotional und körperlich. Die Betroffenen meiden gefürchtete Situationen. Die Angst versetzt das vegetative Nervensystem in Alarmbereitschaft. Schwindel, Zittern und Sehstörungen können die Folgen sein. Das Leben wird zur Qual, die Krankheit bestimmt das Dasein.

"Angst funktioniert wie ein Alarmsystem"

"Es macht einem das Leben zur Hölle. Man verliert alle sozialen Kontakte", sagt Andrea Schneider. Wann die Angst ihr Leben in den Griff nahm, kann sie nicht mehr genau sagen, die Diagnose "generalisierte Angststörung mit Agoraphobie" stellten Ärzte erst Jahrzehnte später. Zuerst traute sie sich nicht mehr, S-Bahn zu fahren, dann zog sie von München aufs Land. Weil es da draußen ja viel ruhiger und schöner sei, redete sie sich ein. "Aber damit habe ich mich selbst belogen." Irgendwann ging sie nur noch bis zum nächsten Briefkasten, bald darauf gar nicht mehr vor die Tür. Sechs Monate lang. Zu groß war die Angst, sie könne wieder Panik kriegen, zu stark die Furcht vor der eigenen Reaktion.

Dabei hat das ungute Gefühl für den Menschen einen unschätzbaren Nutzen - zumindest evolutionsgeschichtlich betrachtet: Schon so manchem unserer Vorfahren rettete die Furcht das Leben in der freien Wildnis. "Angst funktioniert wie ein Alarmsystem, sie bereitet den Körper auf den Kampf oder die Flucht vor", erklärt Therapeut Melcop. Deshalb zeigt sie sich auch in starken körperlichen Symptomen. "Nur laufen die Löwen bei uns heute nur noch eher selten durch die Straße. Wir funktionieren aber trotzdem noch so."

Wie Angststörungen entstehen, darüber streiten die Mediziner. Anders als der Psychoanalytiker Sigmund Freud, der die Phobie ausschließlich als Angst vor verdrängten Trieben deutete, finden sich in der Fachliteratur für Verhaltenstherapeuten heute verschiedene Erklärungsmuster.

Eine genetische Disposition, psychosoziale und psychologische Voraussetzungen können Gründe sein, genau wie falsche Denkmuster oder traumatische Erlebnisse. "Oft geht dem Auslöser aber eine lange Phase der Belastung voran."

Im Fall der spezifischen Phobien verbinden die Betroffenen ihre Angst mit einem bestimmten Schlüsselreiz. Das kann alles sein: ein Frosch, ein Fuß, ein Vogel. "Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt." In ihrem Buch "Pfui Spinne, Watte, Knopf" schreibt die bekennende Knopf-Phobikerin Mareile Kurtz gar von der Xylophobie, dem Ekel vor Holzstielen oder der Angst vor Füßen, Puppen und Clowns. Ihre These: "Diese Phobien wirken auf den ersten Blick zwar ungewöhnlich, sind aber alles andere als selten." Sie selbst ekele sich seit ihrer Kindheit vor Knöpfen. "Ich wurde mit dem Spleen bereits geboren."

Auf die Frage, ob auch die Angst vor Knöpfen behandelt werden muss, zuckt Fachmann Melcop allerdings mit den Schultern. "Das muss jeder für sich beantworten", sagt der Therapeut. Jeder Mensch solle sich grundsätzlich fragen, ob seine Angstreaktionen dem Anlass angemessen sind - und im Zweifelsfall einen Facharzt zu Rate ziehen.

Ein Mediziner war es auch, der Andrea Schneider nach einem Zusammenbruch im Juni 2007 in eine Tagesklinik steckte. "Die haben alles aus mir rausgeholt, mich komplett umgekrempelt", sagt sie. Konfrontation, drei Stunden Fahrstuhl fahren, Psychotherapie, das komplette Programm. Etwa 80 Prozent der Patienten profitieren von einer Therapie. "Man kann eine Phobie loswerden", sagt Melcop. Einmal hat er Regenwürmer für eine Patientin gesammelt, die Viecher in ein Einwegglas gesteckt und seiner Patientin auf den Tisch gestellt. "Heute ist die Frau Schlangenfan."

Nicht jede Krankheitsgeschichte geht glücklich aus. Phobiker haben ein hohes Risiko, an anderen psychischen Störungen zu erkranken. Zittern, Angstgefühle, Unsicherheit lassen sich oft mit Medikamenten und Alkohol mindern. Laut RKI gehören die phobischen Störungen auch deshalb zu den kostenintensivsten Erkrankungen in Deutschland.

Aufklärung ist deshalb die beste Methode, findet Andrea Schneider. Sie ist inzwischen früh verrentet. Einen Aufhebungsvertrag hat ihr Arbeitgeber ihr auf den Tisch gelegt, als sie ihm sagte, sie habe Agoraphobie. Vor drei Jahren hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet. Nun hilft sie anderen, aus dem Teufelkreis der Angst auszubrechen. Ihr selbst gehe es inzwischen besser, "ich fahre sogar wieder gerne nach München, nur noch nicht allein."

Das Erste, was sie entdeckte, als sie sich zurück ins Leben traute, war das Design der Münchner Trambahnzüge. "Früher waren die doch vorne rund" sagt sie und lacht. Und was ist mit der Angst? "Die geht oft weg", sagt Schneider. "Aber ich bin mir immer sicher, sie kommt wieder."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: