Resozialisierung von jugendlichen Gewalttätern:Zurück ins Leben

Überfalle, Einbrüche, Drogenhandel, Diebstähle - und dann? Straffällig gewordene junge Menschen tun sich schwer, wieder in die Normalität zu finden - unmöglich ist es aber nicht.

Ines Alwardt

Es gibt diesen einen Moment in Sven Schreiners Leben, der verfolgt ihn noch heute bis in seine Träume. Es ist der Tag, an dem er eine Videothek überfällt und der Angestellten eine Gaspistole an die Schläfe drückt. "Ich bin reingegangen, habe die Maske übergezogen und ihr die Waffe an den Kopf gehalten." Sven Schreiner, der tatsächlich ganz anders heißt, ist zu jener Zeit 16 Jahre alt. Es ist sein erster Überfall.

Vier Jahre ist das jetzt her. Schreiner, inzwischen 20 und im zweiten Jahr Auszubildender zum Groß- und Außenhandelskaufmann, sagt heute: "Mir tut das leid. Die Frau hat sich so erschrocken, die hatte Todesangst." Mit seiner kriminellen Vergangenheit, sagt er, habe er abgeschlossen; er bereue, was er getan habe. "Ich will jetzt durch positive Leistungen auffallen." In der Berufsschule ist Schreiner Klassenbester, er hat wieder eine eigene Wohnung, eine neue Freundin und führt ein selbstbestimmtes Leben.

Früher war das anders. Ein Überfall, diverse Einbrüche, Verkauf von Drogen, Diebstähle - die Liste seiner Straftaten ist lang. Als 16-Jähriger saß Schreiner acht Monate in Untersuchungshaft: Die Münchner Polizei hatte ihn erwischt, als er mit einem Kumpel in eine Gaststätte eingebrochen war. Bei ihm zu Hause fanden die Beamten Beweise für seine damals schon lange kriminelle Karriere: Einbruchswerkzeug, Diebesgut und eine Gaspistole. Der Richter verurteilte ihn zu drei Jahren Haft auf Bewährung.

Die Geschichte von Schreiners Resozialisierung zeigt beispielhaft, wie es gelingen kann, jugendliche Straftäter wieder erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. "Ziel ist, dass die Jugendlichen sich wieder wohl fühlen in ihrem Leben und Verantwortung für sich selbst übernehmen", sagt Joachim Wallner. Seit 16 Jahren arbeitet der Sozialpädagoge mit straffällig gewordenen Jugendlichen für den Verein Brücke in München, eine Einrichtung der Jugendhilfe. Begeht ein Jugendlicher eine Straftat und erteilt das Gericht eine jugendrichterliche Weisung, kümmert sich der Verein mit sogenannten Weisungsbetreuern darum, dass die angeordneten Maßnahmen umgesetzt werden. Statt gängigen Bestrafungen wie Bußgeld, Arrest oder Jugendstrafvollzug soll zum Beispiel eine ambulante Betreuung helfen, soziale Gruppenarbeit, Sozialstunden, Gesprächs- oder Therapieangebote.

Im Heim jegliches Vertrauen verloren

Oft begleitet Wallner seine Klienten über mehrere Jahre hinweg. "Das kostet zwar viel Geld, aber es wird wesentlich teurer, wenn sie nachher über Jahre im Gefängnis sitzen." Fünf Jahre lang hat er auch Sven Schreiner betreut, erst als Weisungsbetreuer, später als Bewährungshelfer. Wallner sagt, das Wichtigste für eine erfolgreiche Arbeit sei es, Kontakt zu den Jugendlichen aufzubauen. "Die meisten waren schon in vielen Heimen, sie haben jegliches Vertrauen verloren."

So war es auch bei Sven Schreiner. Als sein Vater die Familie verließ, war er gerade drei Jahre alt. Mit dem neuen Mann seiner Mutter sei er nicht klargekommen, früh habe er Gewalt zu Hause erlebt. Heute erklärt Schreiner sich seine Laufbahn so: "Wenn man nur Mist erlebt, kann man nicht erwarten, das am Ende was Gutes dabei rauskommt." Im Alter von zehn Jahren habe er zum ersten Mal geklaut, Kassettenrekorder und PC-Spiele. Als Ärzte eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei dem Jungen diagnostizierten, habe seine Mutter ihn in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht. Aber schon nach zwei Monaten habe er diese verlassen müssen: Mutwillig habe er Dinge zerstört und Andere geschlagen, erklärte die Klinikleitung. Zu Hause war Schreiner nicht erwünscht.

Was folgte, waren kurzzeitige Aufenthalte in Wohngruppen, Notunterkünften und Einrichtungen für schwer erziehbare Jugendliche - und einer geschlossenen psychiatrischen Station. Er habe zu trinken begonnen, sei nicht mehr zur Schule gegangen. Immer wenn er das Gefühl gehabt habe, ein Zuhause gefunden zu haben, habe er gehen müssen. "Ich hab' immer nur gedacht, jetzt nehmen die mir schon wieder alles weg." Ein Satz, den Joachim Wallner oft hört. "Viele junge Menschen, die straffällig werden, haben Bindungsprobleme mit den Eltern erlebt.

Die meisten sehnen sich einfach nur nach Normalität", sagt er. Ordnet das Jugendgericht eine Weisungsbetreuung an, werde oft erst während der intensiven Betreuung deutlich, dass hinter der Tat eine ganze Reihe von Problemen stehe: Gewalterfahrung, Geldnot, Sucht und Schwierigkeiten in der Familie. Meist müssten diese in einem langwierigen Prozess bearbeitet werden. "Ein Jugendlicher kifft ja nicht einfach nur so, sondern weil er ein Loch damit zumacht", sagt Wallner.

Eine normale Familie haben, das war auch immer der Wunsch von Viktoria Funk, die ebenfalls anders heißt. Sie sitzt in einem Café am Hauptbahnhof. Früher war dieser Ort ihr zweites Zuhause. Viktoria Funk war drogenabhängig. Als sie zum ersten Mal Heroin nahm, war sie 17. Fünf Gramm Kokain habe sie damals pro Tag konsumiert, Opium geraucht, Tabletten und Valium geschluckt. "Mein Vater hat mir mit zwölf Jahren ins Gesicht gesagt, dass er mich eigentlich nie haben wollte", erzählt die heute 30-Jährige und zuckt mit den Achseln.

Irgendwann jede Hemmschwelle verloren

Wie bei Schreiner begann auch ihre kriminelle Geschichte in einem problematischen Elternhaus. Mit zwölf Jahren sei sie freiwillig ins Internat gegangen, zwei Jahre später in eine betreute Wohngruppe gezogen und kurz darauf in einer Einrichtung für obdachlose Jugendliche gelandet. Dann sei sie abgerutscht in die Drogensucht. "Irgendwann habe ich jegliche Hemmschwelle verloren", sagt sie. Im Jahr 2002 erwischte die Polizei sie beim Klauen, unter Alkohol- und Tabletteneinfluss stahl sie Kosmetikartikel. Eine Woche lang musste sie im Jugendarrest sitzen.

"Geholfen hat das nichts", sagt Funk heute. Wie viele Bewährungsstrafen sie insgesamt bekommen hat, wisse sie nicht mehr genau. Ihre Resozialisierung glückte dennoch, nach mehreren Versuchen: Als Joachim Wallner sich bei ihr als Bewährungshelfer vorgestellt habe, habe sie lange nichts von seinen Gesprächsangeboten wissen wollen, erinnert sie sich. "Aber dann stand er immer wieder vor meiner Tür." Irgendwann ließ sie sich zum Entzug überreden.

Manchmal dauere es bis zu einem Jahr, bis einer wirklich etwas verändern wolle, sagt Joachim Wallner. Damit eine Resozialisierung erfolgreich funktioniert, "müssen die jungen Menschen schon ein Mindestmaß an Zusammenarbeit mitbringen." Oft kämen sie nicht zu vereinbarten Terminen, würden deshalb zu Arbeit oder anderen Strafmaßnahmen verpflichtet. Nur mit viel Geduld kommt Wallner dann weiter. Von dem sogenannten Warnschussarrest, mit dem die Bundesregierung nun jugendliche Straftäter vor weiteren Taten abschrecken will, hält er nichts. Vielmehr müssten sich Gericht und Betreuer Gedanken darüber machen, ob die angesetzte Maßnahme für den Jugendlichen das Richtige sei.

Im Gefängnis regiert die Gewalt

Sich hinter Gittern bessern? Auch Sven Schreiner sagt, das habe erst nach der U-Haft geklappt. "Im Gefängnis nimmt man sich vor, sich zu ändern, aber da regiert die Gewalt, da kannst du dich gar nicht ändern." Während der Bewährungszeit dagegen begleitete Wallner ihn zur Arbeitsagentur, schickte ihn zum Berufsberater. Für Schreiner war er in dieser Zeit mehr als nur ein Bewährungshelfer: Er war eine Vertrauensperson. "Ich konnte ihn immer anrufen, ohne ihn wäre ich sicher nicht da, wo ich jetzt bin."

Dennoch sei auch seine Resozialisierung "am Anfang richtig schiefgelaufen." Als er aus dem Knast kam, stand der einstige Gymnasiast ohne Hauptschulabschluss da. Er wollte seinen Quali machen, stellte sich in verschiedenen Schulen vor, aber die lehnten ihn ab. "Die Lehrer hatten Angst vor mir, ich durfte das Schulgelände nicht mehr betreten."

Als er den Abschluss endlich hatte, besuchte er ein berufsvorbereitendes Seminar. Doch die Chancen auf einen Ausbildungsplatz als Groß- und Außenhandelskaufmann standen schlecht. Zusammen mit Wallner bemühte er sich selbst um einen Platz - und hatte Glück. Heute plant Schreiner seine Zukunft. "Wenn ich fertig bin, will ich mein Abi machen und studieren, am liebsten irgendwas mit Wirtschaft", sagt er.

Auch Viktoria Funk hat es geschafft. Inzwischen ist sie ausgebildete Arzthelferin und wohnt mit ihrem Freund auf dem Land, "zwischen Hühnern und Enten". Ihr Wunsch von einer Familie hat sich erfüllt: Im April heiratet sie, in ein paar Monaten erwartet sie ihr erstes Kind. Was sie sich für ihre Zukunft wünscht? "Na ja, dass halt alles gut geht."

Wie groß die Chance ist, dass straffällig gewordene Jugendliche wieder in die Normalität zurückfinden, könne man nicht pauschal sagen, sagt Joachim Wallner. Für seine Arbeit spielt das auch keine Rolle. "Ich sage mir immer: Es gibt die Tat - und es gibt den Menschen." Manche seiner Klienten sehe er nie wieder. "Andere bleiben mir ein Leben lang."

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