Umstrittenes Buch über Klassengesellschaft in USA:Mit Gebeten gegen die soziale Ungleichheit

Amerika 2012: Die Reichen werden immer reicher, die Mittelschicht fürchtet den Abstieg, die Armen bleiben arm. In "Coming Apart" zeichnet Charles Murray ein düsteres Bild der USA - und hat damit eine heftige Diskussion ausgelöst. Murrays Kritiker sind vor allem wegen der Lösungsvorschläge des konservativen Politologen empört.

Matthias Kolb, Washington

Es gibt ganze Kapitel im aktuellen Buch von Charles Murray, die bei einem Treffen der "Occupy Wall Street"-Bewegung für große Zustimmung sorgen würden. Detailliert beschreibt der 69-Jährige in "Coming Apart", wie die Schere zwischen Arm und Reich seit 1960 in den USA immer weiter auseinandergegangen ist und welche Gefahren für die Gesellschaft daraus entstehen können.

As Economy Struggles, Disparity Of Wealth Becomes More Glaring

Ein obdachloser Mann in Bridgeport, Connecticut: Die Schere zwischen Arm und Reich in den USA geht immer weiter auseinander. In diesem Punkt widerspricht kaum jemand Charles Murray. Doch über die Lösungsvorschläge des Buchautors wird heftig gestritten.

(Foto: AFP)

Doch die Gemeinsamkeiten mit den Occupy-Anhängern enden in jenem Moment, in dem der Politologe beim Interview mit Süddeutsche.de in seinem mit Büchern vollgestopften Büro die Erklärung für dieses Phänomen nennt: "Ein Blick auf das letzte halbe Jahrhundert zeigt, warum das weiße Amerika immer mehr auseinanderfällt. Es hat sich eine neue Unterschicht entwickelt, die für traditionelle amerikanische Werte nicht mehr viel übrig hat." Doch auch die neue Oberschicht, die er als die "obersten fünf Prozent" definiert, wird von Murray mit deutlichen Worten beschrieben: "Die neue Elite isoliert sich zunehmend und will vom Rest des Landes nichts wissen."

Noch bevor "Coming Apart" vor einigen Wochen in die Buchläden kam, begannen die Diskussionen. David Brooks, Starkolumnist der New York Times, kürte es zum "wichtigsten politischen Buch des Jahres". Brooks lobte, dass ausgerechnet ein konservativer Autor dieses brisante Thema so dargestellt habe, dass sich die Anhänger beider Parteien damit beschäftigen müssten.

Murray, der am American Enterprise Institute forscht, hatte schon 1994 einen Skandal ausgelöst: In "The Bell Curve" argumentierte er, dass Intelligenz vor allem erblich und durch die soziale Umwelt nicht zu ändern sei. US-Präsident Barack Obama, damals Anwalt in Chicago, nannte die These von Murray und dessen Ko-Autor Richard Herrnstein im Radiosender NPR "altmodischen Rassismus, der kunstvoll neu verpackt wurde".

Um sich den Vorwurf des Rassismus zu ersparen, konzentriert sich Murray nun auf "die Lage des weißen Amerikas von 1960 bis 2010", wie es im Untertitel heißt. Um seine These anschaulich zu machen, präsentiert er zwei fiktive Modellstädte: In Belmont residiert die neue Oberschicht, während die Arbeiterklasse in Fishtown wohnt. Vor 50 Jahren habe sich dort kein Bewohner Sorgen gemacht, wenn die Kinder draußen spielten, da Nachbarn sie im Blick hatten. Es habe nichts mit Nostalgie zu tun, wenn man feststelle, dass die Gemeinschaft damals sehr gut funktioniert habe.

Heute sehe die Lage jedoch anders aus: "Es gibt viel mehr Kriminalität in Fishtown. Niemand lässt die Haustür unabgeschlossen. Jeder achte Mann sucht gar nicht mehr nach Arbeit, obwohl Jobs zu haben sind." Murray erkennt darin im Gespräch mit Süddeutsche.de nicht weniger als eine "menschliche Tragödie", für die er nicht nur den "viel zu üppigen Sozialstaat" verantwortlich macht. Er beklagt vielmehr den Verfall jener Werte, die seit der Unabhängigkeit dazu geführt hätten, dass Amerika das mächtigste, einflussreichste und wohlhabendste Land sei: Fleiß, Ehrlichkeit, Religiosität und Familie.

Dass etwa eine bessere Ausstattung der öffentlichen Schulen die Probleme in Fishtown mindern könnten, wie manche Kritiker anführen, glaubt Murray nicht. Er argumentiert, dass nur noch 40 Prozent aller Erwachsenen in Fishtown verheiratet seien, was das Familienleben enorm verändere. 1960 sei der Wert noch bei 80 Prozent gelegen. Murray ist überzeugt, dass die Ehe eine gute Entwicklung der Kinder garantiere und die Basis für gesellschaftliches Engagement sei. "Wer nicht verheiratet ist, geht seltener in die Kirche und engagiert sich weniger ehrenamtlich", sagt Murray voller Überzeugung. Es gehe auch um das klare Bekenntnis zu seinem Partner und die Bereitschaft, Problemen nicht aus dem Weg zu gehen, ergänzt der Autor.

Rucola-Salat statt Tiefkühlpizza

Der neuen Elite sind diese Tugenden enorm wichtig - egal, ob sie mit den Republikanern oder Demokraten sympathisieren. In Anspielung an den ZIP-Code, die amerikanische Postleitzahl, bezeichnet Murray seine Modell-Stadt Belmont, die an den Wohnort von Mitt Romney im Speckgürtel Bostons angelehnt ist, als "Super-ZIP".

Tugenden offensiv vertreten

Hier liegt der Anteil der verheirateten Paare weiterhin bei 80 Prozent, alle Bewohner verfügen über exzellente Bildung und viel Geld, weshalb dort eine ganz eigene Kultur herrsche: "Anstelle von Tiefkühlpizza gibt es Rucola-Salat, es wird kaum ferngesehen und anstelle der klassischen US-Sportarten hält man sich mit Lacrosse oder Joggen fit". Die neue Elite schottet sich ab. Es gehe gar nicht um besonders große Häuser oder eine tolle Landschaft, sondern vor allem darum, unter seinesgleichen zu sein. Dieser Trend wäre an sich nicht so schlimm, wenn die Bewohner der Super-ZIPs aus der Arbeiterklasse stammen würden, meint Murray. Die Realität sehe leider anders aus, wie Murray wütend anmerkt: "Viele werden in diese Blase hineingeboren."

Diese neue Elite werde vor allem in den Bildungsinstitutionen geformt, in denen die Sprösslinge der upper class unter sich blieben. Es beginnt mit dem Besuch einer exklusiven Privatschule: "Alle Kinder kommen aus einem wohlhabenden Elternhaus, sie werden gefördert, sie sind smart und ehrgeizig." Später besuchen sie teure Colleges, absolvieren Praktika in renommierten Institutionen, bevor sie ihren Master of Business Administration machen oder die Law School besuchen - und als Ehepartner wählen sie laut Murray meist einen Absolventen einer Top-Universität.

Für den Sozialwissenschaftler steht fest: "Die meisten Mitglieder der neuen Elite haben keinen einzigen Tag ihres Lebens körperlich gearbeitet und keine Vorstellung, wie der Alltag in Amerika aussieht." Er selbst wollte, dass seine Kinder "nicht nur unter ihresgleichen aufwachsen", wie er einer Reporterin der New York Times erzählte. Deswegen ist er mit seiner zweiten Ehefrau in den kleinen Ort Burkittsville in Maryland gezogen, der 80 Meilen von Washington entfernt liegt und in dem Handwerker zu seinen Nachbarn und Bekannten gehören.

Eine Karte der Vereinigten Staaten in "Coming Apart" zeigt die Verteilung der Super-ZIPs: Die meisten Bewohner leben im Großraum New York, während sich rund um die Hauptstadt Washington und den District of Columbia ein Teppich aus 13 dieser Elite-Cluster gebildet hat, was die Lebenshaltungskosten enorm in die Höhe treibt. Rund um San Francisco gibt es ebenfalls mehrere Super-ZIPs, ähnliches gilt für Städte wie Boston, Seattle, Chicago, Dallas oder Houston.

Für Murray steht fest: Die traditionellen Werte müssen wieder von allen Amerikanern gelebt werden, egal ob sie weiß oder schwarz sind, Englisch oder Spanisch sprechen. Weil der Politologe als überzeugter Libertärer den Einfluss des Staats auf die Bürger begrenzen will, fordert er die Oberschicht auf, ihre Tugenden offensiv zu vertreten.

Murrays Kritiker monieren eigenwillige Interpretation von Daten

Der Appell blieb nicht ungehört: In seiner Lobeshymne auf Murrays Buch regte NYT-Kolumnist David Brooks einen Freiwilligendienst an, der junge Amerikaner aus allen Schichten zusammenbringen und für mehr gegenseitiges Verständnis sorgen könnte. Empört meldete sich an gleicher Stelle der Nobelpreisträger Paul Krugman zu Wort. Murray lasse die ökonomische Entwicklung völlig außer acht: money, also Geld, sei wichtiger als Moral.

Diese Kritik teilt auch Timothy Noah, der für das Magazin The New Republic schreibt: "Murray ignoriert wirtschaftliche Fakten. Ich finde dies sehr problematisch, denn gerade in den letzten dreißig Jahren hat die soziale Ungleichheit enorm zugenommen." Seit 1973 stagnieren die Löhne für die untere Mittelschicht und die Arbeiterklasse in den USA, während zeitgleich Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verloren gingen. Doch Murray beharre darauf, dass diese Gleichzeitigkeit nur ein Zufall sei, kritisiert Noah im Gespräch mit Süddeutsche.de.

In seinem Blog dokumentiert der Journalist, wie mehrere Ökonomen belegen, dass Charles Murray einige Statistiken eigenwillig interpretiert. Der Vorwurf, unwissenschaftlich mit Daten umzugehen, wurde dem Autor auch bei seinem Skandalbuch "The Bell Curve" gemacht. Im aufgeheizten politischen Klima Amerikas wird dies von Murray und seinen Fans allerdings als kleingeistig abgetan.

Timothy Noah hat selbst ein Buch über die Ursachen der sozialen Ungleichheit veröffentlicht und nennt darin einige Vorschläge, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich verringern ließe: "Erstens sollten wir den Spitzensteuersatz erhöhen. Das würde zwar nur ein bisschen helfen, aber es wäre symbolisch wichtig. Zweitens müsste die Erbschaftssteuer steigen." Für besonders dringlich hält es Noah jedoch, dass die Regierung den Anstieg der Studiengebühren stärker kontrolliert. Er klagt: "Heutzutage sind Colleges gerade für jene unerreichbar, die den sozialen Aufstieg am dringendsten brauchen. Sie haben Angst vor dem Schuldenberg, den sie dafür anhäufen müssten."

Auch wenn der liberale Journalist mit den Lösungsansätzen von Charles Murray nicht übereinstimmt, sieht er wie viele Kritiker von "Coming Apart" etwas Positives an den guten Verkaufszahlen des Buches. Timothy Noah zollt dem Autor sogar Respekt: Nur wenige konservative Intellektuelle seien bereit, offen über den riesigen Gegensatz der Klassen in Amerika zu sprechen. Die Mehrheit mache es sich einfacher - und leugne schlicht deren Existenz.

Linktipp: Ende März war der in persönlichen Gespräch überaus freundliche Charles Murray zu Gast in der Satire-Sendung The Colbert Report" und erklärte die Thesen seines Buchs (ab 14. Minute). Eine umfassende Doppelkritik der Bücher von Charles Murray und Timothy Noah ist im New York Review of Books erschienen.

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