Aushilfsverteidiger Anatoli Timoschtschuk:Grätschend gegen die Naturgewalt

Der FC Bayern sorgt sich im Finale um seine Abwehr, denn wegen der vielen Gelbsperren muss Trainer Heynckes gehörig umbauen. Die Defensiv-Rochaden bringen den eigentlichen Mittelfeldmann Anatoli Timoschtschuk ins Spiel, der gemeinsam mit Jérôme Boateng Chelseas Offensivwucht bremsen soll. Ist der eher kleine Ukrainer einem Koloss wie Drogba gewachsen?

Johannes Aumüller

Es ist eine der letzten Trainingseinheiten vor dem großen "Finale dahoam", die meisten Spieler sind schon in der Umkleidekabine, nur einige Bayern-Profis sind noch auf dem Übungsrasen an der Säbener Straße. Auf der einen Seite parieren die Torhüter noch ein paar Bälle, das ist nach dem offiziellen Trainingsende nicht unüblich, deutlich üblicher jedenfalls als die Versammlung auf der anderen Seite des Platzes: Dort stehen Anatoli Timoschtschuk und Jerome Boateng ungefähr so weit auseinander, wie Innenverteidiger beim Anpfiff eines Spiels auseinander stehen, und bekommen von Teilen des Trainerstabes noch ein paar Zusatz-Instruktionen.

FC Bayern Anatoli Timoschtschuk Vedad Ibisevic

Gewohnte Pose: Anatoli Timoschtschuk beackert den Fußballplatz im Liegen. 

(Foto: imago sportfotodienst)

Timoschtschuk und Boateng - die zwei, denen an diesem Samstag eine Schlüsselrolle zukommen könnte. Denn wenn FC-Bayern-Trainer Jupp Heynckes seine Aufstellung so wählt wie allseits erwartet, dann dürfte dieses Duo gegen den FC Chelsea die Innenverteidigung bilden. Und dann würde dieses Duo beispielhaft für die große Sorge der Münchner stehen: die womöglich geringe Widerstandskraft ihrer Defensive.

Zu einem ganzheitlichen Bild dieser Saison zählt ja auch die Tatsache, dass die Münchner Hintermannschaft trotz vieler zwischenzeitlicher Umstellungen weitgehend souverän agierte. Die fünf Gegentore im Pokal-Finale gegen Dortmund passten so gar nicht zu den übrigen Auftritten, nur 22 Treffer kassierten die Münchner in der Liga - eine der wenigen Kategorien, in der sie vor Dortmund (25) lagen. Doch ausgerechnet für das Chelsea-Spiel muss Heynckes eine neue Defensive zusammenstellen, weil Innenverteidiger Holger Badstuber, Linksverteidiger David Alaba und Mittelfeldabräumer Luiz Gustavo gelbgesperrt fehlen.

In den vergangenen Wochen hat sich ja irgendwie der Eindruck aufgedrängt, als sei schon ganz klar, wie Heynckes auf diese Absenzen personell reagieren will. Das liegt zum einen an der generell geringen Anzahl an Optionen, weil die Bayern im vergangenen Sommer ihre Defensivabteilung etwas kümmerlich bestückten und sich davon auch durch zwischenzeitliche Verletzungen nicht abbringen ließen.

Und das liegt zum anderen an einem Kniff des Trainers: Der tat nämlich so, als nutze er das unwichtig gewordene letzte Bundesliga-Spiel gegen Köln zum ultimativen Chelsea-Test, setzte im defensiven Mittelfeld Toni Kroos statt Luis Gustavo ein, links Diego Contento statt Alaba und in der Innenverteidigung Timoschtschuk statt Badstuber - und weil der FCB das Spiel trotz keineswegs überzeugender Abwehrleistung auch noch 4:1 gewann, schien es so, als stehe die Elf fürs Finale. Seitdem spielt zum Beispiel Rechtsverteidiger Rafinha in den Aufstellungsdebatten keine Rolle mehr.

In der Tat ist die Formation von Köln die wahrscheinlichste Option. Doch offenbar, so ist zu vernehmen, hat Heynckes in den vergangenen Tagen einige Varianten mehr durchdacht und ausprobiert - vor allem, was die Innenverteidigung anbelangt. Theoretisch könnte anstelle von Timoschtschuk auch Daniel van Buyten zum Einsatz kommen.

Wer Heynckes kennt, der weiß aber, dass der Bayern-Trainer kein Freund von Experimenten ist. Van Buyten, 34, in diesem Spiel einzusetzen, wäre ein Experiment. In der Hinrunde hatte sich der Belgier zwar als Stammkraft etabliert, doch seit er Mitte Januar beim Rückrunden-Auftakt gegen Borussia Mönchengladbach (1:3) einen Mittelfußbruch erlitt, bestritt er kein einziges Spiel mehr für die Münchner Profi-Elf.

Erst am vergangenen Freitag, beim 3:0 der zweiten Mannschaft gegen die Ingolstädter Reserve, feierte van Buyten sein Comeback und teilte anschließend mit, er würde sich einen Einsatz gegen Chelsea durchaus zutrauen - wobei in seinem Fall Einsatz natürlich auch bedeuten könnte, kurz vor Schluss ins Spiel zu kommen und sich dann in der gewohnten Manier im gegnerischen Strafraum als kopfballstarke Brechstange zu versuchen.

Allerdings wäre es auch ein Experiment, den gelernten Mittelfeldmann Timoschtschuk, 33, in einem solch wichtigen Spiel als Innenverteidiger einzusetzen. Gewiss, der Kapitän der ukrainischen Nationalmannschaft hat diese Position schon in einigen Pflichtpartien gespielt - dabei aber nie richtig überzeugt. Das allerdings verwunderte auch kaum, denn er ist von seiner Spielanlage alles andere als ein Innenverteidiger.

Er hat zwar ein gutes Stellungsspiel, aber er ist nicht besonders antrittsschnell, und er grätscht gerne, und zwar so gerne, dass Boateng im Vergleich so standfest wirkt wie die Bavaria-Statue neben der Theresienwiese. Und vor allem: Timoschtschuk ist gerade mal 1,81 Meter groß.

Im modernen Fußball gibt es einige Positionen, auf denen sich mehr und mehr kleinere Spieler durchsetzen, weil sie wendiger sind, doch in der Innenverteidigung sind nach wie vor Recken gefragt - weil oftmals auch die gegnerischen Mittelstürmer noch Recken sind, wie an diesem Samstag nun Chelseas stürmende Ein-Mann-Naturgewalt Didier Drogba (1,89 Meter). Abwehrspieler messen daher in der Regel 189 Zentimeter wie Badstuber, 192 Zentimeter wie Boateng oder gar 196 Zentimeter wie van Buyten.

181 Zentimeter gegen einen Riesen

Aber nicht 181 Zentimeter wie Timoschtschuk. Als - noch unter Louis van Gaal - erstmals der Gedanke aufkam, ihn nicht in der gewohnten Rolle im defensiven Mittelfeld einzusetzen, sondern in der Abwehrreihe, da klang er durchaus skeptisch: "Ich habe in meiner Karriere vom Linksverteidiger bis zum Angreifer schon alles gespielt. Doch jeder Spieler sollte eine Rolle haben, in der er seine Qualitäten am besten zeigen kann. Deswegen denke ich nicht, dass man für einen Spieler irgendetwas ausdenken oder Neues finden muss. Erst recht nicht für einen Spieler, der in seiner Karriere mehr als 600 Spiele bestritten hat."

Timoschtschuk hat derzeit aber nicht die Stellung, um eine gewisse Position einfordern zu können; er ist froh, wenn er überhaupt spielt. Zumal er weiß, dass ihn ein solches Spiel für manches entschädigen könnte, was ihm seit seinem Wechsel zu den Bayern 2009 widerfahren ist. Timoschtschuk selbst verweist zwar darauf, dass er in dieser Zeit mehr als 100 Spiele bestritt, er sich in München sportlich und privat sehr wohl fühle und sich sein Vertrag erst kürzlich um ein Jahr verlängerte. Gleichwohl verliefen die vergangenen drei Jahren deutlich anders, als er (und auch als die Bayern-Bosse) sich das vorgestellt hatten.

Als der Wechsel - noch in der Zeit von Trainer Jürgen Klinsmann - zu Stande kam, erwarteten alle, der Ukrainer könne sich zum Führungsspieler entwickeln. Doch dann kam van Gaal, und der "sagte mir bei der ersten Trainingseinheit, dass er mich nicht verpflichtet hat und dass er so einen Spieler wie mich nicht braucht". Unter Heynckes entwickelte sich Timoschtschuk zu Beginn der Saison zwar nicht zum Führungs-, aber immerhin zu einem halben Stammspieler, weil er sich stets mit Luis Gustavo abwechselte. Doch nach der Winterpause verlor er den Anschluss an die Startelf. Erst zum Saisonende spielte er wieder regelmäßig, und dann meist als Innenverteidiger.

Sollte er das im Endspiel wieder tun, ist es unwahrscheinlich, dass er halblinks spielt und gemeinsam mit Contento das linke Pärchen bildet. "Wenn Jerome und ich die Innenverteidigung gebildet haben, war es immer so, dass ich halbrechts gespielt habe und Jerome halblinks", sagt Timoschtschuk. "Aber vielleicht spiele ich ja auch auf der Sechs."

Timoschtschuk auf seiner angestammten Position im Zentrum, das hätte einen gewissen Charme, weil dann nicht zwei offensiv orientierte Spieler wie Schweinsteiger und Kroos das Sechser-Pärchen bilden würden. Doch das würde auch bedeuten, dass van Buyten als Innenverteidiger beginnen würde und ein Mittelfeldspieler, etwa Thomas Müller, draußen bleiben müsste. Und das ist schwer vorstellbar.

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