"Schnelles Denken, langsames Denken":Misstraue dem Vertrauten!

Daniel Kahnemann liefert mit "Schnelles Denken, langsames Denken" das Buch zur Bewegung: Warum man mit den Lehren der Verhaltensökonomie die Piratenpartei verstehen kann.

Jens-Christian Rabe

Die Bücher heißen "Fallstricke", "Raus aus der Grübelfalle!" oder "Die Kunst des klaren Denkens", sie stehen auf den Bestsellerlisten weit oben, in den Buchhandlungen direkt neben der Kasse und sie kennen den Weg zum besseren Leben. Aber sie wollen keine lebenspraktischen Allerweltsratgeber mehr sein, keine öden Oden auf den gesunden Menschenverstand. Diesmal nicht. Diesmal werden mit den Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Verhaltensökonomie und Psychologie ungnädig unsere alltäglichen Denkfehler enttarnt.

Am weitesten hat es damit hierzulande bislang der schweizer Unternehmer und Autor Rolf Dobelli gebracht. Seine so nüchterne wie lehrreiche Kolumnensammlung "Die Kunst des klaren Denkens - 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen" steht seit Monaten auf der Spiegel-Sachbuch-Bestsellerliste ganz weit vorne. Wie so viele Ideen in der Kategorie "Populäres Sachbuch" ist auch diese ein amerikanischer Import. Die Vorbilder stammen von Cass R. Sunstein, Richard H. Thaler oder Jonah Lehrer.

Allen gemeinsam ist, dass sie gegen das in der westlichen Wirtschaftswissenschaft noch immer erstaunlich mächtige Paradigma des Menschen als animal rationale - also als stets vernünftiger, unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen kalkulierender Nutzenmaximierer - das animal irrationale in uns betonen. Sie sind Psycho-Detektive, immer auf der Suche nach systematischen Fehlern des Urteilens und Handelns.

Sie fragen sich, warum etwa Fußballtorhüter beim Elfmeter zu 50 Prozent nach rechts und zu 50 Prozent nach links springen, obwohl die Schützen zu einem Drittel nach rechts, zu einem Drittel nach links und zu einem Drittel in die Mitte zielen (weil der Keeper im Falle eines Tors besser aussieht, wenn er irgendwohin gesprungen und nicht nur regungslos herumgestanden ist - das ist der sogenannte "Action Bias", der leider auch bei der Geldanlage ein große Rolle spielt).

Warum der Mensch umso stärker an einer Aktie festhält, je mehr er mit ihr verloren hat (weil wir glaubwürdig erscheinen wollen und deshalb Widersprüche scheuen). Oder warum wir für etwas, das wir besitzen, beim Verkauf mehr Geld verlangen, als wir selbst bereit wären, dafür auszugeben (weil wir Dinge, die wir besitzen, als wertvoller empfinden als Dinge, die wir nicht besitzen - die Wissenschaft spricht dabei vom "Endowment-Effekt").

Der Erfolg, den die Denkfehler-Detektive, deren Daten manchmal schon 30 Jahre alt sind, gerade jetzt haben, dürfte alles andere als Zufall sein. Die Wirtschaftskrise wurde von so gut wie allen bis dahin für kompetent gehaltenen Beobachtern schlicht nicht vorhergesehen. Die Krise ist deshalb viel mehr als nur ein wirtschaftliches und politisches Unglück. Sie ist vor allem eine kollektive intellektuelle Kränkung. Eine gigantische Menge scheinbar sicheren empirischen Wissens erscheint plötzlich vollkommen falsch. Seither steht das gesamte "System" in Frage und systemkritische Bewegungen wie Occupy oder die Piratenpartei profitieren davon.

Wer nun das seit wenigen Tagen auf Deutsch erhältliche, eindrucksvolle Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" (aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2012, 610 S., 25 Euro) von Daniel Kahneman liest, dem wird umso deutlicher, dass die Verhaltensökonomie derzeit eine komplette Revision unseres Problemlösungsgewohnheiten vornimmt. Mit dem 78-jährigen israelisch-amerikanischen Psychologen betritt jetzt also auch der wichtigste und berühmteste der Zunft das Feld. 2002 erhielt er für die gemeinsam mit seinem bereits 1996 verstorbenen Freund und Forschungspartner Amos Tversky entwickelte "Prospect Theory" den Wirtschaftsnobelpreis.

Die 1979 konzipierte "Prospect Theory" oder "Neue Erwartungstheorie" bewies entgegen den Lehrmeinungen der Wirtschaftswissenschaft, dass der Mensch Verluste stärker verabscheut, als er Gewinne liebt. Wenn wir eine Entscheidung treffen oder ein Problem lösen sollen, dann sind wir demnach keine rein rationalen, nüchternen Nutzenmaximierer. Entscheidend ist weniger das Problem an sich, sondern unsere Wahrnehmung des Problems.

Jargonfrei erzählt, detailreich, aber anschaulich

Die "Neue Erwartungstheorie" wird im Buch natürlich ausführlich erklärt. "Schnelles Denken, langsames Denken" ist in vierzig Kapiteln, die jeweils von einem wichtigen Forschungsergebnis handeln, aber nicht nur die Geschichte eines einzelnen Forscherlebens, sondern so etwas wie eine Enzyklopädie der gesamten Verhaltensökonomie geworden.

Dabei ist es jargonfrei erzählt, detailreich, aber anschaulich, mit vielen persönlichen Anekdoten, fast leichtfüßig. So leichtfüßig, dass der Autor das Buch beinahe gar nicht fertig geschrieben hätte. Er mochte es zunächst nicht, befürchtete, es werde seinen Ruf ruinieren. Erst das wohlwollende Urteil von vier Experten, die er das Manuskript für je 2000 Dollar anonym begutachten ließ, bewegte ihn zur Fertigstellung. Was für ein Glück. Auf beinahe jeder Seite liest man von psychologischen Experimenten, Gedankenspielen und Statistiken, die Verblüffendes über die Unzuverlässigkeit unserer Intuitionen ans Licht gebracht haben, über Selbstüberschätzungen, die unterschätzte Bedeutung des Zufalls und darüber, wie kurze negative Erfahrungen unsere Erinnerung nachhaltig trüben, wenn sie sich nur zum richtigen, also falschen Zeitpunkt ereignen - also am Ende von Erlebnissen.

Man erfährt, wie stark der sogenannte "Ankereffekt", tatsächlich wirkt. Ein Experiment Kahnemans und Tverskys ergab etwa, dass bei der Schätzung des Prozentsatzes afrikanischer Staaten in der UN die Höhe Antwort massiv davon beeinflusst werden, welche Zahl ein Probant kurz vorher an einem Glücksrad gedreht hat. Je höher die Zahl am Glücksrad, desto höher danach der geschätzte Prozentsatz afrikanischer Staaten in der UN. Weniger harmlos klingt es, wenn Kahneman berichtet, dass in einem Experiment erfahrene deutsche Richter eine Ladendiebin zu einer höheren Haftstrafe verurteilten, wenn sie zuvor eine hohe Zahl gewürfelt hatten.

Zeitdiagnostisch virulent wird es dort, wo Kahneman der "Kompetenzillusion" der Wertpapierhändler in einer Vermögensberatung auf den Grund geht: Die Händler "selbst sahen sich als kompetente Fachleute, die einer seriösen Arbeit nachgingen, und ihre Vorgesetzten sahen das genauso". Tatsächlich ergab die statistische Auswertung ihrer Erfolge, dass sie ein reines Zufallsspiel spielen. Wahrhaben wollten sie es nicht. Kahnemans lakonischer Schluss: "Die Kompetenzillusion ist nicht nur ein individueller Urteilsfehler; sie ist tief in der Kultur der Wirtschaft verwurzelt. Tatsachen, die Grundannahmen infrage stellen - und dadurch das Auskommen und die Selbstachtung von Menschen bedrohen -, werden einfach ausgeblendet."

Bei der Frage, wann "man einem erfahrenen Fachmann trauen kann, der behauptet, eine sichere Intuition zu haben", ist man schließlich natürlich schnell in der deutschen Gegenwart - und bei der Piratenpartei angekommen. Die Antwort Kahnemans lautet: Nur wenn es in der für seine Expertise relevanten Umgebung des Experten stabile Regelmäßigkeiten gibt. In der Finanzwelt oder auch der Politik sei das nicht der Fall. Ereignisse in diesen Sphären seien grundlegend nicht vorhersehbar.

Im Zentrum: Misstrauen

Die ostentative Weigerung der Piraten, Politik wie alle anderen als ein Spiel zu begreifen, in dem geschmeidige Überzeugungen und Überredung den Status Quo erhalten wollen, hat genau hier ihre Rechtfertigung. Die etablierte Politik will sagen: Lieber Wähler, alles in allem können Sie dem Vertrauten trauen. Die Lektion der Verhaltensökonomie lautet dagegen: Misstraue dem Vertrauten! Und ihr Versprechen - womit wir auf der schattigeren Seite des Phänomens sind - ist, dass so etwas wie eine ideologiefreie Ideologiekritik möglich ist. Aufklärung wäre dann kein moralisches Problem mehr, sondern ein Trick zur Selbstverbesserung, zu dem der Mensch eben auch gezwungen werden kann.

Mit anderen Worten: Wenn der amerikanische Anthropologe David Graeber mit seinem Buch "Schulden - die ersten 5000 Jahre" das Buch zur Occupy-Bewegung geschrieben hat, dann hat Daniel Kahneman das Buch für die Piratenpartei geschrieben. Im Zentrum ihrer Mentalität steht genau diese, für das Zeitalter des Internets typische, eher passiv-aggressive Haltung: Misstrauen. Vor allem gegenüber sämtlichen Autoritäten, die die Krise eben so brutal desavouiert hat. Die Piraten wissen selbst noch nicht allzu viel, aber eines - daraus übrigens speist sich die merkwürdig unpolitische, auch autistische Arroganz, die das Establishment in jeder Talkshow wieder auf die Palme bringt - eines wissen sie genau: Die anderen wissen sehr, sehr viel weniger, als sie selbst zu wissen glauben. Schlag nach bei Daniel Kahneman!

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