Zum TV-Duell der US-Präsidentschaftskandidaten:Moral schlägt Argument

Republikaner setzen auf Werte, Demokraten auf Fakten - und dennoch dominieren die Konservativen den öffentlichen Diskurs: Linguistin Elisabeth Wehling erklärt, wie Amerikas Rechte die Hoheit über die Sprache gewann - und was US-Präsident Obama bei der heutigen TV-Debatte beachten sollte.

Matthias Kolb

Elisabeth Wehling forscht als Linguistin an der University of California, Berkeley, über die Bedeutung von Sprache in politischen Debatten. Mit dem Kognitionswissenschaftler George Lakoff hat sie 2012 das "Little Blue Book. The Essential Guide to Thinking and Talking Democratic" veröffentlicht, in dem die Autoren progressiven Politikern Tipps für den öffentlichen Diskurs geben.

SZ.de: Frau Wehling, US-Präsident Barack Obama hat das erste TV-Duell gegen Mitt Romney verloren. Was hat er falsch gemacht?

Elisabeth Wehling: Im Gegensatz zu Romney hat Obama seinen Positionen keine moralischen Prämissen vorangestellt. Sein Herausforderer hat viel deutlicher gemacht, welche Vorstellung er von der Gesellschaft hat und dass er etwa Steuern als Last für das Individuum empfindet. Obama ist auf einzelne Programme eingegangen, ohne sie in größere Denkstrukturen einzubinden. Damit hat er die Zuschauer verloren.

In welchen Situationen hätte Obama besser reagieren können?

Ein Beispiel ist die Diskussion um Obamacare. Als es darum ging, ob die Ausweitung der Krankenversicherungspflicht beibehalten werden soll, hat der Präsident wahllos dieses von den Konservativen erfundene Wort übernommen. Er hat gesagt: "Der Begriff wächst mir ans Herz." Und sich dann in Details verloren. Obamacare bietet keinen guten Denkrahmen (frame).

Was stört Sie an dem Wort?

Es geht bei dem Vorhaben nicht um Obama als Person, sondern um das Anliegen, sich gemeinschaftlich so zu organisieren, dass niemand an einer Krankheit sterben muss, wenn dies abwendbar ist. Die Reform dreht sich um die Freiheit und den Schutz der Amerikaner. Das findet sich in Obamacare nicht wieder. Denn wer Obama als Politiker ablehnt, der wird gegen dieses Gesetz sein - ohne die Inhalte zu kennen. Der offizielle Titel "The Patient Protection and Affordable Care Act" nutzt zudem Wörter aus der Wirtschaftswelt, als sei Gesundheitsvorsorge nur ein Produkt und kein Grundrecht. Das Adjektiv affordable (bezahlbar) suggeriert auch etwas Minderwertiges.

Sie sind Linguistin und haben in Ihrem Little Blue Book die Sprache von Demokraten und Republikanern analysieren. Worin liegen die Unterschiede und wer ist erfolgreicher?

Die Konservativen sind geschickter. Verkürzt ließe sich sagen: Republikaner setzen auf Werte, Demokraten auf Fakten. Die Konservativen haben schon vor mehreren Jahrzehnten begonnen, ihr Gedankengut und ihre moralischen Vorstellungen über die richtigen Worte zu transportieren. Sie schaffen es, die passenden Begriffe für wichtige Themen zu entwickeln und dann dafür zu sorgen, dass diese in der Partei und von Sympathisanten genutzt werden.

Warum ist es für Politiker so wichtig, über Werte und Moral zu sprechen?

Die politische Kommunikation sollte immer an die Moral appellieren, denn politische Gruppen denken wegen ihrer Wertehaltung unterschiedlich über gesellschaftliche Dinge. Ein Politiker muss mit seiner Weltsicht erklären können, wieso bestimmte Fakten ihn zum Handeln zwingen. Die US-Konservativen reden ständig von "tax relief", also von Steuererleichterung. Der Denkrahmen liefert automatisch eine Interpretation von Steuern mit: Sie sind etwas Schädliches, von dem man befreit werden kann. Wenn Romney von tax relief spricht, redet er nicht nur über Fakten wie Steuersätze, sondern transportiert eine moralische Ansicht. Wenn Obama das Wort benutzt, liefert er diese Prämisse der Konservativen mit - egal mit welchen Fakten er gegen diese Weltsicht argumentiert.

Dann müssen progressive Amerikaner also ihre eigene Sprache erfinden und durchsetzen.

Das Problem ist, dass die linkspolitische Seite oft nur auf die Konservativen reagiert. Ein gutes Beispiel ist der Begriff "pro-life" (für das Leben), mit dem gegen Abtreibung argumentiert wird. Die politische Linke hat diesen Ausdruck aufgegriffen: "Wir sind nicht 'pro-life', sondern wir sind 'pro-choice', also für die Wahlmöglichkeit". Dies spielt aber auf die Konsumwelt an, da geht es nicht um grundlegende Werte. In dem Moment, wo sich politische Akteure in Amerika in diesen Denkrahmen sprachlich einkaufen, sind sie entweder "pro-death", also für den Tod, oder eben "anti-life", gegen das Leben. Damit schießt sich die Linke selbst ins Knie. Wenn man den Mitbürgern erklären will, wofür man steht, muss man sich seiner eigenen Werte sicher sein und aktiv eine Sprache finden.

Warum Konservative den strengen Vater mögen

Sie argumentieren viel mit Erkenntnissen der Neurowissenschaft. Wie hoch ist der Anteil in unserem Denken, der durch die Ratio überhaupt gesteuert wird?

Elisabeth Wehling

Elisabeth Wehling forscht als Linguistin an der University of California, Berkeley, über die Bedeutung von Sprache in politischen Debatten. Mit dem Kognitionswissenschaftler George Lakoff hat sie 2012 das "Little Blue Book. The Essential Guide to Thinking and Talking Democratic" veröffentlicht,

(Foto: oH)

Derzeit geht man davon aus, dass 98 Prozent unseres Denkens unbewusst passiert. Mit "unbewusst" ist nicht der Begriff aus der Tiefenpsychologie von Sigmund Freud gemeint, es handelt sich schlicht um neuronale Prozesse. Wann immer eine Person einen Begriff hört oder etwas sieht, läuft eine Vielzahl an neuronalen Prozessen ab, die niemand überschauen kann. Wenn Sie das Wort "Katze" hören, dann fallen Ihnen rational Dinge ein wie "Haustier", "nett" oder "kann man streicheln". Kaum jemand ist sich aber bewusst, dass im Gehirn eine ganze Reihe motorischer Planungen abläuft - da werden prototypische Arm- oder Handbewegungen simuliert. Deswegen ist es insbesondere für Politiker so wichtig, sich darüber bewusst zu sein, was man mit Worten auslöst.

Von außen wirken die USA wie ein extrem polarisiertes Land mit sehr festgefahrenen Meinungen. Lassen sich Amerikaner überhaupt noch überzeugen?

Es stimmt, in den USA gibt es ein ganz konservatives Lager und ein sehr liberales Lager. Und in der Mitte stehen die Wechselwähler. Je nachdem, welcher Kandidat deren Werte stärker anspricht, werden diese entweder nach links oder nach rechts wandern. Es geht darum, in den Köpfen diejenigen Gedankenmuster aufzurufen, die sie mit einem Kandidaten teilen. Wir wissen mittlerweile, dass Eigeninteresse und Fakten weniger Einfluss auf die politischen Entscheidungen haben als bisher angenommen. Es sind die Werte und die eigene Identität, die das Grundgerüst bei der Stimmabgabe bilden.

Welche Rolle spielen Erziehung und Familienbild auf die Weltsicht der Menschen?

Da gibt es bisher vor allem Forschungsergebnisse zur Situation in den USA. Die Konservativen beziehen sich sehr stark auf eine idealisierte Familie mit einem strengen Vater, der klare Regeln setzt. Es ist eine Familie, in der Kinder sich zu guten Menschen entwickeln, weil man es ihnen nicht leicht macht - und weil Bestrafung wichtiger ist als Belohnung. Der Vater hat vor allem die Rolle, seine Familie vor dem Bösen in der Welt zu schützen.

Kommt daher auch das Argument der Republikaner, der Staat dürfe keine Schulden machen, weil eine gute Familie auch nicht über ihre Verhältnisse lebe?

Genau. Im linkspolitischen Spektrum sehen wir dagegen, dass hier Werte einer idealisierten fürsorglichen Familie angenommen werden. Hier reden wir über eine Familie, die durch Empathie und Kooperation gesteuert ist, in der es einen offenen Dialog gibt und Eltern und Kinder einander mit Respekt begegnen. Beide Familienmodelle werden - oft unbewusst - auf die Politik übertragen und strukturieren die allgemeine Wertehaltungen.

Wie lange dauert es, neue Begriffe im öffentlichen Diskurs zu verankern?

Neue Denkformen in eine Debatte einzuführen, ist ein langer Prozess, der nicht über Nacht gelingt. Die Sprache, die in der Öffentlichkeit benutzt wird, beeinflusst, was für den Amerikaner als normal gilt. Allerdings zeigt der erste Wahlkampf von Barack Obama, dass es nicht Jahre dauern muss, etwas zu ändern. Obama hat es 2008 in kurzer Zeit geschafft, den Bürgern nahe zu bringen, auf Basis des Ein- und Mitfühlens zu handeln. Viele Amerikaner leben in ihrem Dorf, in ihrer Kirchengemeinde oder ihrem Stadtviertel im Sinne progressive Werte, doch es wurde ihnen selten angeboten, diese Werte auf die Nation zu übertragen. Obama hat das gemacht und konnte den Wählern so relativ schnell deutlich machen, wo er moralisch herkommt und was er vorhat.

Lässt sich mit der Moral erklären, weshalb Romneys Bemerkung, 47 Prozent der Amerikaner würden sich als Opfer sehen, kaum Änderung in den Umfragen gebracht hat?

Als das Video veröffentlicht wurde, hat es auch in den US-Medien einen kurzen Aufschrei der Empörung gegeben. Ich habe es stets für eine Fehleinschätzung gehalten, als Experten sagten, nun hätten die Demokraten den Wahlsieg in der Tasche. In der Politik funktioniert eines besonders gut und das ist Authentizität. Wenn jemand als Volksvertreter antritt und besonders authentisch wirkt, dann kann der Wähler davon ausgehen, dass die Werte, über die er spricht, auch sein Handeln prägen werden. Romney, der als Flip-flopper gilt, hat sich also einen großen Authentizitätsbonus erkauft, denn die Programme, die er vorschlägt, sind nicht weit entfernt von dem, was er hinter verschlossenen Türen gesagt hat .

Aber mit seiner Aussage hat er doch fast jeden zweiten Mitbürger beleidigt.

Das sehen die Europäer so. Die Äußerungen gefallen aber vielen Amerikanern, die genauso denken wie Romney. Leute aus jeder Bildungs- und Einkommensschicht sind überzeugt, dass jeder Amerikaner für sich selbst verantwortlich ist und die Faulen nicht genug Anreiz haben, Stärke zu entwickeln. Sie denken, dass sich die Regierung den Faulen mit Sozialprogrammen in den Weg stellt und sie so schwach hält. Die Idee von der Regierung als Feind des Individuums ist sehr verbreitet. Viele ärmere Leute stimmen für die Republikaner, weil sie deren Moral teilen, dabei würden sie womöglich von höheren Steuersätzen für Reiche profitieren. Ich glaube, dass Romneys 47-Prozent-Aussage ihm mehr Wähler zuspielt als dass sie potentielle Wähler abschreckt.

"Obama muss aus seiner Defensivhaltung herauskommen"

Mal ehrlich, Frau Wehling: Ist das nicht frustrierend, dass Argumente und Fakten kaum eine Rolle in der Politik spielen?

Ich habe zunächst auch so gedacht, aber die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bedeuten nicht, dass man in der Politik auf Fakten verzichten soll. Es geht darum, dass politische oder wirtschaftliche Fakten nie ohne Interpretation diskutiert werden. Es ist unrealistisch, politische Sprache komplett frei von Wertemustern zu halten. Wie wollen Sie Mitbürger überzeugen, wenn sie diesen nicht klar machen, auf welcher Wertehaltung Ihre Überzeugung basiert? Ich finde es unaufrichtig und undemokratisch, wenn Politiker keine ehrliche und klare Sprache für ihre Werte nutzen, denn die Wähler sollen ja wissen, mit wem sie es zu tun haben.

Wenn Sie Obama drei Tipps für die beiden TV-Debatten geben könnten, welche wären dies?

Obama muss aus seiner Defensivhaltung herauskommen. Das ist eine Grundwahrheit der politischen Kommunikation: Wer den Gegner bestimmen lässt, was debattiert wird und dann innerhalb des vom Gegner gesetzten Deutungsrahmen argumentiert, kommt nie gegen dessen Weltsicht an. Außerdem muss Obama seine Werte klarer benennen. Bevor er also über Steuern und Krankenfürsorge spricht, muss er sagen, was die Funktion von Steuern in diesem Land ist und weshalb sich die Amerikaner gemeinschaftlich organisieren sollten, bevor er die richtigen und wichtigen Fakten nennt. Als dritten Punkt würde ich nennen: Er muss sich wieder als Führungsfigur etablieren.

Die Rolle hat ihm Mitt Romney in Denver streitig gemacht.

Das stimmt. Jim Lehrer hat als Moderator die Kontrolle abgegeben und Romney hat sie übernommen. Der Republikaner hat nicht nur Inhalte debattiert, sondern hat auf der Meta-Ebene entschieden, worüber geredet wurde und bestimmt, wer wie lang spricht. Romney hat in einer Situation der Unsicherheit die Führung übernommen, während Obama sehr schwach wirkte. Er hat sich als Staatsmann und Präsident der Vereinigten Staaten nicht bewiesen.

Linktipp: Im Little Blue Blog gibt es weitere Informationen über die Forschung von Elisabeth Wehling und George Lakoff sowie aktuelle Kommentare zum Präsidentschaftswahlkampf 2012.

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