Jacob Hacker über soziale Ungleichheit:"Kein Land verwöhnt Millionäre mehr als die USA"

Jacob Hacker über soziale Ungleichheit: Wo Millionäre glücklich sind: Ein "Limited Edition Rolls-Royce Phantom" auf dem Rodeo Drive in Beverly Hills.

Wo Millionäre glücklich sind: Ein "Limited Edition Rolls-Royce Phantom" auf dem Rodeo Drive in Beverly Hills.

(Foto: AFP)

Der "American Dream" ist in Gefahr: Für die US-Mittelschicht wird der soziale Aufstieg immer schwieriger, während eine kleine Schicht profitiert. Jacob Hacker von der Yale-Universität erklärt im Interview, wieso die Interessen der Normalbürger von der US-Politik ignoriert werden - und wieso er trotzdem optimistisch bleibt.

Von Matthias Kolb, New Haven

Jacob Hacker ist Professor für Politikwissenschaft an der Elite-Universität Yale in New Haven. Der 1971 geborene Amerikaner meldet sich in zahlreichen Medien als kluger Kommentator des Zeitgeschehens zu Wort. In seinem hochgelobten, 2010 mit Paul Pierson veröffentlichten Buch "Winner-Takes-All-Politics", belegt Hacker mit vielen Daten, dass die Politiker in Washington einen großen Anteil daran haben, dass die Einkommen in den USA in den vergangenen dreißig Jahren von unten nach oben verteilt wurden. Mit mehreren Kollegen erstellt Hacker den Economic Security Index: Dieser zeigt wie sich die Verteilung von Einkommen in den USA in den letzten 25 Jahren verändert hat.

SZ.de: Professor Hacker, im Präsidentschaftswahlkampf haben Barack Obama und Mitt Romney stets die Chance vom Aufstieg durch Fleiß und Talent beschworen. Wie geht es dem American Dream?

Jacob Hacker: Ich fürchte, dass die Menschen seit einer Generation das Gefühl haben, dass diese Idee verloren geht. Der Begriff definierte in den 1930ern Amerika als Land, in dem das Leben für jeden besser, reicher und vollwertiger sei. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 70er Jahre gab es diesen Gesellschaftsvertrag: Wenn du hart arbeitest und für deine Familie sorgst, wirst du ein gutes Leben in der Mittelschicht führen, in dem dich dein Arbeitgeber absichert. Deinen Kindern wird es besser gehen als dir, wenn du in ihre Bildung investiert und sie fleißig lernen.

Davon ist heutzutage nicht mehr viel zu spüren.

Nein. Die Mittelklasse muss seit etwa 15 Jahren miterleben, dass ihre Löhne stagnieren, während die Kosten für Wohnraum und Hochschulbildung dramatisch steigen. Immer mehr Amerikaner geben in Umfragen an, dass sich das Land in die falsche Richtung bewegt. Seit einem Jahrzehnt belegen Studien, dass die soziale Ungleichheit in den USA rascher wächst als in anderswo und hierzulande nur eine sehr kleine Schicht vom Wachstum profitiert. Bestürzend finde ich Daten der OECD, wonach die Chancen für junge Amerikaner, ein erfolgreicheres Leben als ihre Eltern zu führen, deutlich geringer sind als in Westeuropa.

Was schockiert Sie daran?

In den USA waren die Leute stets eher bereit als in Europa, Ungleichheit zu akzeptieren, doch dies basierte auf der Überzeugung, dass Amerika auch mehr Chancen biete. Und immer mehr Bürger fürchten, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgeht und sich die wirtschaftliche Ungleichheit auch auf die Politik überträgt. Wenn Demoskopen fragen, ob normale Amerikaner in der Politik Gehör finden, dann verneint dies eine Mehrheit. Zugleich fühlen sie, dass Banken, Großunternehmen und andere finanzkräftige Interessengruppen sehr großen Einfluss haben.

Sie argumentieren in ihrem Buch, das Sie mit Paul Pierson geschrieben haben, dass die Politik in Washington mitverantwortlich für die Ungleichheit ist.

In den Siebzigern begannen Amerikas Konzerne, in Lobbyarbeit zu investieren. Sie haben eigene Denkfabriken aufgebaut, um das öffentliche Meinungsklima zu verändern. Sie waren so erfolgreich, dass Republikaner wie Demokraten gleichermaßen Deregulierung und Steuersenkungen unterstützen. Heute gibt es in Washington ein riesiges Ungleichgewicht zwischen jenen Gruppen, die sich mit hohen Summen Gehör verschaffen können und jenen, denen das Geld fehlt.

Aber die Politiker müssten doch auf die Interessen der Mittelklasse achten. Multimillionäre haben auch nur eine Stimme bei der Wahl - und für Mehrheiten braucht es die breite Masse.

Natürlich ist das Stimmrecht die am gerechtesten verteilte Einflussmöglichkeit. Doch um Wähler zu organisieren, braucht es Geld - und das ist immer ungleicher verteilt. In Amerika fließen enorme Summen in den Lobbyismus, es gibt eine regelrechte Einflussindustrie aus Beratern und Juristen. Anfang der Neunziger wurden 300 Millionen Dollar für Lobbyismus ausgegeben. 2009 waren es drei bis vier Milliarden Dollar. Dabei erfassen die offiziellen Zahlen nicht, was Milliardäre wie die Koch-Brüder investieren, um Kandidaten zu unterstützen, die ihre konservativen Werte teilen.

Auch die Wahlkämpfe werden immer teuer: 2012 haben sowohl Obama als auch Romney mehr als eine Milliarde eingeworben und dann wieder ausgegeben.

Unsere Politiker verbringen zu viel Zeit damit, Gelder für ihre Wiederwahl einzusammeln. Dies bietet Lobbyisten genug Möglichkeiten, für die Anliegen ihrer Klientel zu werben. Ein wichtiger Faktor dafür ist das Drehtür-Phänomen: Viele Abgeordnete, deren Mitarbeiter sowie Regierungsbeamte heuern nach ihrer Abwahl oder nach einigen Jahren bei den Lobbyfirmen an. Davon profitieren beide: Die Firmen erhalten die Expertise sowie das persönliche Netzwerk der Politiker, während diese einen gut dotierten Job bekommen. General Electric leistet sich einen Stall an Ex-Regierungsmitarbeitern, die ihnen bei ihrer Steuerstrategie hilft - und zahlt deshalb zum Beispiel keine Einkommensteuer in Amerika.

"Wir Bürger müssen uns Gehör verschaffen"

Wo sind die Folgen dieses ständigen Werbens für mehr Deregulierung und weniger Staatseinfluss denn am deutlichsten sichtbar?

Eindeutig im Steuersystem. Kein Land verwöhnt Millionäre mehr als die USA. Unter den Industrieländern ist Amerika eine Ausnahme: Die Steuersätze für die Reichen sind gesunken, obwohl deren Einnahmen stark gestiegen sind. Wir hatten früher ein sehr progressives Steuersystem. Die Superreichen mussten mehr zahlen als die Wohlhabenden. Heute ist das anders: Die Steuerbehörde IRS hat berechnet, dass die 400 reichsten Amerikaner in den Neunzigern im Schnitt 30 Prozent Einkommensteuer bezahlt haben - 2007 lag der Wert bei 16,5 Prozent. Von Mitt Romney wissen wir, dass er 14 Prozent zahlt. Was bedeutet dies konkret? Jeder der 400 reichsten Steuerzahler behielt 2007 stolze 46 Millionen Dollar für sich. Hier geht es also nicht um Kleingeld.

Was hätte der Staat dagegen tun können?

Wir sind bei unseren Recherchen zu der Überzeugung gekommen, dass es auch eine große Rolle spielt, was die Politiker nicht machen. In vielen Feldern ist es Washington nicht gelungen, sich den neuen Realitäten anzupassen. Die Unternehmen haben eine neue Industriepolitik durchgesetzt, die die Mitsprache der Gewerkschaften massiv begrenzt hat. Damit ist deren Möglichkeit, für die Mittelschicht zu kämpfen, verloren gegangen. Die Finanzmärkte wurden dereguliert, aber die Aufsicht war unzureichend. Und auch die Exzesse bei den Gehältern in den Vorstandsetagen - nirgends hat die Regierung wirksam gehandelt.

Welche Gründe gibt es für dieses Nicht-Handeln oder Zu-spät-kommen der Politiker?

Ein wichtiger Faktor ist die Polarisierung zwischen Republikanern und Demokraten, die Kompromisse so schwierig macht. Der Haushaltsstreit hat das gerade aller Welt eindrucksvoll gezeigt. Viele Abgeordnete fürchten bei den Vorwahlen weniger den Kandidaten der anderen Partei als einen ideologisch klareren Herausforderer aus den eigenen Reihen. Hinzu kommt der sogenannte Filibuster, der im Senat zur Routine geworden ist. Das bedeutet, dass bei allen Gesetzen, abgesehen vom Haushalt, eine 60-Prozent-Mehrheit nötig ist - und jeder einzelne Senator Abstimmungen hinauszögern kann. Das lähmt die Produktivität ungemein und so profitieren die gut organisierten Gruppen oder Industrien, die gerade die bestehende, für sie günstige Rechtslage ausnutzen.

Sie stellen ein Argument in Frage, das von konservativen Politikern und Meinungsführer gern vorgebracht wird: Die Märkte seien ein vor-politischer beziehungsweise ein unpolitischer Raum.

Uns Bürgern wurde oft erzählt, dass die Globalisierung und die technische Revolution der letzten Jahrzehnte für die Ungleichheit verantwortlich sind. Dem entgegne ich: Es ist nicht so, dass jenes Fünftel der Bevölkerung profitiert, das die Unis verlassen hat und gut ausgebildet ist. Die Gewinne gehen an eine sehr viel kleinere Gruppe. Natürlich wurden durch die Globalisierung neue Märkte erschlossen, aber ohne die Politik wäre es für Banken und Großunternehmen unmöglich gewesen, die Risiken weiterzugeben und die Gewinne zu behalten. Auch in anderen westlichen Ländern werden Industriejobs abgebaut, doch die Spreizung ist nirgends so stark wie in den USA. In Kanada, Großbritannien und Australien nimmt die soziale Ungleichheit zu, doch in Europa, gerade in Skandinavien, sind die Änderungen gering. Das zeigt, wie viel Einfluss Regierungen haben.

Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der sozialen Ungleichheit in Amerika und obwohl das Phänomen wissenschaftlich bestätigt ist, ändert sich kaum etwas. Ist dies nicht frustrierend?

Manchmal, aber ich habe insgesamt nicht das Gefühl, dass die Arbeit umsonst ist. Wir Bürger müssen uns Gehör verschaffen, damit die Interessen der breiten Masse berücksichtigt und die langfristigen Probleme gelöst werden. Ich erinnere mich oft an die Progressives zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch damals war eine kleine Gruppe sehr reich, doch die Reformer ließen nicht locker - später wurde etwa das Frauenwahlrecht eingeführt und flächendeckend ein Abwassersystem geschaffen, wodurch das Leben für viele besser wurde. Wir dürfen nicht vergessen, wie viel Wohlstand seither durch die Kombination einer effektiven Regierung mit einer innovativen Privatwirtschaft geschaffen wurde. Umso wichtiger ist es, dies zu verteidigen.

Welche Folgen hätte es, wenn die soziale Ungleichheit in den USA weiter zunimmt?

Wir haben noch immer eine starke Wirtschaft und werden in vielen Bereichen als Innovationsführer angesehen. Dennoch fallen wir in Bereichen zurück, die von einer guten Ökonomie profitieren sollten. Es gibt erschreckend viel Armut hierzulande, die Lebenserwartung sinkt, was an der Fettleibigkeit liegt, die wir nicht effektiv bekämpfen. Die Infrastruktur bröckelt und wir investieren zu wenig in die Zukunftsfähigkeit des Landes. Wir essen die Saatkörner auf anstatt sie auszusäen.

Linktipps: In einem Interview mit Süddeutsche.de erklärt die Autorin Chrystia Freeland, wie Amerikas Superreiche ticken und weshalb viele US-Präsident Obama als Bedrohung empfinden. Aufschlussreich ist auch der Artikel des Politologen Jeffrey Winters über Amerikas Oligarchen.

Jacob Hacker

Jacob Hacker ist Professor für Politikwissenschaft an der Elite-Universität Yale in New Haven.

(Foto: oh/Yale University)
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