Italien nach der Wahl:Von wegen unregierbar!

Menschen bei einer Kundgebung von Beppe Grillo auf dem Mailänder Domplatz

Beppe Grillo bei einer Kundgebung vor dem Mailänder Dom. Mit der linken Demokratischen Partei könnte er viele Übereinstimmungspunkte haben.

(Foto: Reuters)

In Italien hat nicht die Unregierbarkeit gesiegt, sondern der Wunsch nach etwas Neuem. Bersanis PD und Beppe Grillos Protestbündnis dürften in manchen Punkten sogar mehr Gemeinsamkeiten haben als viele glauben. Das dürften die Märkte schätzen. Sie sollten das italienische Wahlergebnis feiern.

Ein Gastbeitrag von Mario Fortunato

Zugegeben: Ich bin nicht gerade die geeignete Person, um über Ökonomie, Markt und Finanzen zu sprechen. Mein Metier als Schriftsteller verträgt sich kaum mit Geldangelegenheiten. Schon die Lateiner, von denen ich abstamme, stellten ohne Umschweife fest: "Carmina non dant panem", was in der Praxis bedeutet: Willst du reich werden, beschäftige dich nicht mit Literatur." Trotz dieser ontologischen Inkompetenz: Mir ist es unverständlich, warum die europäischen Börsen auf das Ergebnis der italienischen Wahlen mit einer Talfahrt reagiert haben.

Ich habe die vergangenen zehn Jahre meist in London und Berlin verbracht - auch wegen der exzentrischen Mussolini-Nostalgie, die mein Land ergriffen zu haben schien. Ich glaubte verstanden zu haben, dass das schlimmste Schreckgespenst für die internationalen Märkte verkörpert sei in der spektakulären Gestalt und vor allem durch das - nennen wir es fragwürdige - Handeln des Abgeordneten Berlusconi. Nicht dass mich das erfreut hätte. Mein Vaterlandsstolz war zutiefst erschüttert. Ich musste jedoch erkennen, dass das Misstrauen der europäischen Börse gegenüber dem Mann und seinen aufgeblasenen Attitüden im Grunde nichts anderes war als die Objektivierung meiner persönlichen Abneigung. Kurz und gut: Obwohl ich als Schriftsteller Angehöriger einer per definitionem belanglosen Kaste bin, befand ich mich - jedenfalls hier - in Übereinstimmung mit der Londoner und Frankfurter Börse und mit der Mehrheit der Regierungen der Europäischen Union.

Daher stammt meine heutige Verwirrung. Nach dieser italienischen Parlamentswahl ist es sicher, dass der Abgeordnete Berlusconi nicht mehr Premierminister in Rom sein wird. Ist das wenig, nach seiner 18-jährigen fast ununterbrochenen Regierungsmacht? Ich hätte erwartet, dass bei dieser Nachricht die Börsen in London und Frankfurt voller Begeisterung eröffnen, dass fast alle europäischen Regierungen in feierliche politische Versammlungen einberufen würden. Mit etwas Phantasie hätte ich mir sogar nächtliche Gesänge und Tänze vorgestellt, das Knallen von Champagnerkorken in der Freude, dem Unheil entkommen zu sein, in Erinnerung an die erstaunlichen Streiche des Cavaliere. Nichts dergleichen ist geschehen. Die europäischen Börsen reagierten negativ. Das zeugt von schwachem Gedächtnis, vor allem aber von besorgniserregender Ignoranz gegenüber den italienischen Angelegenheiten.

Zunächst, vielleicht angesteckt von der schlichten Ausdrucksweise der Führungsschicht des Belpaese, hat man den Riesenerfolg des Movimento 5 Stelle (M5S), angeführt von Beppe Grillo, in den Bereich der sogenannten Antipolitik verbannt. Diese Einschätzung ist schon deshalb unsinnig, da jede neue Bewegung wesentlich "anti" ist, sich also gegen die vorhergehende Politik richtet. Grillo ist kein Teufel, die Verwendung solcher Begriffe sollte man lieber dem Vatikan überlassen.

Grillo gibt jungen Leuten Hoffnung

In der Bewegung M5S versammelt sich die breite Front jener, die Schluss machen wollen mit der antidemokratischen Verkommenheit, die Berlusconi in fast 20 Jahren verursacht hat - ein Zyklus, innerhalb dessen meine Landsleute offensichtlich ihre politischen Leidenschaften auszuleben pflegen. Es handelt sich um eine Bewegung aus bürgerlichen, anständigen Menschen, sie ist naiv, wie das nur zivile, anständige Menschen sein können, politische Vandalen in der Regel nicht. Sie hat der Generation der 30-Jährigen, die bisher in der Gesellschaft kein authentisches Bürgerrecht besaß, eine Stimme gegeben.

Als ich, gerade dem Knabenalter entwachsen, aus Kalabrien, der ärmsten Region Italiens, in Rom ankam, um dort zu studieren und zu arbeiten, fühlte ich mich niemals ausgeschlossen, obwohl meine Familie weder betucht noch einflussreich war. Nach dem Studienabschluss und der Promotion in Philosophie konnte ich mich für eine zu mir passende Beschäftigung entscheiden. Diese Entscheidung führte konsequenterweise zu meinem jetzigen katastrophalen Kontostand - und trotzdem gehöre ich zu der Generation, die eine Chance hatte, im Fahrstuhl des Wohlfahrtsstaates gesellschaftlich aufzusteigen.

Freude statt Depression

In den vergangenen 20 Jahren ist dieses Modell zerbrochen. Wer heute in eine arme Familie hineingeboren wird, hat kaum Aussicht auf Arbeit und angemessenes Auskommen. Die italienischen jungen Leute, die in Berlin nun zuhauf aufkreuzen auf der Suche nach Arbeit, liefern den Beweis dafür. Dieser Generation hat die Bewegung von Grillo etwas Hoffnung zurückgegeben. Für die europäischen Märkte müsste dies Anlass zur Freude sein, anstatt in Depression zu verfallen.

Die Medien aber melden: In Italien hat die Unregierbarkeit gesiegt. Liebe denkfaule Journalisten-Freunde - könnte es nicht passieren, dass die Leser euch bald ignorieren, wenn ihr weiter Klischees verbreitet? Ja, es gibt nun keine vorgefasste Mehrheit. Trotzdem ist es leicht, sich vorzustellen, dass die linke Demokratische Partei (PD) viele Übereinstimmungspunkte mit der Grillo-Bewegung finden kann - in der Frage der Bürgerrechte zum Beispiel. Das kann man in hohem Maße befürworten. Es wird Aufgabe der PD sein, mit politischer Intelligenz und Ehrlichkeit die typische Extremlogik der Wahlkampagne aufzugeben und sich auf einen neuen Gesprächspartner einzulassen, der nicht aufhört zu verkünden, Garant von Demokratie, Korrektheit und Transparenz sein zu wollen.

Warum dann, aus Vorurteil, von Unregierbarkeit sprechen? In jenen Jahren, in denen es in Deutschland weder für ein SPD-geführtes Bündnis noch für eine Koalition unter der CDU eine parlamentarische Mehrheit gab, wussten die deutschen Politiker trotzdem eine Regierung zu bilden. Es gelang ihnen, Interessengegensätze zu überwinden, die im Wahlkampf noch als unüberwindbar erschienen. Und ich glaube sagen zu können, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den Grillo-Wählern und der PD-Basis stärker ausgeprägt sind als die zwischen CDU- und SPD-Wählern in Deutschland.

In Italien hat nicht die Unregierbarkeit gesiegt, sondern der Wunsch nach etwas Neuem. Das dürften doch die Märkte schätzen. Oder täusche ich mich?

Der Schriftsteller Mario Fortunato, 54, ("Unschuldige Tage im Krieg") leitete das italienische Kulturinstitut in London - dort wollte ihn Silvio Berlusconi 2002 entlassen; internationale Proteste verhinderten dies.

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