Orhan Pamuks Erinnerungen an den Taksim-Platz:Istanbuls letzte Kastanie

Nobelpreisträger Orhan Pamuk

Als erster türkischer Schriftsteller erhielt Orhan Pamuk 2006 den Nobelpreis für Literatur.

(Foto: dpa)

Als Kind erlebte ich den Kampf meiner Familie um eine alte Kastanie in unserer Straße. In meiner Jugend verfolgte ich dann mit Freude politische Kundgebungen auf dem Taksim-Platz. Diesen Ort tiefgreifenden Veränderungen zu unterwerfen, war ein grober Fehler der Regierung Erdogan. Hoffnung gibt es dennoch.

Ein Gastbeitrag von Orhan Pamuk

Um die Bedeutung der Ereignisse in Istanbul zu erläutern, und um zu erklären, warum tapfere Menschen auf die Straßen gehen, wo sie gegen die Polizei kämpfen und giftiges Tränengas atmen müssen, möchte ich mit einer persönlichen Geschichte beginnen. In meinem Erinnerungsbuch "Istanbul" habe ich beschrieben, wie meine ganze Familie in den Wohnungen eines einzelnen Hauses lebte, in den Pamuk Apartments im Stadtteil Nişantaşı. Gegenüber diesem Haus steht eine damals vielleicht fünfzig Jahre alte Kastanie. Es gibt sie glücklicherweise immer noch. Im Jahr 1957 beschloss aber die Stadtverwaltung, die Straße zu erweitern und diesen Baum zu fällen. Anmaßende Bürokraten und selbstgefällige Kommunalpolitiker ignorierten den Widerstand der Nachbarschaft.

An dem Tag, an dem der Baum hätte gefällt werden sollen, gingen mein Onkel, mein Vater und die ganze Familie hinunter auf die Straße. Den ganzen Tag und die ganze Nacht verbrachten sie abwechselnd als Wache am Baum. So schützten wir nicht nur den Baum, sondern schufen auch eine gemeinsame Erinnerung, die jeder in der Familie gerne beschwört und die uns alle miteinander verbindet.

In diesen Tagen ist der Taksim-Platz die Kastanie von Istanbul, und so sollte es bleiben. Ich habe jetzt sechzig Jahre in Istanbul gelebt und kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden in dieser Stadt gibt, der nicht eine Erinnerung hätte, die ihn irgendwie mit dem Taksim-Platz verbindet. In den Dreißigerjahren bargen die alten Kasernen der Artillerie, die jetzt in eine Shopping Mall verwandelt werden sollen, ein kleines Fußballstadion, in dem Liga-Spiele ausgetragen wurden. Das berühmte "Taksim Gasino", das in den Vierziger- und Fünfzigerjahren das Zentrum des Nachtlebens von Istanbul war, stand in einer Ecke des Gezi-Parks. Später, nachdem diese Gebäude abgerissen worden waren, wurden Bäume gefällt, neue Bäume gepflanzt, und es entstanden dort eine Reihe von Geschäften und Istanbuls berühmteste Kunstgalerie.

Neugier und Freude

In den Fünfzigerjahren träumte ich davon, ein Maler zu werden und meine Werke in dieser Galerie auszustellen. In den Siebzigerjahren beherbergte der Platz die Büros der linken Gewerkschaften. Sie und mehrere andere staatskritische Organisationen veranstalteten dort die Feiern zum Tag der Arbeit, und während einiger Jahre nahm ich an diesen Feiern teil (1977 wurden nach einem Ausbruch provozierter Gewalt zweiundvierzig Menschen bei diesen Feiern getötet). In meiner Jugend verfolgte ich mit Neugier und Freude, wie politische Gruppen aller Art - die Parteien der Rechten und der Linken, Nationalisten, Konservative, Sozialisten - ihre Kundgebungen auf dem Platz abhielten.

In diesem Jahr untersagte die Regierung die Feiern zum Tag der Arbeit auf dem Taksim-Platz. Wenn es heißt, dass die alten Kasernen wiedererrichtet werden sollen, weiß jeder in Istanbul, dass an diesem Ort nur eine weitere der üblichen Malls errichtet und dafür der letzte grüne Fleck in der Innenstadt geopfert werden wird. Die Entscheidung, dass Platz und Park - Orte der Erinnerung für viele Millionen Menschen - tief greifenden Veränderungen unterworfen werden sollten, ohne dass zuvor die Menschen von Istanbul gefragt worden wären, war ein grober Fehler der Regierung Erdogan. Ihr rücksichtsloses Verhalten spiegelt ihre wachsende Neigung zur autoritären Herrschaft. Doch es erfüllt mich mit Hoffnung und Vertrauen, wenn ich sehe, dass die Menschen von Istanbul weder auf ihr Recht, politische Demonstrationen auf dem Taksim-Platz abzuhalten, noch auf ihre Erinnerung verzichten. Stattdessen beginnen sie einen Kampf.

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