Fall Mollath:Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren

Der Fall des Gustl Ferdinand Mollath spielt in den Dunkelkammern des Rechts. Er gilt als ein Exempel für richterliche Ignoranz und schludrige Voreingenommenheit von psychiatrischen Gutachtern. Der Fall beschädigt das Grundvertrauen in den Staat und ruft nach grundlegenden Reformen; denn er ist ein tragisches Beispiel für eine generelle Malaise.

Von Heribert Prantl

Auf dem Schild am Eingang zu den Dunkelkammern des Rechts steht ein Paragraf - der Paragraf 63 Strafgesetzbuch. In der juristischen Ausbildung führt dieser Paragraf nur ein Schattendasein; und in den Kommentarbüchern für die Praktiker wird er eher mit der linken Hand abgehandelt. Die Juristen halten diesen Paragrafen für psychiatrischen Kram, die Psychiater halten ihn für juristisches Zeug. Nach diesem Paragrafen 63 wurde Gustl Ferdinand Mollath verurteilt, dieser Paragraf hat ihn in die Psychiatrie gebracht, dieser Paragraf hält ihn dort fest. Nennen wir ihn den Mollath-Paragrafen, weil der Fall des Gustl Mollath die Schwächen dieses Paragrafen und dessen extreme Verbiegbarkeit offenbart.

Schon lange hat kein Gerichtsfall die Menschen so empört wie der des Gustl Mollath: Zu keinem anderen Gerichtsfall hat die Redaktion dieser Zeitung je so viele aufgebrachte Zuschriften erhalten: Fast jeden Tag neue Mails, neue Briefe, neue Klagen mit angeblichen weiteren Beispielen für ein Versagen der Justiz. Der Fall Mollath gilt vielen Kritikern als Exempel für richterliche Ignoranz und als Beispiel für schludrige Gleichgültigkeit von Gutachtern. Viele Schreiber präsentieren ihre eigenen Erfahrungen. Sie klagen, oft mit bewegenden, oft mit verworrenen Schilderungen, über das, was ihnen selbst, ihren Verwandten oder Bekannten widerfahren sei.

Man kann solche Schreiben als querulatorisch abtun - so wie Gustl Mollaths Strafanzeigen, die von Geldwäsche handelten, einst als querulatorisch abgetan wurden (bis sie sich dann als im Kern richtig herausstellten). Man sollte das nicht tun. Viele Menschen verstehen nicht, wie die Einweisung in die Psychiatrie funktioniert. Sie trauen den Gesetzen nicht, die die Einweisung regeln; und sie trauen den Gutachtern und den Richtern nicht, die diese Einweisung exekutieren. Die Einweisung erscheint ihnen als ein Damoklesschwert, das in angespannten Lebenssituationen über ihnen schwebt, das dann herunterfällt und ihr weiteres Leben zerstört. Das mag in vielen Fällen nicht stimmen; in nicht wenigen Fällen stimmt es. Der Fall Mollath ist so ein Fall.

"Paranoides Wahnsystem"

Gustl Ferdinand Mollath wurde von der 7. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg unter Leitung des Vorsitzenden Richters Otto Brixner am 8. August 2006 nach einem unglaublich schlampigen Verfahren in einem unglaublich schlampigen Urteil unter Berufung auf den unglaublich dehnbaren Paragrafen 63 Strafgesetzbuch abgeurteilt und dann in die Psychiatrie verbracht. Dort sitzt er bis heute. Wenn man sein Urteil über den gesamten Strafprozess gegen Mollath vorsichtig formulieren will, dann lautet es so: Dieser Prozess verstieß von Anfang bis Ende gegen Fundamentalregeln des Strafrechts. Es wurden Beweisstücke nicht sichergestellt und nicht begutachtet, es wurde eine unechte Urkunde verlesen und zur Grundlage des Urteils gemacht; auf der Basis unzutreffender Anschuldigungen wurde Mollath ein "paranoides Wahnsystem" attestiert.

In höchst seltener Eintracht haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung daher die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten von Mollath beantragt. Das Landgericht Regensburg hat darüber unverständlicherweise noch immer nicht entschieden. Was muss eigentlich noch passieren, bis etwas passiert? Am morgigen Dienstag wird Gustl Mollath vom Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags angehört. Der Mann hat nach sieben Jahren zweieinhalb Stunden lang Gelegenheit, einem neutralen Gremium darzulegen, was ihm widerfahren ist.

Ein juristisch notwendiger Witz

Dem bis zum Einweisungsurteil in die Psychiatrie nicht vorbestraften Gustl Mollath ist der Paragraf 63 Strafgesetzbuch, der für die gute Behandlung eines kranken Straftäters und für den guten Schutz der Öffentlichkeit vor ihm gleichermaßen sorgen soll, in seiner schlechtesten Form begegnet. Urteile, die einen Angeklagten in die Psychiatrie verfrachten, haben einen neckisch-grausamen Tenor. Sie beginnen mit dem wunderbaren Satz: "Der Angeklagte wird freigesprochen." Dieser Freispruch ist allerdings im Lichte dessen, was dann folgt, ein Witz - ein juristisch notwendiger Witz freilich. Der Angeklagte wird für die Straftaten (auch für die, die das Gericht für erwiesen erachtet) freigesprochen, weil er aufgrund seiner psychischen Krankheit als schuldunfähig gilt. Und dann folgt wegen der im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Taten und der daraus angeblich folgenden Gefährlichkeit der Hammer, das dicke Ende, das oft schlimmer und länger ist, als jede Strafe es wäre. Satz zwei des Urteils lautet: "Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet" - gemäß Paragraf 63 Strafgesetzbuch.

So mancher Insasse in der Psychiatrie wäre, hätte man ihn zu einer normalen Haftstrafe verurteilt, längst wieder auf freiem Fuß. Mollath auch. Gustl Mollath ist in die Psychiatrie geschickt worden, weil er seine damalige Ehefrau, so hat sie es als Belastungszeugin behauptet, gewürgt habe. Dort sitzt er nun seit sieben Jahren. In Justizkreisen heißt es sarkastisch: Hätte er seine Frau erstochen und wäre er deswegen zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden - er wäre, gute Führung unterstellt, schon wieder frei. Aber: Einen gefährlichen psychischen Kranken kann man nicht einfach entlassen, das ist schon verständlich. Nicht verständlich aber ist, mit welcher Laxheit "paranoide Wahnsysteme" attestiert und Gefährlichkeitsprognosen erstellt werden.

Das Besondere und auch das besonders Tragische am Fall Mollath ist erstens, dass ihm die (nicht besonders schweren) Straftaten, die man ihm vorgeworfen und die das Gericht als bewiesen angenommen hat - das Würgen der Ehefrau und das Zerstechen der Autoreifen von deren Bekannten - nicht wirklich nachgewiesen wurden. Bei dem ärztlichen Attest, auf dem die Verletzungen der Ehefrau beschrieben sind und auf das sich das Urteil stützt, handelt es sich um eine unechte Urkunde; sie wurde, ohne dass das aus dem Attest ersichtlich wäre, nicht von der Ärztin, auf die sich das verurteilende Gericht bezogen hat, sondern von ihrem Sohn ausgestellt. Und die Reifen, die Mollath angeblich zerstochen hat, wurden nie asserviert und nie von einem Gutachter untersucht. Das ist das eine. Das andere ist, dass das paranoide Wahnsystem, das man ihm angedichtet hat, in der attestierten Form nie existierte. Die wichtigsten der angeblich wahnhaften Ideen, auf die sich Gutachter und Richter beriefen, haben sich als reale Fakten herausgestellt: Die Exfrau war tatsächlich in illegale Geldgeschäfte verwickelt. Das weckt größte Zweifel an der Sorgfalt der Einweisung in die Psychiatrie und an den ihr zugrunde liegenden Gutachten. Die Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens stützen diese Zweifel mit Fakten.

Der Fall Mollath ist nicht nur ein tragischer Einzelfall. Er ist ein tragisches Exempel für eine generelle Malaise. Vor zehn Jahren erschien in der juristischen Zeitschrift Strafverteidiger ein Aufsatz von vier Wissenschaftlern, der sich mit der Unterbringung von Beschuldigten in der Psychiatrie gemäß Paragraf 63 Strafgesetzbuch befasst - und mit der Frage, wie man dort wieder herauskommt: "Wegweiser aus dem Maßregelvollzug" heißt der Text, der aber diesen Weg aus dem psychiatrischen Vollzug auch nicht so recht weisen kann. Der Aufsatz beginnt gleich im ersten Satz mit einer ebenso nüchternen wie erschütternden Feststellung: "Die Entscheidung darüber, wann ein gemäß Paragraf 63 untergebrachter Patient seine Freiheit wieder erhält, folgt weitgehend unbekannten Regeln." Das ist vornehm ausgedrückt. Gemeint ist, dass es nachvollziehbare und klare Regeln eigentlich gar nicht gibt. Als dieser Aufsatz geschrieben wurde, war Mollath noch gar nicht in der Psychiatrie. Aber der Fall Gustl Mollath belegt diese These auf erschütternde Weise.

Im zweiten Satz des Textes heißt es dann: Die Annahme, dass es vom Ausmaß der Gefährlichkeit des in der Psychiatrie untergebrachten Menschen abhängt, wann er wieder entlassen wird, sei schon längst widerlegt. Zitiert wird dann dazu eine bundesweite Studie, wonach die "Verweildauer" weder von der Art des begangenen Delikts noch von der diagnostischen Zuordnung abhängt - sondern vom Bundesland, in dem man in die Psychiatrie eingewiesen wird. Ein Strafverteidiger könne sich glücklich schätzen, wenn sein psychisch kranker Mandant die zu verhandelnde Straftat in Hamburg begangen habe: Dort kommt der Beschuldigte, der dann in der Psychiatrie "Patient" heißt, im Mittel nach 2,9 Jahren wieder heraus; in Schleswig-Holstein erst nach 8,6 Jahren. Die berühmte bundesweite Studie des forensischen Psychiaters Norbert Leygraf, die diese Zahlen ans Licht gebracht hat, ist zwar schon 25 Jahre alt, aber wohl nach wie vor gültig. Denn daran, dass die Regeln für die Entlassung aus der Psychiatrie "unbekannt" sind, hat sich nichts geändert.

Im Lichte dieses Falles möchte man den Paragrafen 63 Strafgesetzbuch mit einem Satz aus Dantes "Göttlicher Komödie" umschreiben, mit dem Satz, der dort am Höllentor, am Tor zum Inferno, steht: "Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate / Lasst, die ihr hier eintretet, alle Hoffnung fahren."

"Von einer misstrauischen Grundhaltung geprägt"

"Gefährlichkeit" des Patienten - das ist der Terminus, um den sich in den Gutachten, die über die Einweisung und die Dauer des Aufenthalts in der Psychiatrie entscheiden, alles dreht. Aber eine allseits anerkannte Definition dafür gibt es nicht. Dementsprechend lautet die Frage in der psychiatrischen Wissenschaft immer wieder: Wie misst man Gefährlichkeit? Interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppen haben sich auf Mindestanforderungen für sogenannte Prognosegutachten geeinigt. Der Gutachter soll sich danach an folgenden Fragen orientieren: "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die zu begutachtende Person erneut Straftaten begehen wird? Welcher Art werden diese Straftaten sein, welche Häufigkeit und welchen Schweregrad werden sie haben? Mit welchen Maßnahmen kann das Risiko zukünftiger Straftaten beherrscht oder verringert werden? Welche Umstände können das Risiko von Straftaten steigern?" Dieser Fragenkatalog stammt aus dem Jahr 2007. Mollath saß da schon ein Jahr in der Psychiatrie. Der Fragenkatalog hat nicht dazu geführt, dass über Gustl Mollath im Auftrag der Justiz fortan subtilere und substantiiertere Prognosegutachten geschrieben worden wären.

Gewiss, da gab es schon 2006, im Jahr seiner Verurteilung, eine Schwierigkeit: Mollath hat sich, weil er sich für unschuldig und seinen Strafrichter (nicht zu Unrecht) für voreingenommen und gehässig hielt, nicht von einem Psychiater untersuchen lassen. Er hat sich dem vom Gericht bestellten Gutachter verweigert, er hat sowohl eine körperliche Untersuchung als auch ein ausführliches Explorationsgespräch abgelehnt. Das ist sein gutes Recht, das gehört zu den Grundsätzen des Strafverfahrens: nemo tenetur, se ipsum accusare - niemand ist gezwungen, sich selbst zu belasten. In solchen Fällen ist es aber so, dass sich gerade aus der Weigerung, an der Untersuchung und damit am Gutachten mitzuwirken, eine Belastung ergibt: Das Gutachten wird dann nach Aktenlage erstellt, und aus diesem ist oft der Ärger des Gutachters darüber herauszulesen, dass sich der "Proband" nicht hat untersuchen lassen. Sein Denken sei, so heißt es dann kritisch, "von einer misstrauischen Grundhaltung geprägt". So war es auch bei Mollath.

Die Fakten, auf die sich die psychiatrischen Gefährlichkeitsprognosen bei Mollath gründen, stützen sich auf die Aktenlage - und die Akten sind ein einziges Kartenhaus. Im Fall Mollath folgt ein Fehler auf den und aus dem anderen.

Die Fehlerkette beginnt mit dem Richter Brixner, der, aus irrationalen Gründen, über dem bei ihm angeklagten Gustl Mollath den Stab schon gebrochen hatte, bevor er ihn verurteilte. Es ist Zeit, dass sich nicht nur ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, sondern die Justiz selbst im Wiederaufnahmeverfahren mit dieser Fehlerkette beschäftigt.

Gewaltiger Eingriff in die Existenz eines Menschen

Das ist sie Gustl Mollath, aber auch sich selbst schuldig. Auch die Einweisung ins psychiatrische Krankenhaus geschieht "Im Namen des Volkes". Daraus folgt dessen Anspruch, dass eine solche Entscheidung nicht nur gründlichst vorbereitet, sondern auch verständlich gemacht wird. Es muss sichergestellt werden, dass die Einweisung nicht zu einem mechanistischen Akt wird. Es muss sichergestellt werden, dass die Gutachten gut sind und die Richter sorgfältig.

Die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt ist keine schnelle Nummer; sie ist ein gewaltiger Eingriff in die Existenz eines Menschen. Existenzielle Eingriffe erfordern existenzielle Sorgfalt - auch vom Gesetzgeber. Der Fall Mollath ruft nach einer gründlichen Reform des Mollath-Paragrafen.

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