Syrien:Neue Dimension der Grausamkeit

Fotos und Videos aus Syrien zeigen Menschen mit blaulila Lippen, von Krämpfen geschüttelt oder mit Schaum vor dem Mund. Einiges spricht dafür, dass Regierungstruppen Giftgas eingesetzt haben, zweifelsfrei bestätigen lässt es sich noch nicht. Die Menschen in Syrien fragen sich, was noch passieren muss, bis ihnen jemand hilft.

Von Paul-Anton Krüger

Syrien: Hat Assad Giftgas eingesetzt?

Der UN-Sicherheitsrat äußert "große Besorgnis" angesichts der Geschehnisse in Syrien - was genau dort passiert, kann derzeit nicht überprüft werden.

(Foto: dpa)

Am Dienstag war es genau ein Jahr her, dass Barack Obama dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad eine rote Linie zog. Der Einsatz von Chemiewaffen durch das Regime "würde meine Kalkulation verändern", sagte der US-Präsident damals - was allgemein als Drohung verstanden wurde, dass die USA in irgendeiner Form mit ihrer Militärmacht in den Bürgerkrieg intervenieren würden, der Syrien seit zwei Jahren verheert.

Seit Mittwoch stellt sich dringender denn je die Frage, ob Assad diese Linie nicht so weit und deutlich überschritten hat, dass auch alle Rückzugspositionen nicht mehr zu halten sind, die Washington im Laufe der Zeit aufgebaut hat. Schon bei früheren Fällen waren die US-Geheimdienste zu der Schlussfolgerung gelangt, das Regime habe "in begrenztem Umfang" Chemiewaffen - namentlich den Nervenkampfstoff Sarin - eingesetzt, ohne dass Washington eingriff.

Die Attacken aber, die am frühen Mittwochmorgen die östlich von Damaskus gelegenen Vorstadtbezirke Samalka und Ain Tarba trafen, stellen von der Dimension und Grausamkeit fast alles in den Schatten, was an Gräueltaten in diesem Bürgerkrieg bislang bekannt geworden ist. Wenn die Angaben der Opposition zutreffen, sagen Experten, würde es sich um den größten Chemiewaffen-Einsatz handeln, seit der irakische Diktator Saddam Hussein im März 1988 die kurdische Stadt Halabdscha im Zuge einer Strafaktion mit Senfgas und wahrscheinlich auch Sarin und dem Nervenkampfstoff VX bombardieren ließ. 5000 Menschen verloren dort ihr Leben.

Die Opfer müssen schnell begraben werden

Am Tag nach der Attacke lässt sich aus Augenzeugenberichten, Videos und Fotos klarer nachzeichnen, was geschehen ist. Um endgültige Schlüsse zu ziehen, ist es allerdings zu früh - und die Fakten längst nicht eindeutig genug. Nur eine schnelle Untersuchung der Opfer und der betroffenen Gebiete durch unabhängige Experten wie das im Land befindliche UN-Team um den Schweden Åke Sellström könnte zuverlässige Aufklärung leisten. Die Opfer müssen begraben werden, es gibt keine Elektrizität, um die Leichen zu kühlen. Doch ob Syriens Regierung eine Inspektion zulässt, war am Donnerstag ungewiss.

Augenzeugen berichten übereinstimmend, der Angriff auf Samalka habe etwa um zwei Uhr morgens begonnen. Die Bewohner hörten weder Kampfflugzeuge noch das Abfeuern von Artilleriegeschützen. Das lässt Angaben plausibel erscheinen, dass 122-Millimeter-Raketen vom russischen Typ Grad zum Einsatz gekommen sind. Sie haben eine Reichweite bis zu 20 Kilometern und werden von fahrbaren Werfern aus abgefeuert. Und sie können mit chemischen Gefechtsköpfen bestückt werden. Im benachbarten Erbin verbreitete sich die Nachricht wenig später. "Jemand klopfte bei uns zu Hause und schrie: 'Bringt euch in Sicherheit!'", so berichtete es ein Aktivist mit dem Kampfnamen Abu Ahmed der Süddeutschen Zeitung.

Wer hat welche Waffen eingesetzt?

Er sei wenig später in das notdürftig eingerichtete Feldlazarett des Ortes gerufen worden. Der Apotheker beschreibt, dass die Opfer "nicht richtig atmen konnten". Sie hätten Schaum vor dem Mund und im Rachen gehabt, ihre Nasen und Augen seien gelaufen. Hunderte Fotos und mehr als 130 Videos, die Aktivisten ins Internet geladen haben, verdichten diese Eindrücke. Sie zeigen Menschen, deren Pupillen extrem verengt sind. Graue Ränder zeichnen sich um Augen und Mund ab, Lippen sind blau-lila angelaufen. Eines der Videos zeigt einen jungen Mann, der schreiend und zuckend vor Krämpfen mit dem Ersticken kämpft. Es sind Symptome, die beim Kontakt mit Nervenkampfstoffen wie Sarin zu erwarten wären, räumen westliche Geheimdienstler ein - damit sei aber noch nicht der Beweis für einen Einsatz von Chemiewaffen erbracht.

Weder die Angaben der Augenzeugen noch die Fotos oder Videos können derzeit unabhängig auf ihre Echtheit überprüft werden. Das Regime lässt keinen Journalisten in die Gegend, auch die UN-Experten nicht, obwohl diese sich nur zehn Kilometer Luftlinie entfernt in Damaskus aufhalten. Die Aufnahmen aber stammen letztlich von einer Konfliktpartei. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie gefälscht oder inszeniert sind. Aber auch keine Garantie, dass sie ein akkurates, vollständiges Bild wiedergeben.

Weitgehend einig sind sich unabhängige Experten darüber, dass "giftige Chemikalien" die Menschen ins Verderben stürzten und dass diese "auf militärische Weise ausgebracht" worden seien. Dafür spricht, dass auffallend viele Opfer keine äußeren Verletzungen haben, wie sie konventionelle Munition durch die Explosion verursacht. Ob aber Sarin oder ein anderer Kampfstoff im Sinne der Chemiewaffenkonvention verschossen wurde, lässt sich nicht sicher sagen. Für die Opfer macht dies ohnehin keinen Unterschied - für die politische Bewertung dagegen möglicherweise schon.

Eine weitere Frage ist, wer diese Waffen eingesetzt hat. Die Regierung in Damaskus bestreitet energisch, für die Attacken verantwortlich zu sein. Russland beschuldigte schon am Mittwoch radikale Rebellen: Sie wollten die Attacke dem Regime anlasten und damit den UN-Sicherheitsrat auf ihre Seite ziehen. Beweise dafür hat Moskau nicht geliefert. Tatsächlich könnte das Bombardement Teil einer koordinierten Offensive von Regierungstruppen und möglicherweise regierungsnahen Milizen sein. Seit Tagen kämpfen sie mit Rebelleneinheiten um die Kontrolle über den Stadtteil Dschobar und die angrenzende Autobahn. Sie führt von Damaskus nach Norden und ist eine wichtige Lebensader des Regimes, verbindet sie doch die Hauptstadt mit dem Kerngebiet der alawitischen Minderheit im Küstenstreifen um Latakia.

Russland und China verhindern deutliche Kritik an Syrien

Noch am Morgen des Chemieangriffs attackierte das Regime mit Kampfflugzeugen und konventioneller Artillerie wieder die betroffenen Gebiete. Einige regimetreue Medien feierten sogar die Fortschritte, die Assads Truppen dort gemacht hätten. Auch am Donnerstag berichteten Rebellen, Assads Luftwaffe habe Ziele im Bezirk Al-Ghuta bombardiert. In einem solchen Kontext wäre ein Einsatz von Chemiewaffen militärisch denkbar: Sie wurden als Flächenwaffen entwickelt, um große Militärverbände zu stoppen oder um Gebiete zu attackieren, die vom Feind gehalten werden - um anschließend mit eigenen Truppen nachrücken zu können.

Der stellvertretende UN-Generalsekretär Jan Eliasson sagte nach der Sondersitzung des Sicherheitsrats, man habe Gespräche mit der Regierung aufgenommen, ob Sellströms Team die betroffenen Orte inspizieren dürfe. Mit ihrer Ausrüstung könnten sie Gewebe- und Umgebungsproben analysieren und zusammen mit Augenzeugenberichten und anderen Indizien ein Bild darüber gewinnen, was dort wirklich passiert ist. Wegen der Sicherheitslage sei ein Zugang aber derzeit nicht möglich. Der Sicherheitsrat hatte sich nur auf die Erklärung einigen können, die "große Besorgnis zum Ausdruck bringt", aber keinen konkreten Auftrag zur Aufklärung. Laut Diplomaten verhinderten Russland und China schärfere Formulierungen.

In Samalka, Erbin und Ain Tarba zählten sie am Tag danach noch immer die Toten. Mehr als 1100 seien es am Nachmittag gewesen, sagte ein Aktivist. Die Menschen dort fragen sich, was noch passieren muss, bis ihnen jemand hilft.

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