Trittin-Auftritt in Göttingen:In der Heimat tut man sich nicht weh

Wahlkampf Grüne Niedersachsen

Der Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin durchlebt zurzeit schwierige Tage

(Foto: dpa)

Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin steht unter Druck, weil er vor mehr als drei Jahrzehnten pädophile Forderungen in einem Wahlprogramm zugelassen hat. Doch in seiner Heimat Göttingen wollen ihm das selbst die politischen Gegner nicht so richtig übelnehmen. Sogar aus der FDP erhält er Unterstützung.

Von Christoph Hickmann, Göttingen

Es gibt diesen Moment nach einer guten Viertelstunde, es geht um den Zustand der Sportplätze in der Stadt. Der Kandidat der Linkspartei hat gerade gesagt, dass er dem Kandidaten der CDU nur zustimmen könne, und jetzt, das Mikrofon hat er bereits weitergereicht, fasst er ihn am Arm. Er sagt etwas, der CDU-Mann fasst zurück, sagt auch etwas, beide lächeln.

Es ist der Moment, in dem endgültig klar wird, dass dies hier nicht Berlin ist, sondern Göttingen, nicht die große Bühne mit den vielen kleinen Gemeinheiten, sondern die kleine Bühne der Kommunalpolitik. Man sitzt näher beieinander, man kennt sich besser, länger, kennt Stärken, Schwächen, Schwachstellen, wechselseitig. Tut man sich da noch weh?

Dienstagabend, eine Turnhalle in Göttingen, ein örtliches Blatt hat zur Podiumsdiskussion vor der Bundestagswahl geladen, um die 90 Leute bilden das Publikum, und von ihnen aus gesehen rechts außen sitzt ein Mann, dem man an diesem Abend sehr weh tun könnte. Jürgen Trittin, Spitzenkandidat der Grünen, hat seit Montag ein Problem mehr in diesem für ihn und seine Partei ohnehin nicht so ganz rumpelfreien Wahlkampf.

Seit Montag ist bekannt, dass er 1981 für ein Kommunalwahlprogramm verantwortlich zeichnete, in dem unter anderem die Forderung steht, sexuelle Handlungen mit Kindern zu legalisieren, sofern sie ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt zustande kämen. Danach hat Trittin sich offenbar drei Jahrzehnte lang nicht oder jedenfalls nicht mehr so genau an diese Passage erinnert, auch dann nicht, als alle Welt darüber debattierte, welchen Einfluss pädophile Strömungen in den Anfangsjahren der Grünen hatten. Am Tag, nachdem das bekannt geworden ist, sitzt er abends in Göttingen. Hier ist sein Wahlkreis, hier ist seine Heimat, hier hat er studiert, hier wurde er zum Politiker. Und hier entstand jenes Programm, unter das er seinen Namen setzte.

Er weiß, dass man ihn jagen wird in diesen letzten Tagen vor der Wahl, er hat das selbst zu oft gemacht mit politischen Gegnern, die ihre Fehler auch erst zugaben, wenn sie ohnehin öffentlich waren. So sind die Regeln seines Metiers, er kennt sie.

Und die Regeln in Göttingen?

Die sind so einfach wie strikt. Der Moderator, Redakteur des veranstaltenden "Extra Tip", stellt eine Frage, danach ruft er nacheinander die fünf Diskutanten auf, es sind die Direktkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien. Jeder darf etwas sagen, dann ist wieder der Moderator dran, Fragen aus dem Publikum sind nicht zugelassen oder allenfalls, so hat es der Moderator zu Beginn gesagt, wenn man sehr zügig durchkomme. Schon nach ein paar Minuten, die Frage nach der Zukunft des Forschungsstandorts Göttingen ist gerade reihum beantwortet, ruft er das Thema auf, um das es seit Montag geht. "Es gibt da Vorwürfe", so leitet er es ein. Dann darf Trittin reden.

Trittin spricht nicht mehr in Ich-Form

Er erklärt kurz den Sachverhalt, dann sagt er, dass die Forderung so auch im Programm der Bundesgrünen gestanden habe und diese Erkenntnis nicht neu sei. "Diese Forderung geht fehl, sie ist schlicht und ergreifend falsch", sagte er. "Es gibt keine Form einvernehmlicher Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen, und das muss strafrechtlich geschützt werden." Die Grünen müssten sich vorwerfen lassen, dass sie einschlägige Positionen "zu lange zugelassen" hätten. Daher lasse man dieses Kapitel nun wissenschaftlich aufarbeiten.

Was er nicht sagt: das Wort ich. Am Montag hat er sich noch mit Sätzen zitieren lassen, in denen er von seiner Verantwortung sprach und seine "Fehler" bedauerte. Davon diesmal: nichts. Dann sind die anderen dran.

Der Kandidat der Linken sagt: "Ich denke, wir sitzen hier alle für Parteien, und alle diese Parteien haben irgendwann Fehler begangen." Er werde sich hier "nicht zum Richter über eine Person" machen, mit der er 1981 im Rat der Stadt gesessen habe (damals noch für die SPD). Applaus.

Der Kandidat der CDU sagt, Trittin habe "klare Worte gefunden". Es komme "in jedem Leben vor, dass man Fehler macht". Er stelle sich allerdings die Frage, ob man, "wenn man selber moralische Kategorien geschaffen hat", diesem "Kategoriensystem immer gerecht" werde. Er erinnert "an Aussagen von Herrn Trittin in der Guttenberg-Affäre", wonach eine Entschuldigung für einen Fehler nicht ausreiche. Trittin müsse "selber für sich beantworten, was da folgen muss". Er schaut dabei, direkt neben Trittin sitzend, ziemlich angestrengt in eine andere Richtung. Als er fertig ist, beugt er sich zu Trittin und sagt etwas. Trittin antwortet, sie lächeln.

Es folgt Thomas Oppermann. Oppermann ist Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion und, wenn es um die Gegenseite geht, so etwas wie ein berufsmäßiger Forderer von Rücktritten. Er sagt, er finde es gut, wie die Grünen ihre Vergangenheit aufarbeiteten. "Das verdient Respekt, so sollten es alle machen."

Das brisante Thema nimmt sechs Minuten in Anspruch

Bleibt noch der Mann von der FDP: "Ich finde es persönlich schade, dass dieses Thema jetzt die Endphase des Wahlkampfs überlagert." Dann sagt er etwas über den Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter, den die Grünen selbst mit der Aufarbeitung beauftragt haben und der nun die Passage von 1981 zutage gefördert hat: "Ich habe mich auch geärgert, dass Herr Professor Walter das jetzt zu diesem Zeitpunkt aus der Schublade geholt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das jetzt erst bei seinen Recherchen untergekommen ist, und das finde ich ein Stück weit auch unfair."

Ein Linker, der kein Richter sein will, ein Christdemokrat, der unter Qualen etwas über mögliche, eventuelle Folgen herausdruckst? Ein Sozialdemokrat, der die Grünen als Vorbild sieht, und ein Liberaler, der einem Wissenschaftler unlautere Motive unterstellt, weil er kurz vor der Wahl einen dunklen Fleck in der Vergangenheit des Jürgen Trittin gefunden hat? Guten Abend, Göttingen.

Das Thema ist abgehakt, um die sechs Minuten hat das gedauert, jetzt meldet sich noch ein Herr aus dem Publikum: Ob man nicht doch eine Frage stellen dürfe, "weil die Antworten so homogen sind"? Nein, sagt der Moderator, auch keine kurzen Fragen. "Da kommen wir vom Hundertsten ins Tausendste, und das wollen wir nicht."

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