Rad-WM in Florenz:Mit großem Vorsprung an der Kathedrale angekommen

UCI Road World Championships - Day Four

Schneller als Olympiasieger und Tour-de-France-Sieger Bradley Wiggins: Tony Martin.

(Foto: Getty Images)

Tony Martin gewinnt bei der Radsport-Weltmeisterschaft souverän das Einzelzeitfahren vor Olympiasieger Bradley Wiggins. Es ist bereits sein dritter Titel in Serie - und für die nationale Branche der Abschluss eines ordentliches Jahres.

Von Johannes Aumüller

Konstantin Siutsou war wirklich zu bedauern. Da saß der weißrussische Radprofi in der Nähe der Kathedrale Santa Maria del Fiore mit der berühmten Kuppel auf einem ungemütlichen Hocker, der sich "Stuhl des Führenden" nennt, hinter sich die vollgepflasterte Sponsorenwand, neben sich zwei Konkurrenten, und er blickte genauso gelangweilt in der Weltgeschichte umher wie die meisten anderen, die ihm in den nächsten Minuten auf dem "Stuhl des Führenden" folgen sollten.

Denn alle wussten, dass sich irgendwo auf dem Weg zwischen Montecatini und Florenz die großen Favoriten dieses WM-Einzelzeitfahrens befanden - und dass die gleich kommen würden, um die Bestzeiten deutlich zu korrigieren.

Und so rollte dann irgendwann der Brite Bradley Wiggins ins Ziel, der am Ende Zweiter wurde. Wenig später der Schweizer Altmeister Fabian Cancellara in einer Zeit, die für Bronze reichte. Und ganz zum Schluss schließlich Tony Martin, der 28-jährige Titelverteidiger, der die 57,9 Kilometer lange Strecke in 1:05:36,65 Stunden bewältigte und mit einem deutlichen Vorsprung von 46 Sekunden die Goldmedaille gewann.

"Das war das Highlight meiner Saison. Auf diesen Moment habe ich das ganze Jahr hingearbeitet", sagte er. "Als ich aus der Altstadt mit 40 Sekunden Vorsprung kam, habe ich auf den letzten fünf Kilometern keine Schmerzen mehr gefühlt."

Martin vor Wiggins und Cancellara. Das war ein oft gehörter Tipp vor diesem Wettbewerb. Oder auch Cancellara vor Martin und Wiggins. Oder auch Wiggins vor Cancellara und Martin. Ein Podium ohne dieses Trio, das war in etwa so wahrscheinlich wie eine Verlegung der Kathedrale aus Florenz nach Rom - es schien alleine um die Reihenfolge zu gehen.

Wiggins, Olympiasieger und Tour-Gewinner 2012, ließ es etwas gemächlicher angehen und wurde erst gegen Mitte und gegen Ende stärker; Cancellara hingegen drückte am Anfang gewaltig - und überzog. Nach ein paar Kilometern lag er ein paar Sekunden vorne, doch dann kam Tony Martin und drehte die Sache mit seiner gleichmäßigen Fahrweise kontinuierlich zu seinen Gunsten.

WM-Sieg nicht im deutschen Fernsehen zu sehen

Drei Mal nacheinander hat Tony Martin nun das Einzelzeitfahren gewonnen, das bei der WM seit 1994 zum Programm gehört; öfter war nur sein Widersacher Cancellara (4) erfolgreich, und so war dieser Triumph in Florenz für Martin ein vorzüglicher Abschluss eines turbulenten Rennjahres. Erst absolvierte er ein ordentliches Frühjahr. Dann folgte ein übler Sturz auf der ersten Tour-de-France-Etappe, bei dem er sich unter anderem eine Lungenquetschung zuzog und eine Fleischwunde am Ellbogen, die den Blick auf den Muskel ermöglichte. Dann gewann er trotz dieses Handicaps das Zeitfahren nach Mont Saint-Michel. Und schließlich hatte er den Härtetest bei der Vuelta gegen Cancellara verloren.

Doch dieser WM-Kurs von Montecatini nach Florenz, eine weitgehend ebene Strecke, die kam Martin mehr zugute als dem Schweizer, der es mag, wenn in einen Abschnitt ein paar Anstiege und Abfahrten integriert sind.

Dieses Gold bedeutete aber nicht nur für Martin, sondern für die gesamte deutsche Radszene die Abrundung eines gelungenen Jahres. Sie verfügt ja wieder über ein vorzeigbares Rennfahrer-Repertoire. Gerald Ciolek hatte den Klassikerauftakt Mailand - San Remo gewonnen; Zeitfahrer Martin, Allrounder John Degenkolb oder die Sprinter Marcel Kittel und André Greipel hatten mit sechs Etappensiegen die Tour mitgeprägt; und der 14. Platz von Dominik Nerz bei der Vuelta sowie die Überlegung von Martin, nach seiner anstehenden Kahnbein-Operation das Training künftig mehr auf die großen Rundfahrten auszurichten, haben die Hoffnung geweckt, dass sich auch im Klassementfahrer-Bereich wieder etwas tun könnte.

Unter ihnen sind auch einige, die sich verbal deutlich distanzieren von den Dopinggrößen der vergangenen Jahre. Martin beispielsweise gehört zu den Athleten, die schon seit Längerem und gegen die Meinung des organisierten Sports ein striktes Anti-Doping-Gesetz fordern. Doch diese Entwicklung hat in Deutschland noch nicht gereicht, die über Jahre fundierte Skepsis gegenüber der Radsport-Branche zu verdrängen - und so war Martins WM-Triumph im deutschen Fernsehen auch nicht live zu sehen.

Die Öffentlichen-Rechtlichen haben sich ja schon lange aus der Berichterstattung zurückgezogen; und mit Eurosport hatte es keine Einigung über die Übertragungsrechte gegeben. Auch am Sonntag, wenn die Weltmeisterschaft mit dem Straßenrennen der Männer endet, kann der Fan hierzulande bestenfalls via Internet-Stream zusehen. Dann allerdings sind die Chancen des deutschen Sextetts auf eine vordere Platzierung auch ziemlich gering. Als einer der größten Favoriten hingegen gilt: Fabian Cancellara.

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