Organspende:Das deutsche System ist inhuman

Moralisch gesehen müsste jeder nach seinem Tod Organe spenden. Weil das nicht passiert, müssen immer mehr Angehörige mit einer Lebendspende helfen. Die kann ihnen im schlimmsten Fall schaden - ein moralisch unhaltbarer Zustand.

Ein Gastkommentar von Klaus Steigleder

Die Praxis und Bewertung der Organspende in Deutschland ist durch zwei fundamentale Irrtümer bestimmt. Der erste Irrtum besteht in der Überzeugung, dass die Bereitschaft, sich nach seinem Tod als Organspender zur Verfügung zu stellen, ein Werk der Übergebühr sei, also etwas, das außerordentlich gut und lobenswert ist, aber nichts, zu dem man verpflichtet sein könnte. Auf dieser Auffassung baut die in Deutschland geltende "erweiterte Zustimmungslösung" auf. Organe dürfen einem Toten nur entnommen werden, wenn der Verstorbene dem zu Lebzeiten zugestimmt hat oder wenn die nächsten Angehörigen zustimmen.

Der zweite Irrtum besteht in der Überzeugung, dass die Praxis der Lebendorganspende - bestimmte, den Spender schützende Maßnahmen vorausgesetzt - moralisch unbedenklich sei. Es sei deshalb vertretbar, dass dem Mangel an Organen Verstorbener dadurch begegnet wird, dass Lebende sich bereit erklären, Angehörigen, Lebensgefährten oder engen Freunden eine Niere oder einen Leberlappen zu spenden.

Die Praxis der Lebendorganspende ist jedoch moralisch hoch problematisch. Als gesellschaftliche Praxis kann sie nur toleriert werden, wenn alles Erforderliche getan worden ist, um dem Organmangel so weit wie möglich zu begegnen. Es besteht aber eine grundsätzliche moralische Pflicht, zur postmortalen Organspende bereit zu sein.

Wann sind wir moralisch dazu verpflichtet, einem anderen zu helfen? Wir sind zur Hilfeleistung verpflichtet, wenn ein gewichtiges Recht eines anderen bedroht ist, wenn der andere sich selbst nicht helfen kann und wir zur Hilfeleistung ohne vergleichbare Kosten in der Lage sind. Wenn wir jemanden nur unter Gefahr für unser Leben retten können, dann sind wir nicht verpflichtet, dies zu tun. Wenn wir dagegen gefahrlos helfen können, müssen wir helfen.

Die postmortale Organspende scheint deshalb ein klarer Fall einer moralisch geforderten Hilfspflicht zu sein. Der Spender wird durch die Organentnahme nicht mehr tangiert. Durch die Organspende kann das Leben Todkranker gerettet oder die Lebensqualität von Menschen entscheidend verbessert werden.

Diskussion um den Hirntod

Aber ganz so einfach verhalten sich die Dinge nicht. Die Organentnahme würde im Zustand des dissoziierten Hirntodes erfolgen. "Dissoziierter Hirntod" meint, dass das Gehirn als Ganzes irreversibel abgestorben ist, aufgrund künstlicher Beatmung das Herz aber, dessen Schlag autonom gesteuert ist, noch weiter tätig ist und das Funktionsganze eines "hirnlosen" Organismus noch weiterbesteht.

Es gab und gibt eine Diskussion darüber, ob hirntote Menschen bereits tot oder erst sterbende Menschen sind. Wer nicht davon überzeugt ist, dass er im Zustand des dissoziierten Hirntodes bereits tot sein wird, der kann auch nicht verpflichtet sein, sich in diesem Zustand Organe entnehmen zu lassen. Auch können die Rücksicht auf Angehörige oder religiöse Überzeugungen einer Pflicht zur Organspende entgegenstehen.

Deshalb kann die Pflicht zur Organspende nur eine grundsätzliche Pflicht sein, also eine Pflicht, die Ausnahmen zulässt. Die der grundsätzlichen Pflicht angemessene Regelung zur Entnahme von Organen wäre die sogenannte Widerspruchslösung: Die Organe eines (Hirn-)Toten werden entnommen, es sei denn, der Verstorbene hat zu Lebzeiten einer Organentnahme widersprochen.

Vorbild Österreich

Die Organentnahme wäre also der Regelfall, da davon ausgegangen werden kann, dass jemand keine Einwände gegen das hat, wozu er grundsätzlich moralisch verpflichtet ist. Der Widerspruch muss moralisch gesehen auf einer Gewissensentscheidung beruhen. Er darf nicht leichtfertig vorgenommen werden. Allerdings ist hier niemand befugt, sich gegenüber anderen zum moralischen Richter aufzuschwingen.

Wer die Widerspruchslösung aber tatsächlich einführt, muss die Bürger gleichzeitig über die Organspende aufklären, etwa in den Schulen. Es kann nicht darum gehen, die Unwissenheit der Bürger auszunutzen. Auch sollte, wie dies in Österreich der Fall ist, ein zentrales Melderegister eingerichtet werden, bei dem man seinen Widerspruch anmelden und gegebenenfalls auch wieder zurückziehen kann. Bevor Ärzte ein Organ entnehmen, müssen sie nachfragen, ob ein Widerspruch vorliegt.

Im Gegensatz zur Widerspruchslösung ist die in Deutschland derzeit praktizierte erweiterte Zustimmungslösung inhuman. Denn sie zwingt die Ärzte regelmäßig, die Angehörigen nicht nur mit der Nachricht zu konfrontieren, dass beispielsweise ihr Kind oder der Lebenspartner gestorben ist, sondern sie zugleich wegen der Frage einer Entnahme von Organen des Verstorbenen anzugehen. Dies überfordert sowohl die Ärzte, die die Frage stellen müssen, als auch die Angehörigen, die mit ihr konfrontiert werden. Die Situation ist für alle Seiten unzumutbar.

Es ist unbestritten, dass keine moralische Pflicht zur Lebendorganspende besteht. Dies ergibt sich auch aus den Kriterien für Pflichten zur Hilfeleistung. Der mögliche Spender einer Niere und vor allem eines Leberlappens geht Risiken für seine Gesundheit oder gar sein Leben ein. Schließlich birgt jede Operation die Gefahr von Komplikationen. Entsprechend ist er nicht "ohne vergleichbare Kosten" zur Hilfeleistung in der Lage.

Angehörige geraten unnötig in Not

Indem die Gesellschaft aber die Möglichkeit der Lebendorganspende eröffnet, zugleich aber nicht die erforderlichen Maßnahmen ergreift, den Mangel an verfügbaren Organen Verstorbener zu beseitigen, bringt sie die Angehörigen der Kranken regelmäßig und unnötig in Not: Denn diese stehen den Menschen, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind, nah und fühlen sich also verpflichtet zu helfen, obwohl sie dazu eigentlich nicht verpflichtet sind.

Dies ist ein moralisch unhaltbarer Zustand. Außerdem wird durch die Praxis der Lebendorganspende institutionalisiert, dass Ärzte regelmäßig Gesunde physisch schädigen und Gefahren an Leib und Leben unterwerfen, um Kranken zu helfen oder diese zu retten. Dies stellt ebenfalls eine moralisch zutiefst problematische Rechtfertigungsstruktur dar. Es ist erstaunlich, dass sie so wenig Aufmerksamkeit findet.

Es soll hier nicht behauptet werden, dass die Lebendorganspende unter keinen Umständen moralisch gerechtfertigt werden kann. Sie kann aber nur als Ausnahmetatbestand, sozusagen als Ultima Ratio, gerechtfertigt werden. Das aber ist nicht der Fall. Viel zu oft versuchen Angehörige mit der Lebendspende einen Mangel auszugleichen. Es ist dies aber ein Mangel, der erst durch Irrtum und falsche Rücksichtnahme überhaupt entstanden ist.

Klaus Steigleder, 54, ist Professor für Angewandte Ethik am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen der medizinischen Ethik.

Mehr Informationen erhalten Sie in unserem Ratgeber Organspende.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: