EU-Gipfel berät über Flüchtlingsdrama im Mittelmeer:Die Toten verändern die Tagesordnung

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Am 9. Oktober erweisen der italienische Ministerpräsident Enrico Letta (rechts), EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso (Dritter von rechts) und die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini (Zweite von links), den Opfern des Schiffsunglücks vom 3. Oktober die letzte Ehre (Foto: AFP)

Eindeutiges Bedauern, mehrdeutige Beschlüsse: Seit Anfang Oktober Hunderte Menschen ertrunken sind, wurde Lampedusa zum Synonym für den anonymen Tod im Mittelmeer. Deshalb beschäftigen sich die Staats- und Regierungschefs der EU seit Jahren zum ersten Mal wieder mit der Flüchtlingspolitik. Das heißt jedoch nicht, dass substanzielle Ergebnisse zu erwarten sind.

Von Javier Cáceres, Brüssel

Giusi Nicolini hat es in den vergangenen Wochen zu einer grenzüberschreitenden Berühmtheit gebracht, die sie sich kaum erträumt haben dürfte. Und dass sie einmal das Vorprogramm eines veritablen EU-Gipfels in Brüssel bestreiten würde, auch damit dürfte die italienische Politikerin kaum gerechnet haben.

Gewiss, Nicolini hatte sich oft an Brüssel gewandt, lautstark, leidenschaftlich und verzweifelt verlangt, die EU möge ihren Blick nach Lampedusa richten - vergeblich. Bis, ja bis Anfang Oktober dort mehr als 350 afrikanische Flüchtlinge vor der Küste ertranken, Lampedusa zum Synonym wurde für den tausendfachen, anonymen Tod im Mittelmeer.

Es sind die Toten, die eine Tagesordnung veränderten, die dazu führten, dass sich die Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal seit Jahren wieder der Flüchtlingsfrage widmen. Am Donnerstag steht Nicolini neben EU-Parlamentschef Martin Schulz (SPD), und sie mahnt: "Ohne ein neues Asyl- und Einwanderungsrecht sind es nicht nur die Einwanderer, sondern Europa, das vor Lampedusa untergehen wird."

Überlagert vom Kanzlerhandy

Das entspricht Forderungen von vielen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, von linken und grünen Politikern aus einer Reihe europäischer Länder. Doch vom Brüsseler Gipfel einen Paradigmenwechsel zu erwarten, dürfte kaum jemandem in den Sinn gekommen sein. Im Gegenteil. Richtig substanziell dürfte der Gipfel nicht werden, zumal die Flüchtlingsproblematik durch die Affäre um das mutmaßlich abgehörte Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) überlagert wurde.

Die "Gipfelschlussfolgerungen", in denen die Staats- und Regierungschefs ihre Beschlüsse zusammenfassen, dürften bloß "so gut es geht gestreckt" werden, sagte ein EU-Diplomat. Das heißt, in dem Entwurf der Beschlüsse wird unterstrichen, dass man die Toten im Mittelmeer zutiefst bedauere und mehr getan werden müsse, um solche Katastrophen zu vermeiden. Worin dieses "mehr" genau bestehen soll, bleibt aber offen.

"Umfassender" und mit Blick auf eine "langfristige" Perspektive wollen sich die Staats- und Regierungschefs mit der Flüchtlingsfrage erst auf einem EU-Gipfel im Juni 2014 befassen. Das würde beispielsweise auch die Veränderung der Lastenverteilung beinhalten, die von einer Reihe von Mittelmeerländern gefordert und den nordeuropäischen Ländern tendenziell abgelehnt wird.

Eine Änderung der erst in diesem Jahr verabschiedeten Grundsätze des europäischen Asylsystems, die unter anderem vorsehen, dass Asylbewerber, die nicht legal einreisen, in dem EU-Land bleiben müssen, über das sie in die EU gekommen sind, steht nicht zur Debatte.

Flüchtlingsstrom wird im Frühjahr wieder stärker werden

Zu den greifbarsten Elementen der Schlussfolgerung zählt daher noch, dass die neu eingerichtete "Arbeitsgruppe", die Ende Oktober von den EU-Innenministern eingerichtet wurde, schon Anfang Dezember liefern soll. Anders formuliert: Bis zum nächsten EU-Gipfel sollen die Wege aufgezeigt werden, wie "die bestehenden Instrumente" der EU-Flüchtlingspolitik besser genutzt werden können.

Darauf haben, wie in Brüssel zu hören war, insbesondere die Italiener und Malteser gedrungen, mit einigem Bedacht. Wenn die Task Force, die sich am Donnerstag erstmals auf Arbeitsebene traf, zu dem Schluss kommen sollte, dass neue Instrumente, womöglich sogar weitere Mittel zur Verfügung gestellt werden sollten, müsse man sich möglichst früh darauf verständigen.

Schon jetzt ist zweierlei sicher: Die Zahl der Menschen, die sich in Nussschalen auf den lebensgefährlichen Trip von Afrika übers Mittelmeer nach Europa begeben, wird im gleichen Maße abnehmen, wie der Winter näher rückt, die See rauer wird. Und der Strom wird im Frühjahr wieder anziehen. Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy drang darauf, dass die EU den Ländern mit europäischen Außengrenzen politische, operative und auch finanzielle Unterstützung gewähren solle. Er fordert zudem, die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Ländern zu verbessern, an dessen Küsten die Flüchtlinge in See stechen.

Wahrscheinlich wird sich Europa aber schon früher einem weiteren Problem gegenübersehen. Denn die Krise in Syrien bleibt außer Kontrolle, was bedeutet: Der Flüchtlingsdruck auf die Nachbarländer erhöht sich. Schon jetzt sind mehr als zwei Millionen Syrer ins Ausland geflohen; die UN rechnen mit einem Anstieg auf drei Millionen im Winter. Das würde den Druck auf die EU-Länder erhöhen.

© SZ vom 25.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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