Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Was für eine Bescherung

Familien-Kolumne

Natürlich sind Kinder an Weihnachten überdreht statt in besinnlicher Stimmung. Schön, wenn dann die Eltern entspannt wären. Sind sie aber nicht.

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Der erste Besuch an Heiligabend erscheint schon am Mittag, wenn noch nichts fertig ist. Nur der Opa taucht einfach nicht auf. Und in all der Hektik lassen die Kinder den Geschenkeberg nicht aus den Augen. Ein Weihnachts-Countdown.

Von Katja Schnitzler

23. Dezember, 22.40 Uhr

Die Wohnung liegt im Dunkeln, selbst die Lichterkette am Christbaum erhellt das Wohnzimmer nicht mehr. Aus dem Schlafzimmer dringen Stimmen. "Wann kommen die Großeltern morgen?" - "Am frühen Nachmittag, hat meine Mutter gesagt." - "Ach nö, habt ihr wieder keine feste Zeit ausgemacht? Dann stehen sie bestimmt um zwölf Uhr auf der Matte!"

"Hättest du heute noch alles fertig vorbereitet, wäre das kein Problem!" - "Ich kann ja die Geschenke wohl nicht schon am 23. hinlegen und überhaupt, bin ich etwa der Weihnachtsmann?" - "Typisch, dann mach ich es eben selbst!" Die Schlafzimmertür öffnet sich, die Mutter stürmt heraus und ins Wohnzimmer. Der Vater folgt seufzend und deutlich langsamer: "Das hat doch Zeit bis morgen." "Nein, hat es ni..."

Aus dem Wohnzimmer hört der Vater ein lautes Krachen. Die Mutter sitzt zwischen Geschenken, die sie wütend aus dem Schrank gezerrt hatte. Dann war sie über einen Plätzchenteller neben dem Christbaum gestolpert, Für das liebe Christkind steht auf einem Kärtchen. Die Namensschilder haben sich von den Päckchen gelöst. Die Eltern lauschen atemlos, ob der Krach die Kinder geweckt hat, dann verteilen sie die Schilder im Halbdunkel neu.

23.10 Uhr

Zurück im Bett sagt die Mutter: "Wenn dein Vater morgen wieder vierhundertausendmal Herrgottsapperlott sagt, drehe ich durch. Weihnachten hin oder her." Nun herrscht Stille im Schlafzimmer.

Am viel zu frühen Weihnachtsmorgen, 5.45 Uhr

Ein Schrei schallt durchs Haus, er kommt aus dem Wohnzimmer: "GESCHENKE!" Mutter und Vater schrecken aus dem Schlaf. Beide eilen ins Wohnzimmer.

Dort tanzen Sohn und Tochter um einen Präsenteberg, die Gesichter in Ekstase verzerrt, gutturale Laute ausstoßend. Es wirkt ein wenig unheimlich, wie ein heidnisches Ritual. Wie von Sinnen wollen sich die Kinder auf die Päckchen stürzen. Mutter und Vater fangen sie ab: "Erst heute Abend, wenn die Großeltern und der Opa da sind!"

6.05 Uhr

Die Kinder frühstücken in Schlafanzügen vor dem Geschenkeberg, den sie nicht aus den Augen lassen. Die Eltern gehen wieder ins Bett und vertrauen auf die Drohung, dass sich alle Schätze in Luft auflösen, wenn ein Kind auch nur am Geschenkpapier zupft.

8.20 Uhr

Die Eltern stehen zum zweiten Mal auf. Die Kinder sitzen vor dem Geschenkeberg und lassen ihn nicht aus den Augen.

11.30 Uhr

Der Vater schickt Tochter und Sohn ins Bad.

11.35 Uhr

Beide sitzen angezogen vor dem Geschenkeberg und lassen ihn nicht aus den Augen.

11.45 Uhr

Die Großeltern klingeln. Die Familie hat noch nicht zu Mittag gegessen. Der Mann wirft der Frau einen vielsagenden Blick zu, die zuckt resigniert die Schultern. Er hat vorausschauend zwei Teller mehr gedeckt.

12.53 Uhr

Das Mahl ist gegessen, die Neuigkeiten sind ausgetauscht, die Kinder sitzen vor dem Geschenkeberg und lassen ihn nicht aus den Augen. Noch mehr als drei Stunden bis zur Kindermette und mehr als vier bis zur Bescherung.

13.15 Uhr

Die Großeltern haben alle Zutaten für Lebkuchenhäuser mitgebracht, aus denen sie den Stall von Bethlehem nachbauen wollen. Nicht allein. Sondern mit den Kindern.

13.33 Uhr

Die Kinder erklären sich nach langen Verhandlungen zum Mitbacken bereit, unter der Bedingung, dass das Ganze im Wohnzimmer stattfindet - sie können den Geschenkeberg schließlich nicht so lange aus den Augen lassen.

Die Eltern bekommen davon in der Küche nichts mit. Sie haben gerade festgestellt, dass sie die Orangen für die Entensoße vergessen haben. Die Orangen sind eine wichtige Zutat, neben der Ente die wichtigste, im Rezept der Oma, Gott hab sie selig. Und es sollte doch genauso schmecken wie von Oma, dem Opa zuliebe. Wo bleibt der überhaupt?

13.50 Uhr

Nach dem Motto "Jeder ist sich selbst der Nächste" konnte der Vater die letzte mickrige Orange im Supermarkt sichern. Nun steht er in einer sehr, sehr langen Schlange vor der Kasse. Die Luft flirrt vor unterdrückter Aggressivität. Das Nervenkostüm des Vaters hängt in Fetzen, damit ist er nicht allein.

Auch das der Mutter bekommt einige Risse, als sie zur selben Zeit das Wohnzimmer betritt. Ein Teil des Zuckergusses ist auf dem schiefen Stall von Bethlehem gelandet. Der Rest trocknet auf dem Tisch, auf dem Sofa, auf dem Teppich und in den Haaren der Tochter. "Tut uns leid, aber sie ließen die Geschenke einfach nicht aus den Augen", sagt die Großmutter.

14 Uhr

Die Großmutter rügt den Großvater, weil der Lappen, mit dem er den Zuckerguss aus dem Sofa reibt, so nass ist, dass es bis Neujahr zum Trocknen brauchen wird. Der Großvater überlässt das Putzen beleidigt seiner Frau, stolziert in die Küche und verlässt sie schnell wieder.

"Wie stellst du dir vor, dass ich mit einer mickrigen Orange den Orangengeschmack in die Entensoße bekomme?", keift die Mutter. "Und wie stellst du dir vor, dass ich an Weihnachten kurz vor Geschäftsschluss noch einen Sack feinster Orangen organisieren soll?", keift der Vater zurück.

15.30 Uhr

Wer sich jetzt nicht zur Kindermette auf den Weg macht, bekommt keinen Platz mehr und vom Schauspiel nichts mit. Der Opa geht nicht ans Handy.

15.45 Uhr

Der Opa ist immer noch nicht da. Alle warten. "Herrgottsapperlott", flucht die Mutter.

15.55 Uhr

Die Mutter zerrt gemeinsam mit den Großeltern die Kinder vom Geschenkeberg weg. Alle eilen zur Kirche, nur der Vater bleibt zu Hause und wartet auf den Opa.

16.08 Uhr

Die Kindermette hat bereits begonnen, wie die Familie hört, aber nicht sieht. Viel zu viele Menschen stehen zwischen ihnen und dem Krippenspiel. "Geht nach vorne, da seht ihr was", flüstert die Mutter den Kindern zu. Die blicken skeptisch auf die Wand aus Rücken. "Können wir nicht einfach wieder heimgehen, zu den Geschenken?" Die Großeltern schütteln indigniert den Kopf.

Zu unserer Zeit hätte es so etwas nicht gegeben, kann die Mutter deutlich auf ihren Gesichtern lesen. Weihnachten, Weihnachten, es ist Weihnachten, ruhig, nichts sagen, es ist Weihnachten, Weihnachten, denkt die Mutter und schaukelt im Takt des schief gesungenen "Ihr Kinderlein kommet" hin und her. Das beruhigt so schön. Ruhig.

Das Christkind klingelt einfach nicht

17.00 Uhr

Die Menschen strömen aus der Kirche, die Kinder zerren an Händen, Jacken, Ärmeln: Heimwärts, schnell! Aus der Menge taucht der Opa auf: "Herrgottsapperlott, wo wart ihr denn, wir wollten uns doch in der Kirche treffen?"

17.30 Uhr

Großeltern, der Opa, Vater und Mutter stoßen zum ersten Mal an diesem Abend an, der Begrüßungssekt. Die Kinder lauschen an der verschlossenen Wohnzimmertür. Vor ihrem inneren Auge sehen sie den Geschenkeberg.

17.32 Uhr

Die Tochter versucht, etwas durch das Schlüsselloch zu erkennen. Der Sohn kratzt am Holz der Tür.

17.34 Uhr

In einem Verzweiflungsanfall schimpfen die Kinder auf das vertrottelte Christkind, das einfach nicht klingeln will. Im nächsten Moment bekommen sie es mit der Angst zu tun und beschließen, das Christkind mit Flötenspiel zu versöhnen.

17.38 Uhr

Die Tür ist immer noch verschlossen. Nun kratzen beide Kinder am Holz. Die Erwachsenen stoßen zum zweiten Mal an, auf die Oma.

17.40 Uhr

Ein Glöckchen läutet.

17:40:01 Uhr

Die Kinder brechen in Freudenschreie aus und durch die nun unverschlossene Tür, bereit für den Kopfsprung in den Geschenkehaufen. Da dringt eine schneidende Stimme zu ihnen durch: "Erst ein Lied, zur Besinnung. Es geht hier schließlich um mehr als nur Geschenke", sagt der Großvater streng. "Ach ja?", fragt der Sohn. Die Großeltern schütteln die Köpfe, die Eltern schämen sich, die Kinder murren und der Opa schnäuzt sich geräuschvoll. Ihm fehlt die Oma, Gott hab sie selig.

17:42 Uhr

Während die Erwachsenen singen, schieben sich die Kinder unauffällig näher an die Präsente heran, Millimeter für Millimeter. Am Ende des Liedes reißen sie die ersten Päckchen auf. "Ist das von Star Wars?", fragt der Sohn. Er hält Zigarren in der Hand. "Cool, ein iPad!", juchzt die Tochter. Die Eltern schauen sich irritiert an. "Meint ihr nicht, dass die beiden noch zu klein dafür sind?", fragt die Großmutter streng und öffnet ihr Paket. Ihr fallen acht Spielzeugpferde entgegen.

Ein Juchzen hinter dem Baum. Der Opa hat das größte Geschenk geöffnet: eine komplette Spielzeugeisenbahn. "Die Oma hat immer gesagt, das will sie nicht in ihrer Wohnung haben, Gott hab sie selig!" Die Mutter stößt den Vater an und zischt: "Du hast alles durcheinandergebracht!" "Das warst ja wohl du!", knurrt der Vater zurück und entwindet dem Sohn die Zigarren, der diese auf der Suche nach Star-Wars-Figuren zerbröselt.

Der Vater stellt sich in die Mitte des Wohnzimmers: "Nur die Ruhe, keine Panik, aber ... hier stimmt was nicht!" Er räumt den Couchtisch frei und stellt das nächste Geschenk darauf. Präsent für Präsent versuchen sie, diese zuzuordnen.

Widerwillig übergibt der Opa seinem Enkel die Eisenbahn und nimmt dafür gleich einen Schluck aus der Flasche mit seinem Lieblingswhisky. "Ich hätte trotzdem lieber den Zug gehabt."

Die Mutter überlegt. Dann überlegen alle gemeinsam. Und fassen Pläne fürs neue Jahr: Der Sohn wird die Bahn gemeinsam mit dem Opa aufbauen und wenn er das Kinderzimmer wieder für Star-Wars-Kämpfe braucht, würde der Opa dem Schienennetz in seiner nahen Wohnung ein neues Heim geben. Der Sohn bekäme Besuchs- und Spielrecht auf Lebenszeit. Die Tochter nimmt die Großmutter zum Reiten mit, diese hatte als Kind vor der Flucht ein eigenes Pony.

Der Großvater verteilt die restlichen drei Zigarren gleich an den Schwiegersohn und den Opa, sie würden sie nach dem Essen gemeinsam rauchen und dazu den Lieblingswhisky trinken. Und der Vater verspricht, nicht nur die Kinder ans iPad zu lassen, sondern auch die Großeltern in die Welt der neuen Medien einzuführen. Großmutter und Mutter hatten ohnehin einen gemeinsamen Wellness-Gutschein für drei Tage bekommen.

19.10 Uhr

Alle sitzen zufrieden am Tisch, die Kinder lassen die ausgepackten Geschenke nicht aus den Augen. Die Mutter beobachtet angespannt, wie der Opa den ersten Bissen Ente isst. Er kaut bedächtig. Schluckt. "Herrgottsapperlott, das schmeckt wie bei der Oma. Aber nur fast."

Er beugt sich zu seiner Schwiegertochter hinüber: "Zum Glück hast du die Orangen weggelassen, das war mir immer eine Spur zu viel des Guten." "Aber", sagt der Vater erstaunt, "du hast Omas Ente doch gerade wegen der Orangen immer so gemocht?" "Nein, ich mochte nur die Oma."

22.40 Uhr

Die Großeltern nehmen den Opa mit, der mehr als angeheitert ist. Die Eltern stehen in der Haustür, Arm in Arm, bereit zum Winken. Der Opa hält sich an der Autotür fest, er schwankt, aber grinst beseelt: "Sssschwiegeropa, sssagen wir doch du sssueinander, Herrgottssssssapperlott! Ich bin der Gussstav!" Er fällt dem Großvater in die Arme. Der klopft ihm den Rücken. "Natürlich, Gustav. Alle Jahre wieder gerne."

Wie wird Weihnachten mit Familie zum schönen Erlebnis? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen und Tipps in den Kommentaren unter der Kolumne.

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