Roma in Osteuropa:Inseln der Dritten Welt in Europa

Roma in Belgrad

Kinder in der Roma-Siedlung 'Belvil' nahe der serbischen Hauptstadt Belgrad.

(Foto: dpa)

Rumänen und Bulgaren können ab Januar in Deutschland arbeiten. Politiker machen bereits Stimmung gegen Roma, die angeblich bloß darauf warten, hier Sozialleistungen kassieren zu können. Doch die Bierzelt-Parolen helfen nicht gegen Probleme wie die Roma-Slums.

Von Klaus Brill

Es gibt sie, die anderen. Die vielen, die nicht verarmt und verachtet am Rande einer Stadt auf dem Balkan im Elendsviertel leben, in baufälligen Hütten ohne Heizung, in dunklen Löchern, aus denen es stinkt. Es gibt sie - die Lehrer, Polizisten, Angestellten, Arbeiter oder Künstler, die eine ganz normale Wohnung haben und von denen manchmal die Nachbarn gar nicht wissen, dass sie Roma sind. Es gibt sie in vielen Ländern Europas zu Millionen. Unter den rund zehn bis zwölf Millionen Roma, die in der EU leben, stellen sie einen beträchtlichen Anteil.

Nedjo Osman gehört zu ihnen. Der Rom wurde 1958 in Skopje in Mazedonien geborene. "Ich wusste, dass nur die Bildung es mir ermöglichen kann, anders zu leben als meine Eltern", sagt er. Der Junge wollte Schauspieler werden. Nach dem Studium an der Akademie in Novi Sad arbeitete er an verschiedenen Theatern. Der Jugoslawien-Krieg veranlasste ihn vor 20 Jahren zur Emigration nach Deutschland. Heute lebt der 55-Jährige in Köln, unter anderem moderiert er bei der Deutschen Welle Sendungen in Romanes.

Nizaqete Bislimi ist ein anderes Beispiel. Die 34-jährige Anwältin aus Essen floh 1993 mit Eltern und Geschwistern aus einem albanischen Dorf in Kosovo in die Bundesrepublik. Ihr Antrag auf Asyl wurde nach 14 Jahren bewilligt. Mit eisernem Willen hat das Mädchen die Schule besucht, Deutsch gelernt, Abitur gemacht und Jura studiert. Dass sie eine Romni ist, hat sie lange verborgen, inzwischen bekennt sie sich offen dazu.

Größtes soziales Problem der Gemeinschaft

Nedjo Osman und Nizaqete Bislimi waren jüngst Teilnehmer einer Konferenz über die Bildungssituation der Roma in und aus Südosteuropa, die die Südosteuropa-Gesellschaft gemeinsam mit der Deutschen Welle in Bonn veranstaltete. Es war eines jener Treffen, auf denen Fachleute aus verschiedenen Ländern der EU seit Jahren die Lage der Roma diskutieren - das größte soziale Problem, das die Gemeinschaft der 28 Staaten noch zu bewältigen hat. Und wieder einmal offenbarte die Fülle der geschilderten Details, dass den bestehenden Schwierigkeiten mit Bierzelt-Parolen, wie sie nun vor dem Ende der Zuzugsbeschränkungen für Rumänen und Bulgaren am 1. Januar in Deutschland die Runde machen, nicht beizukommen ist.

Einfache Lösungen gibt es nicht, denn die Probleme wurzeln tief. Sie sind nicht neu, auch wenn sie durch den angestiegenen Zuzug von Roma aus Rumänien und Bulgarien ins Ruhrgebiet jetzt wieder ins Bewusstsein der Deutschen gehoben wurden. Es ist auch keineswegs so, dass die EU-Länder in Mittel- und Südosteuropa, wo die meisten Roma leben, bisher nichts zur Überwindung der Schwierigkeiten unternommen hätten. Allerdings, da sind die Experten sich einig, geschieht nicht genug - sowohl seitens der Regierungen als auch seitens der Betroffenen selber.

Die meisten Roma leben auf dem Balkan. Auf 1,8 bis zwei Millionen schätzt man ihre Zahl in Rumänien, mehr als 700.000 Roma leben jeweils in Bulgarien und Ungarn, je 400.000 oder mehr in Tschechien und der Slowakei, weitere in Serbien, Mazedonien, Slowenien. In Deutschland gibt es Sinti und Roma seit 600 Jahren, ihre Zahl wird heute auf etwa 120.000 veranschlagt.

Gemeinsam ist ihnen allen das Schicksal jahrhundertelanger Missachtung und Verfolgung. Ansonsten kann man die Roma, die größte transnationale Minderheit der EU, nicht als einheitliche Volksgruppe betrachten. Sie sind vielmehr in Tausende Ethnien, Sippen und Untergliederungen zersplittert. Nicht alle Roma sprechen noch Romanes, nur wenige ziehen noch umher. Neben Roma und Sinti gibt es weitere Gruppen, beispielsweise die als Kupferschmiede bekannten Kalderascha oder die Lovara (Pferdehändler), die sich stolz von anderen abheben.

Manche Roma-Bosse herrschen wie Mafiosi

Roma or Gipsy people in the Craica neighbourhood of Baia Mare, No

Ein Roma-Slum in der rumänischen Stadt Baia Mare.

(Foto: dpa)

Ins Auge springen indes die Roma-Slums am Rande vieler Städte in Mittel- und Südosteuropa, soziale Brennpunkte, die nach einem Bericht der UN anmuten wie "Inseln der Dritten Welt in der Ersten". Es mangelt dort an sauberen Unterkünften, an fließendem Wasser und Strom, an Arbeit, an Essen und gesundheitlicher Versorgung. Wohnungen sind hoffnungslos überbelegt, in manchen dieser Quartiere erliegen lungernde Männer dem Alkoholismus und der Drogensucht, junge Frauen werden zur Prostitution genötigt.

Die inneren Strukturen solcher Siedlungen sind manchmal ein Stück Mittelalter in der Gegenwart. Demokratische Beteiligung und rechtsstaatliche Verfahren sind unbekannt, die Macht liegt in den Händen weniger Männer. In der Siedlung Lunik IX am Rand von Košice in der Ostslowakei zum Beispiel ist Wucher eines der drückendsten Übel: Reichere Roma leihen ärmeren Mitbewohnern Geld zu aberwitzigen Zinsen, wie Insider berichten. Holt ein Verschuldeter im Sozialzentrum die Stütze ab, erwartet ihn oft schon ein Eintreiber und nimmt ihm das Geld wieder ab.

Aus mehreren bulgarischen Siedlungen ist bekannt, dass dort Roma-Bosse herrschen wie Mafiosi und jahrelang unter den Augen der Polizei andere Roma kujoniert und ausgebeutet haben. Sie terrorisierten auch andere Bulgaren, es kam deshalb zu Demonstrationen.

Rechtsextreme hetzen mit gegen "Zigeuner-Parasiten"

In Ungarn und Tschechien haben rechtsradikale Parteien die Probleme zum Anlass für aggressive Aufmärsche vor Roma-Siedlungen genommen. In beiden Ländern kam es auch zu Anschlägen, die mehrere Roma das Leben kosteten. Zum politischen Sprengsatz ist das Thema auch in der Slowakei mutiert, wo im November ein bekannter Rechtsradikaler bei einer Regionalwahl mit Hetzparolen gegen "Zigeuner-Parasiten" und "Roma-Kriminalität" sowie gegen den Euro und die Nato einen spektakulären Erfolg erzielte. Mit 55,5 Prozent der Stimmen wurde Marian Kotleba zum Präsidenten der Region Banská Bystrica gewählt, bei einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent.

Wenn aus solchen Vorgängen nun in Deutschland der Schluss gezogen wird, die Roma würden in Mittel- und Südosteuropa systematisch diskriminiert und wanderten deshalb in Scharen nach Westen aus, so ruft dies etwa in Bulgarien und Rumänien mitunter helle Empörung hervor. Ilona Tomowa beispielsweise, Soziologie-Professorin aus Sofia, verwahrt sich entschieden gegen solche Pauschalurteile. Zwar sei sie selbst entsetzt über manche Töne bulgarischer Politiker, doch seien die selber in großer Armut lebenden Bulgaren keines-wegs alle Roma-Feinde, sagt sie. Immerhin hätten die Bulgaren in der Nazi-Zeit verhindert, dass Juden und Roma aus ihrem Land in deutsche Lager verschleppt wurden. "Haben Sie keine Angst vor einer großen Einwanderungswelle aus Bulgarien", sagt Ilona Tomowa. "Wir sind nicht so gefährlich."

Unter Experten herrscht kein Zweifel, dass in den Roma-Siedlungen neben Armut und Arbeitslosigkeit vor allem das Elend des Unwissens bisher Verbesserungen verhindert. Nichts wäre wichtiger als die Eigeninitiative der Betroffenen. Zahllose Projekte setzen dort an, gefördert unter anderem von der EU-Kommission, die Milliarden bereithält, wenn die Mitgliedsländer konkrete Programme auflegen - mehr Geld, als abgerufen wird. Weitere Akteure sind die Weltbank und die Stiftung des US-Milliardärs George Soros.

Nicht nur Geld ist nötig, sondern viel Geduld

Es geschieht also etwas. In Widin zum Beispiel, einer Stadt in der Nordwestecke Bulgariens, der ärmsten Region der EU, sind in 13 Jahren mehr als 3000 Roma-Kinder in Bussen vom Stadtrand in Innenstadt-Schulen gefahren worden, damit sie mit anderen Kindern gemeinsam lernen konnten - "integrierte Erziehung" nennt man das. Mehr als 50 dieser Kinder haben ihren Weg auf die Universität gemacht, wie die Projekt-Koordinatorin Tzwetana Eugeniewa berichtet.

Nadir Redzepi, Projekt-Manager der Soros-Stiftung aus Budapest und ein international bekannter Roma-Aktivist aus Mazedonien, kann nicht weniger als 337 einzelne Projekte in Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Mazedonien und Serbien im Gesamtumfang von knapp 23 Millionen Euro anführen. Das Geld wurde unter anderem ausgegeben für Stipendien an Schüler und Studenten, für Vorschulkurse oder für die Ausbildung von Lehrern. Nötig war es auch für Initiativen, die verhindern, dass Kinder die Schule vorzeitig abbrechen, was in etwa der Hälfte der Fälle vorkommt - aus einer Vielzahl von Gründen, die alle mit der allgemeinen Not der Roma zu tun haben.

Das Problem ist eben äußerst komplex, für die Lösung braucht es nicht nur Geld, sondern noch viel mehr Geduld. Für Nedjo Osman, den Schauspieler und Journalisten aus Köln, ist klar, dass diese Lösung nicht von "den Gadsche" kommt, wie die Roma die Weißen nennen, sondern nur von den Roma selber. "Das müssen wir machen", sagt er. "Denn wir denken so, und wir müssen uns ändern."

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