Russland:Was den Pakt mit Putin brüchig macht

Russian President Putin makes his annual New Year address to the nation in the far eastern city of Khabarovsk

Mächtigster Mensch der Welt: Präsident Putin bei seiner Neujahrsansprache.

(Foto: REUTERS)

Der russische Präsident Putin hat seinem Volk einen Pakt aufgenötigt: Die Gesellschaft hält sich raus aus der Politik, dafür sichert die Politik den Bürgern ein kleines bisschen Wohlstand. Diese Abmachung gilt aber nur, solange die Wirtschaft floriert.

Ein Kommentar von Frank Nienhuysen

Es ist keine leichte Reise gewesen, denn Wladimir Putin hat fast sein ganzes Reich durchmessen. Er flog durch sieben Zeitzonen bis an die chinesische Grenze und sprach dort vor einem an die Wand geworfenen Kreml-Panorama zu Neujahr an sein Volk. Er stand breitbeinig in der beengten Wohnung einer Flutopfer-Familie und brach weiter auf in den russischen Süden. Dorthin, wo Terroristen gerade versuchen, Putins Traum von grandiosen Olympischen Winterspielen zu torpedieren, indem sie niederträchtig Dutzende Zivilisten töten. In Wolgograd streichelte der Präsident im weißen Kittel den Kopfverband eines Überlebenden, er legte Blumen nieder und sann auf Rache.

Putin steht gerade in einem Spannungsfeld zwischen Triumph und Tragödie. Vom Magazin Forbes erstmals zum mächtigsten Menschen der Welt gekürt, weil er seine Kontrolle über Russland gefestigt hat, muss er diese gleich wieder unter Beweis stellen. Auch dafür sind solche Bilder geeignet.

Russland, das größte Flächenland der Erde, wirkt dieser Tage wieder einmal wie ein Ein-Mann-Staat: Putins Amnestie-Streich zur Weihnachtszeit, seine Gnade für Michail Chodorkowskij, die Freilassung der Pussy-Riot-Frauen, und nun der Blick nach vorn auf Sotschi, vom Terror dunkel getrübt. Auch die Winterspiele und die neuerliche Gewaltperiode aber werden nur Marksteine sein auf dem Weg durch Putins Biografie, die längst nicht zu Ende ist.

2018 findet in Russland ein noch größeres globales Ereignis statt - die vier Wochen dauernde Fußball-Weltmeisterschaft. Läuft alles nach Plan, wird Putin dann gerade im Kreml-Palast für weitere sechs Jahre den Amtseid geschworen haben. Den Westen mag diese Aussicht ernüchtern, und doch spricht derzeit vieles dafür. Das System Putin zeigt sich beharrlicher, als es viele während der Protestwelle vor zwei Jahren vermutet hatten.

Der Präsident übersteht Massendemonstrationen und Terror, der ja seit Jahren schon Russland quält, er überlebt Korruptionsskandale in der Regierung, Hohn in Internet-Foren und Dauerkritik aus dem westlichen Ausland. Als sei eine Glocke über ihn gestülpt, kann ihn nicht einmal das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem russischen Staat politisch niederreißen. Putin ist allerdings bei Weitem nicht so beliebt, wie im Lande häufig suggeriert wird. Europäer wundern sich zudem, wie ein Mann mit solch derber Sprache sich halten kann, der Terroristen "bis aufs Scheißhaus" verfolgen will. Aber seine Macht wird daheim in Russland weitgehend akzeptiert. Putin hat dieses Machtgebäude nicht von Grund auf neu erschaffen, aber er hat es geformt und optimiert zu seinen Gunsten. Und zu einem hohen Preis.

Russlands Obrigkeitshörigkeit ist ein Ausfluss der langen autoritären Geschichte, in der Generationen von Zaren und Politbüro-Führern herrschten und die Gesellschaft mehr oder weniger mit Gewalt in Apathie hielten. Michail Gorbatschow hat dieses System aufgebrochen, Boris Jelzin, geschwächt durch sein krankes Herz und einen Ölpreis von nur 19 Dollar pro Barrel, hat eine staatliche Ruine und eine verunsicherte Gesellschaft hinterlassen, die Putin nach und nach mit strenger Hand wiederaufbaute. Damit wuchert er noch heute. Ihm kommt dabei zugute, dass der Begriff Demokratie seit dieser eher anarchistischen Jelzin-Epoche diskreditiert ist, und er tut viel dafür, dass dies so bleibt.

Der Westen hat seinen Einfluss überschätzt

In vielen Russen schlummert die Sehnsucht nach einem starken Anführer, auch oder gerade in den Provinzen und Millionenstädten jenseits des Urals, denen China und die Despotien in Mittelasien räumlich näher liegen als Frankreich, Italien oder Dänemark. Darüber können auch die jüngeren liberalen Eruptionen in Moskau nicht hinwegtäuschen. Nicht, dass Russen zu Revolutionen grundsätzlich nicht fähig wären, aber Putin führt doch dieses Modell der passiven, entpolitisierten Bevölkerung fort, die im Idealfall von der Moskauer Führung umsorgt wird.

Das funktioniert natürlich nicht einfach so. Das System Putin muss da schon kräftig nachhelfen: mit Einschüchterung und Repressionen, mit einer Armee von ehemaligen Geheimdienstlern an den Hebeln der Macht, mit staatlichen Fernsehsendern, die Putin zur täglichen Primetime makellos inszenieren, mit einem System der autoritären Erziehung, das Kindern in der Schule auferlegt wird und kaum Spielraum für Kreativität, Eigenständigkeit und kritisches Denken lässt.

Es ist wie ein unsichtbarer Pakt, den Präsident und Bevölkerung auf Druck des Kremls miteinander geschlossen haben: Die Gesellschaft hält sich raus aus der Politik, dafür soll diese im Bund mit der staatlich gelenkten Wirtschaft den Russen ihre Reise ins ägyptische Scharm el-Scheich sichern, nach Zypern oder wenigstens in den nächsten Schönheitssalon. Wer diesen Pakt aufkündigt wie der Blogger und Korruptionsankläger Alexej Nawalny, erfährt die Willkür der Justiz. Sie droht zumindest, denn Unsicherheit geformt in verschärften Gesetzen, ist eine Säule dieses Systems.

Putin kitzelt den Stolz auf die Nation

Doch auch dieses autoritäre Gefüge ist gefährdet, wenn die Wirtschaft hinter den Erwartungen zurückbleibt, wenn Wachstum sich in kümmerlichen 1,5 Prozent erschöpft. Putin weiß das, deshalb hat er das Bollwerk der Macht ideologisch verstärkt. Er macht Geschichte zum Instrument der Politik, preist etwa die gemeinsamen historischen Wurzeln mit der Ukraine, um Milliardenkredite und drastisch verbilligtes Gas vor der heimischen Bevölkerung rechtfertigen zu können. Und er setzt mehr denn je auf Patriotismus, kitzelt den Stolz auf die Nation, all dies im Bund mit der orthodoxen Kirche. Auch so will er die Mehrheit der Russen um sich scharen.

Die Frage vieler Europäer, ob Russland nun demokratietauglich oder doch eher demokratieresistent ist, lässt sich unter all diesen Umständen noch nicht beantworten. Der Westen jedenfalls hat seinen Einfluss auf dieses Land überschätzt, seitdem Jelzin einst die Rolle als Bittsteller ausfüllte. Doch ohne Möglichkeiten ist Europa auch jetzt nicht. Es könnte etwa seine starre Haltung in der Visa-Frage aufgeben, die Russland seit Langem ohnehin umtreibt.

Je mehr Russen erleben, wie sich freie Gesellschaften entwickeln, was bürgerliches Engagement bewirken kann, desto mehr könnten sie dies im eigenen Land einfordern - sofern sie es sich erlauben wollen. Bisher ist es allerdings so, dass sie Russland im Zweifel eher verlassen. Putin jedenfalls wird es nicht zulassen, dass sein System erodiert. Das hat ihn die verhältnismäßig liberale Präsidentschaft von Dmitrij Medwedjew gelehrt. Russland stehen noch stramme Jahre bevor.

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