Ermittlungen gegen SPD-Politiker:Der Fall Edathy - eine Chronik

Alles begann mit einer Verhaftung in Kanada: Wie der SPD-Politiker Sebastian Edathy ins Visier der Ermittler geriet und warum weiterhin viele Fragen offen sind.

2011

  • Mai 2011: Die kanadische Polizei verhaftet in Toronto einen 42-Jährigen, der seit sechs Jahren ein illegales Unternehmen für Produktion und Verkauf kinderpornografischen Materials betrieben haben soll. Über seine Webseite verkaufte der Mann Fotos und Videos in alle Welt. Nicht alles zeigt dabei sexuelle Handlungen, es geht auch um FKK-Bilder von Kindern. Die Ermittler geben der Aktion den Namen "Operation Spade" (Operation Spaten).

Mai 2011-2013:

  • Kanadische und amerikanische Behörden arbeiten daran, die Adressen von "Kunden" zu rekonstruieren. 348 Menschen werden im Zuge der Ermittlungen festgenommen, 386 Kinder können identifiziert werden. Das Bundeskriminalamt (BKA) erfährt 2012, dass der Versand auch 800 "Kunden" in Deutschland hatte.
  • Unter den Namen befindet sich auch der des SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy. Er soll zwischen 2005 und 2010 insgesamt neun Mal Material angefordert haben, auf dem neun bis etwa 14-jährige männliche Jugendliche zu sehen sein sollen. Bei den Bestellungen sollen unterschiedliche E-Mail-Adressen verwendet worden sein. Die Hannoveraner Staatsanwaltschaft spricht später von Material im kinderpornografischen "Grenzbereich", da keine sexuellen Handlungen, jedoch Genitalien gezeigt werden. Videos oder Bilder von nackten Kindern sind per se noch keine strafbare Kinderpornografie. In der Klassifizierung hat das BKA zu jedem der mutmaßlich von Edathy bestellten Filme die Worte "strafrechtlich irrelevant" notiert.

Oktober 2013

  • Interpol hat inzwischen dem BKA die von den Kanadiern gesammelten Informationen über die deutschen "Kunden" übermittelt, nach Angaben der Leipziger Volkszeitung erhielten diese auch alle 16 Landeskriminalämter. Die eingeschaltete Zentralstelle Internetkriminalität (ZIT) der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main bearbeitet Medienberichten zufolge die Akten und gibt sie im Falle eines Verdachts später an die jeweils zuständigen örtlichen Staatsanwälte weiter.
  • Klaus-Dieter Fritsche, zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär im Bundesinnenministerium, erfährt aus dem Bundeskriminalamt davon, dass Edathy bei internationalen Ermittlungen auf der Namensliste auftaucht. Das Bundeskriminalamt untersteht dem Innenministerium. Wie die Bild berichtet, hatte BKA-Chef Jörg Ziercke die Information weitergegeben.
  • Fritsche erzählt gegen Mitte Oktober seinem Dienstherrn, dem damals amtierenden Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), von der Angelegenheit. Friedrich habe aber nichts von der Art der Vorwürfe gegen Edathy erfahren, so der Sprecher des CSU-Politikers.
  • Am Rande der Koalitionsgespräche weiht Friedrich den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in die Angelegenheit ein. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann formuliert das in einer Erklärung so: "Dabei [bei den Vorwürfen, Anm. d. Red.] - so die damalige Auskunft an den Parteivorsitzenden - gehe es ausdrücklich nicht um strafbare Inhalte. Allerdings - so die damalige Auskunft weiter - werde es möglicherweise zu strafrechtlichen Ermittlungen kommen." Der Ausdruck "strafbare Inhalte" legt genauere Kenntnis über die Vorwürfe nahe. Friedrichs Sprecher Jens Teschke gibt als Begründung an: "Für den Minister war wichtig, dass es keine strafrechtlichen Vorwürfe waren." Aufgrund der "politischen Dimension" und der Gefahr einer Veröffentlichung der Namensliste habe Friedrich Gabriel informiert. Edathy ist zu diesem Zeitpunkt ein ernsthafter Kandidat für einen Staatssekretärs-Posten - zum Beispiel im Innenministerium.
  • Gabriel weiht Oppermann - damals Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion - und den damaligen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ein. Laut Oppermann vereinbaren die drei Politiker Vertraulichkeit, "um mögliche Ermittlungen nicht zu gefährden".
  • 17. Oktober: Oppermann ruft bei BKA-Chef Ziercke an und fragt nach, was an der Geschichte dran sei. Eine Bestätigung erhält Oppermann - anders als er später zunächst erklärt - nicht, er wertet das Schweigen Zierckes zur Causa als Signal, dass "ein Ermittlungsverfahren nicht ausgeschlossen ist".
  • 24. Oktober: Die Bremer Professorin Yasemin Karakaşoğlu erklärt, dass sie nicht für die SPD an der Unterarbeitsgruppe "Integration und Migration" der Koalitionsverhandlungen teilnehmen wird. Nun rückt plötzlich doch Sebastian Edathy nach, der zuvor nicht berücksichtigt worden war.
  • Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) erfährt Ende des Monats über Göttingens Polizeipräsidenten Robert Kruse von möglichen Ermittlungen gegen Edathy. Pistorius aber habe die Informationen "für sich behalten", wie ein Sprecher später erklärt. Edathys Wahlkreis "Nienburg II - Schaumburg" liegt in Niedersachsen.

November 2013

  • 5. November: Hannovers Staatsanwaltschaft erhält die Akte und beginnt mit der Prüfung, um über die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens zu entscheiden.
  • 8. November: Edathy spricht mit Oppermann über seine Karrierechancen in der künftigen Regierung. Zusagen gibt es keine.
  • 14. November: Die kanadischen Ermittler machen "Operation Spade" öffentlich - spätestens jetzt wissen alle "Kunden", dass ihnen Ungemach droht.
  • 27. November: Edathy schaltet den Rechtsanwalt Christian Noll ein, der am nächsten Tag bei den Staatsanwaltschaften Viersen und Berlin nach Ermittlungen gegen seinen Mandanten fragt. Edathy sitzt unterdessen für die SPD in der schwarz-roten Verhandlungsgruppe zum Thema "Integration und Migration".

Dezember 2013

Oppermann informiert seine Nachfolgerin als Parlamentarische Geschäftsführerin, Christine Lambrecht, über den Verdacht gegen Edathy.

Januar 2014

  • Anfang des Monats teilt Edathy der Fraktion mit, dass er krankgeschrieben sei. Am 17. Januar veröffentlicht er auf seiner Facebook-Seite ein Foto seiner Krankschreibung, die bis 28. Februar gilt.
  • 22. Januar: Edathys Rechtsanwalt spricht mit dem zuständigen Oberstaatsanwalt in Hannover. Er erklärte, wie aus Aktenstücken hervorgeht, dass sein Mandant solche Filme bestellt habe und nun fürchte, dass gegen ihn Ermittlungen eingeleitet würden. Edathy besitze diese Filme nicht mehr. Die Behörden geben keine Informationen zu dem bevorstehenden Verfahren.
  • 28. Januar: Die Staatsanwaltschaft Hannover entscheidet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Februar 2014

  • 6. Februar: Die Staatsanwaltschaft verschickt ein Schreiben an Bundestagspräsident Norbert Lammert, um diesen über die Ermittlungen zu informieren. Edathy legt mit Wirkung zum 7. Februar sein Abgeordnetenmandat nieder. "Gesundheitliche Gründe" hätten ihn zu dem Schritt bewogen. Am 6. Februar will sich Edathy auch das letzte Mal in seinem Bundestagsbüro aufgehalten haben.
  • 8. Februar: Edathys Rückzug wird öffentlich bekannt.
  • 10. Februar: Die Staatsanwaltschaft Hannover erwirkt die Durchsuchung von Büros und Wohnungen Edathys. Auch wenn ein Straftatbestand des einschlägigen Paragrafen noch "nicht erfüllt sein mag", spreche der Versand und Erwerb der Filme dafür, dass bei dem Besteller eine pädophile Neigung bestehe. Die Erfahrung lehre, dass der Besteller auch strafbares Material besitze. Bereits am Abend berichtet die Lokalzeitung Die Harke über die Hausdurchsuchung und veröffentlicht Fotos, die die Wohnung des Abgeordneten zeigen.
  • 11. Februar: Das Bundestagsbüro Edathys wird versiegelt. Die SPD-Parlamentsgeschäftsführerin Lambrecht wird nach den Gerüchten gefragt. "Die genannten Gründe - Besitz von Kinderpornographie - sind sehr schwerwiegend", sagt sie, erklärt aber dann, über die genauen Vorwürfe nichts zu wissen. Im Laufe des Tages geht Edathy in die Offensive und erklärt per Pressemitteilung: "Die öffentliche Behauptung, ich befände mich im Besitz kinderpornografischer Schriften bzw. hätte mir diese verschafft, ist unwahr."
  • 12. Februar: Ein weiteres Büro in Rehburg, das zunächst nicht bekannt war, wird durchsucht. Insgesamt finden die Ermittler bei allen Durchsuchungen zwei Computer, auf denen sie allerdings kein brisantes Material erwarten. Erst jetzt kommt der Brief der Staatsanwaltschaft vom 6. Februar beim Bundestagspräsidenten an, er ist nicht richtig verschlossen. Ein auf den 11. Februar datiertes Fax erreicht das IT-Referat des Bundestags: Edathy zeigt darin an, dass ihm am 31. Januar im Zug von Hannover nach Amsterdam sein Laptop gestohlen worden sei.
  • 13. Februar: Die Weitergabe der Informationen von Friedrich an die SPD-Spitze wird bekannt. Die Berliner und Hannover Staatsanwaltschaften wollen den Anfangsverdacht auf Geheimnisverrat prüfen.
  • 14. Februar: Die Staatsanwaltschaft geht mit ihren Erkenntnissen erstmals an die Öffentlichkeit. Landwirtschaftsminister Friedrich erklärt zunächst, nur im Falle der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn sein Amt aufzugeben. Doch die Kanzlerin entzieht ihm ihre Unterstützung - am frühen Abend erklärt er seinen Rücktritt. Er schließt mit den Worten "Auf Wiedersehen. Ich komme wieder."
  • 15. Februar: Auf einem CSU-Parteitag in Bamberg erhebt Horst Seehofer schwere Vorwürfe gegen die SPD. Er wirft dem Koalitionspartner und insbesondere Fraktionsführer Thomas Oppermann Vertrauensbruch und Geschwätzigkeit vor.
  • 17. Februar: Der SPD-Parteivorstand beschließt einstimmig, Edathys Parteimitgliedschaft mit sofortiger Wirkung ruhen zu lassen. Auf ihn kann damit ein Parteiordnungsverfahren zukommen, an dessen Ende der Ausschluss stehen kann. In einer Pressekonferenz kritisiert Parteichef Gabriel Edathy scharf, stützt aber seinen Fraktionschef Oppermann. Auch der zurückgetretene CSU-Minister Friedrich erhält von Gabriel Lob. Friedrich wird Vize-Fraktionsvorsitzender der Union, im Landwirtschaftsministerium folgt ihm Christian Schmidt nach. Edathy selbst reicht Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft Hannover ein, er sieht durch die Pressekonferenz am 14. Februar seine Persönlichkeitsrechte verletzt.
  • 18. Februar: Merkel, Gabriel und Seehofer treffen sich zum Krisengespräch. SPD-Justizminister Maas kündigt an, eine Verschärfung der Gesetze gegen Kinderpornografie zu prüfen. Diese Forderung hatten in den vergangenen Tagen einige Politiker erhoben. Der ehemalige niedersächsische Innenminister Heiner Bartling (SPD) berichtet, dass Edathy ihm gegenüber von einem Tippgeber berichtet habe.
  • 19. Februar: Oppermann, Gabriel und Ziercke stehen dem Innenausschuss Rede und Antwort. Sowohl der SPD-Fraktionsvorsitzende, als auch der BKA-Chef erklären, dass im gemeinsamen Telefonat keine Ermittlungen bestätigt worden seien. Später diskutiert der Bundestag in einer aktuellen Stunde das Thema, die Opposition übt scharfe Kritik.

März bis Juli 2014

  • 16. März: In einem Interview mit dem Spiegel bestreitet Edathy, pädophil zu sein und bezeichnet sich als Gegner von Kinderpornographie. Das Interview findet an einem unbekannten Ort in Südeuropa statt.
  • 2. Mai: Das LKA Niedersachsen präsentiert neue Vorwürfe gegen Edathy. Auf seinem Laptop sowie in seinem Büro und seinen Privaträumen sollen Bilder kinderpornografischen Inhalts, eine CD mit 45 angeblich jugendpornografischen Videos sowie Hefte mit angeblich jugendpornografischen Bildern gefunden worden sein.
  • 4. Mai: Edathy legt in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein. Die Ermittler, so Edathys Anwalt, hätten "aus einem nicht strafbaren Verhalten, nämlich den viele Jahre zurückliegenden Bestellungen in Kanada, auf das aktuelle Vorliegen einer Straftat geschlossen". Ein solcher Schluss sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zulässig. Ende August weist das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde zurück.
  • 2. Juli: Der Untersuchungsausschuss des Bundestages zu Edathy-Affäre tritt zusammen. Vorsitzende ist die SPD-Abgeordnete Eva Högl.
  • 17. Juli: Die Staatsanwaltschaft Hannover erhebt Anklage gegen Edathy. Dessen Anwalt Christian Noll sieht in der Anklageschrift "keine tragfähige Grundlage für einen Prozess." Das Landgericht Verden lässt die Anklage am 18. November zu.

November 2014 bis März 2015

  • 14. November: Der Bundestag verabschiedet ein Gesetzespaket, das Kinder besser gegen Kinderpornografie schützen soll. Der Verkauf oder Handel mit Nacktbildern von Kindern und Jugendlichen wird künftig mit bis zu zwei Jahren Haft oder einer Geldstrafe geahndet.
  • 18. Dezember: Edathy erklärt sich in einer Pressekonferenz in Berlin. Er gibt zu, dass die Bestellung der Filme ein Fehler gewesen sei. Strafrechtliche Konsequenzen hätte das aber seiner Meinung nach keine haben sollen: "Es war rechtmäßig in Ordnung, aber moralisch falsch, wie ich mich verhalten habe. In seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss belastet Edathy den SPD-Abgeordneten MIchael Hartmann: Der habe ihn im November 2013 über den Verdacht gegen ihn und später über die bevorstehenden Ermittlungen informiert. Hartmann schweigt.
  • 5. Februar: Bei seinem zweiten Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss verweigert Hartmann die Aussage. Laut einem Schreiben seines Anwalts sehe Hartmann "keine Chance (...) zur Sachaufklärung und Wahrheitsfindung beizutragen, weil tragende Mitglieder dieses Ausschusses daran gänzlich uninteressiert sind."
  • 20. Februar 2015: Niedersachsens Justizministerin enthüllt im Landtag, dass gegen den Celler Generalstaatsanwalt Frank Lüttig wegen des Verdachts des Geheimnisverrats im Fall Edathy ermittelt werde (und in mehreren Verdachtsfällen, die sich auf die Ermittlungen gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff beziehen). Lüttig soll geheime Informationen aus den Ermittlungen gegen die beiden Politiker an die Öffentlichkeit gebracht haben.
  • 23. Februar: Der Prozess gegen Sebastian Edathy beginnt im niedersächsischen Verden. Verteidigung und Anklage lassen dabei erkennen, dass sie sich eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage vorstellen können. Allerdings fordert die Staatsanwaltschaft zudem ein Schuldeingeständnis Edathys.
  • 2. März: Am zweiten Prozesstag wird das Verfahren gegen Edathy gegen eine Geldauflage eingestellt. Zuvor erfüllt der Ex-Politiker die Bedingung der Ankläger - und räumt ein, sich im Internet kinderpornografisches Material besorgt zu haben. Als Geldauflage muss Edathy 5000 Euro an den Kinderschutzbund Niedersachsen zahlen.
  • 3. März: Der Kinderschutzbund lehnt es ab, die 5000 Euro anzunehmen, die Edathy als Geldauflage zahlen soll. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass es möglich sei, sich von Vergehen gegen Kinder freikaufen zu können.
  • 10. März: Das Landgericht Velden bestimmt einen neuen Empfänger für Edathys Geldauflage. Die 5000 Euro sollen nun an den Jugend- und Kinderfeuerwehrverband Niedersachsen gezahlt werden.
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