Volksabstimmung in der Schweiz:Ende der Wirtschaftshörigkeit

Schweizer Volksabstimmung gegen Masseneinwanderung

Die Schweizer haben entschieden: Sie wollen die Zuwanderung in ihrem Land begrenzen.

(Foto: Michael Stahl/dpa)

Das Votum gegen die Masseneinwanderung ist nicht wirklich mit dem Argument von der Fremdenfeindlichkeit zu erklären. Es ist vor allem eine Entscheidung gegen Wirtschaftswachstum um jeden Preis - und für Schweizer Verhältnisse gefährlich kapitalismuskritisch.

Ein Kommentar von Wolfgang Koydl

Jetzt sind die Schweizer selber schuld an ihrem Unglück - an Zuwanderung, Wohnungsnot und S-Bahn-Gedrängel. Warum machen sie ihr Land auch so attraktiv für Ausländer? Sie müssten nur ihre lachhaft niedrigen Steuern auf ein europäisch verträgliches Niveau anheben, und schon würden keine Deutschen, Franzosen oder Italiener mehr hier arbeiten wollen. Wenn die Schweiz nur wäre wie Albanien oder Moldawien - alle Probleme wären gelöst. Bis auf Schweizer Armutsflüchtlinge, die dann im benachbarten EU-Ausland Zuflucht suchen dürften.

So komisch dieser Gedanke klingt, so sehr schlummert in ihm ein wahrer Kern. Jedenfalls trifft er die Gründe des Ja-Votums für die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung besser als das wohlfeile und falsche Argument von der Fremdenfeindlichkeit. Denn selbst wenn man unterstellen würde, dass alle Anhänger der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) Ausländerhasser sind, was nicht der Fall ist, würde dies das Resultat nicht erklären. Das Wählerpotenzial der SVP liegt bei 25 Prozent, aber doppelt so viele Schweizer haben Ja gesagt.

Misstrauen gegen die Wirtschaft

Das Votum war vielmehr auch eine Entscheidung gegen hemmungsloses Wirtschaftswachstum um jeden Preis - und damit für Schweizer Verhältnisse gefährlich kapitalismuskritisch. Nicht von ungefähr prangte auf den SVP-Plakaten das sperrige Wort "Maßlosigkeit" und nicht die eingängige Vokabel "Fremde". Erst allmählich dämmert es den Schweizern, wem sie eigentlich ihr Misstrauen ausgesprochen haben: ihrer Wirtschaft mit deren Unternehmen und Managern.

Jahrzehntelang gab es eine Konstante im Abstimmungsverhalten der Schweizer. Wenn es um Wohlstand und Wachstum ging, entschieden sie sich mehrheitlich im Interesse der Volkswirtschaft. Deshalb erlitt die 1:12-Initiative zur Zementierung fester Lohnspannen eine derart krachende Niederlage, deshalb erhöhen sich Schweizer Bürger immer mal wieder selbst die Steuern oder kürzen ihren Jahresurlaub.

Auch diesmal hatten der Industriellenverband Economiesuisse und die wirtschaftsnahen bürgerlichen Parteien die volkswirtschaftlichen Folgen einer Annahme der Einwanderungsinitiative in den schwärzesten Farben ausgemalt. Doch diesmal verfingen die Warnungen und Drohungen nicht.

Die Personenfreizügigkeit nützt der Wirtschaft, lautete das Kernargument der Gegner. Wirklich?, fragten sich viele Wähler. Nützt sie nicht vielmehr einzelnen Unternehmen, die preisgünstig in einem unerschöpflichen Pool von Arbeitskräften fischen können? Wir aber zahlen den Preis, angefangen bei Unannehmlichkeiten im Alltag über Wohnungsprobleme bis hin zur Sorge um den Arbeitsplatz.

Signal für Europa Eliten

Es ist schon das zweite Beispiel in kurzer Zeit, das zeigt, wie sehr der Rapport zwischen Bevölkerung und Wirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist. Letztes Jahr überraschte das Volk seine Politiker, seine Unternehmer, das Ausland und vermutlich auch sich selbst, als es die Abzocker-Initiative guthieß, die Manager-Boni Kontrollen unterwirft. Der einst so mächtige Unternehmerverband hat sich von dieser Niederlage bis heute nicht erholt. Die neue Schlappe von vergangener Woche beweist es. Die nächste Nagelprobe droht schon im Mai, wenn die Schweizer über einen Mindestlohn befinden.

Das Unwohlsein angesichts einer außer Rand und Band geratenen Wirtschaftselite, die nur die eigenen Mitglieder opulent zu entlohnen scheint, treibt indes nicht nur Schweizer um. Deshalb hat ihre Entscheidung in Europa ein derart lebhaftes, positives Echo ausgelöst. Von diesem Signal sollten Europas Eliten aufgeschreckt werden - und nicht von der Furcht vor dumpfer Fremdenfeindlichkeit.

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