Erste Pauschalreise in die Schweiz:Nepp in den Alpen

Miss Jemimas Journal Rogner & Bernhard

Mit Jemima durch die Alpen: Im Journal finden sich außerdem liebevolle Illustrationen.

(Foto: Rogner & Bernhard)

Wie das wohl war, 1863 eine Pauschalreise in die Schweiz zu unternehmen? Miss Jemima hat über ihre Erlebnisse mit Wucherpreisen und lästigen Mitreisenden Tagebuch geführt. Nun erscheint das amüsante Journal auf Deutsch.

Von Stefan Fischer

Ob all das, was heutige Pauschalurlauber twittern und posten, bewerten und mailen, in 150 Jahren noch jemanden interessieren wird? Womöglich schon, weil sich an diesen Meinungsäußerungen ablesen lassen wird, wie das damals war, zu Beginn des 21. Jahrhunderts: das mit dem Urlaub und dem Reisen.

Die Schwierigkeit wird voraussichtlich sein, die Fülle des Materials zu filtern. Ganz anders verhält es sich mit der Frühzeit des Pauschalurlaubs vor 150 Jahren, aus der es kaum Zeugnisse gibt. Zwar existiert das Genre der Reiseliteratur bereits seit Jahrhunderten, es dokumentiert aber im Grunde bis heute nahezu ausschließlich individuelle Abenteuer.

Insofern ist es hocherfreulich, dass bei Rogner & Bernhard nun "Miss Jemimas Journal" erstmals in deutscher Übersetzung erscheint: Es ist der Bericht der damals 31-jährigen Britin Jemima Morrell aus dem Lake District, die 1863 teilgenommen hat an der ersten von Thomas Cook durchgeführten (und zwar persönlich, jedenfalls in Teilen, ehe ihn die Geschäfte wieder nach Hause riefen) Pauschalreise in die Schweiz und zum Mont Blanc. Dieses Journal hat einen beträchtlichen historischen Wert, und es ist unabhängig davon geistreich und amüsant.

Ihre Aufzeichnungen beginnt Jemima Morrell wie ein Theaterstück, mit einer Auflistung der "Dramatis Personae". Dieses Personenverzeichnis erlaubt ihr, die wichtigsten Reisegefährten handstreichartig gleich zu Beginn zu typologisieren. Auf kleinstem Raum setzt Morrell eine Vielzahl verbaler Nadelstiche. Man ahnt da bereits, dass jemandem, der als "der Artillerist" eingeführt wird, die Rolle des Narren zufallen wird. Und ist gespannt auf Miss Eliza und Miss Mary, die "fahrenden Calvinistinnen".

Formal ist "Miss Jemimas Journal" kein Bühnenstück, doch die Autorin nimmt bei Theaterkomödien reichlich Anleihen: Sie gestaltet Rollen, die ihre Reisebegleiter und Urlaubsbekanntschaften - ob wissentlich oder nicht - trefflich erfüllen. Und berichtet von dieser Reise in Szenen, Auftritten, starken Abgängen; mit Gespür für die Spannungserzeugung, fürs Melodramatische und mit - man muss es sagen: britischem - Talent für Witz.

Ein Septett aus Cooks Reisegruppe hat sich zum Junior United Alpine Club zusammengeschlossen, vier Damen und drei Herren, darunter die Autorin und die beiden Calvinistinnen, von denen der Club eine zur ehrenamtlichen Exkursionsärztin ernannt hat.

Wehe, wenn es mal länger dauert

Bei Jemima Morrell paaren sich Selbstsicherheit und Understatement, Ernsthaftigkeit und Selbstironie. Stolz und zugleich despektierlich heißt sie sich und die drei übrigen Damen an einer Stelle Bergamazonen. Morrell tritt weder hochmütig auf, noch macht sie sich klein. Sie war eine patente, gebildete Frau, die sich so leicht nicht einschüchtern ließ - und sie war lernbegierig, wusste nicht bereits alles im Vorhinein.

Miss Jemimas Journal Rogner & Bernhard

Cover von "Miss Jemimas Journal"

(Foto: Rogner & Bernhard)

Was nicht bedeutet, dass sie naiv gewesen wäre. Es gibt mehrere Stellen in ihrem Journal, an denen sie sich über so manchen Nepp beklagt. Manchmal bewundert sie insgeheim auch die Geschäftstüchtigkeit der Einheimischen, die ihr an den Geldbeutel gehen: Auf einer Bergtour im Mont-Blanc-Massiv versperren vier junge Frauen dem Junior United Alpine Club den Weg, halten den Durstigen Gläser mit Wasser entgegen. Die englischen Wanderer packen begierig zu und zahlen den geforderten Preis (über den Morrell sich diskret ausschweigt) - "bevor wir die Quelle selbst entdecken, aus der sie ihre Ware bezogen haben".

Zuvor schon hatten sich die Pauschalurlauber in Chamonix mit Wanderstöcken ausstaffiert, für die sie umgerechnet zwei englische Pfund das Stück bezahlen, "obwohl sie eigentlich acht Pence kosten sollten", wie Morrell findet, also nur ein Sechzigstel. "Aber wir zahlten fröhlich, denn so lange dieser offizielle Ausweis des Alpenreisenden nicht erworben war, fühlten wir uns wie die reinsten Anfänger."

Die Aufzeichnungen offenbaren, wie viel von dem, was Pauschalurlaube kennzeichnet, schon in seinen Anfängen angelegt ist - sowohl auf Seiten der Reisenden als auch der Gastgeber. Und es spricht für die Aufgewecktheit von Jemima Morrell, dass sie diese Dinge wahrnimmt: Weil eine Pauschalreise einem festen Muster folgt, erfasst die Teilnehmer sofort Ungeduld, wenn es Verzögerungen gibt. Und das Bedauern, für diesen Ort und jene Sehenswürdigkeit nicht genügend Zeit zu haben, ist der Reise als Grundmelodie eingeschrieben.

Morrell mokiert sich über lästige Mitreisende, mit Kritik an den Gewohnheiten der Schweizer hält sie sich indessen zurück. Nur bei offenkundiger Unverschämtheit, die nicht mehr als landestypische Sitte durchgehen kann, gibt es einen Eintrag ins Journal. Und ohne eine Antwort zu kennen, thematisiert Morrell die Frage, wo die Neugier des Touristen in Voyeurismus umschlägt.

Jemima Morrell: Miss Jemimas Journal. Eine Reise durch die Alpen. Aus dem Englischen von Heike Steffen. Verlag Rogner & Bernhard, Berlin 2014. 160 Seiten, 17,95 Euro. Erscheint am 26. März.

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