Migration: Festung Europa:"Patras ist die Hölle für Flüchtlingskinder"

Schläge, Elend, Rechtlosigkeit - an der griechischen EU-Außengrenze werden Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak systematisch misshandelt. Karl Kopp, Vorstandsmitglied des Europäischen Flüchtlingsrates, prangert die katastrophalen Zustände an.

Marcel Burkhardt

Als Europareferent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl dokumentiert Karl Kopp (48) das Leiden der Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen seit Jahren. Derzeit befindet er sich auf seiner siebten Recherchereise durch Griechenland. Das Ziel der Mission sind die Inseln der nordöstlichen Ägäis. Lesbos, Samos und Chios sind ein zentraler Einreiseweg für Flüchtlinge auf dem Seeweg.

Migration: Festung Europa: Karl Kopp: "Wir brauchen mehr Solidarität zwischen den EU-Staaten."

Karl Kopp: "Wir brauchen mehr Solidarität zwischen den EU-Staaten."

(Foto: Foto: Pro Asyl)

sueddeutsche.de: Was erleben Flüchtlinge an Europas Außengrenze in Griechenland?

Karl Kopp: Die Menschen, die über das Meer kommen, berichten übereinstimmend von systematischen Misshandlungen durch die griechische Küstenwache. Die griechische Polizei denkt, dass sie unsanktioniert zuschlagen kann. Es gibt sogar einen dokumentierten Fall von Folter: Beim Aufgriff von 45 Flüchtlingen vollzog die Küstenwache während des Verhöres Scheinhinrichtungen, setzte Elektroschocker ein und wandte die Foltertechnik des Waterboarding an, indem der Kopf immer wieder gewaltsam unter Wasser gedrückt wurde.

Ein weiteres Muster: Flüchtlinge werden systematisch zurückgewiesen - oft in einer lebensgefährdenden Weise. In Griechenland kommen vor allem Menschen aus den großen Krisenherden der Welt an - darunter viele Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak. Sie suchen Schutz im gelobten Europa, doch ihre Boote werden von der Küstenwache aufgebracht und in türkische Gewässer zurückgezogen.

sueddeutsche.de: Was wird dann aus den Menschen?

Kopp: Flüchtlinge werden auf dem offenen Meer ihrem Schicksal überlassen. Einige stranden auf unbewohnten Inseln zwischen dem griechischen und dem türkischen Festland. Es sind sogar Kinder und Jugendliche dort von der griechischen Küstenwache ausgesetzt worden. Ohne Wasser, teilweise nur unzureichend bekleidet, ohne Schutz vor der Sonne. Diese Minderjährigen wurden erst nach Tagen von zivilen Schiffen oder der türkischen Küstenwache gerettet.

sueddeutsche.de: Andere schaffen es bis nach Griechenland. Allein im vergangenen Jahr sollen circa 50.000 Flüchtlinge dort gestrandet sein. Was widerfährt ihnen, wenn sie griechischen Boden erreichen?

Kopp: Alle neu ankommenden Menschen werden bis zu drei Monaten inhaftiert - darunter Babys, Familien, Behinderte, Folteropfer, Schwerkranke. Unter den afghanischen Flüchtlingen sind viele Kinder, die ohne Eltern oder Geschwister unterwegs sind. Wir haben Mädchen und Jungen in Haft gesehen, die gerade mal zehn Jahre alt waren.

sueddeutsche.de: Unter welchen Bedingungen sind diese Menschen inhaftiert?

Kopp: Aus Berichten von Flüchtlingen und griechischen Menschenrechts- organisationen wissen wir, dass Flüchtlinge im Westteil und im Inneren Griechenlands aufgegriffen werden und zum Teil durch das ganze Land gekarrt werden an den Evros, den Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Dort herrschen Zustände, die kann man nicht mal mehr mit Dritte-Welt-Verhältnissen bezeichnen. Es ist fast unmöglich, ein Gericht anzurufen, das eine Abschiebungshaft-Entscheidung überprüft.

Im April war ich mit einigen griechischen Anwälten in Peplos. Dort waren zeitweise 300 Menschen in einem - ja man kann nur sagen - Schweinestall untergebracht; einem verrotteten Lagerhaus, umgeben von Stacheldraht. Nachts kamen die Ratten. Die Leute waren zusammengepfercht, mussten auf dem schmutzigen Boden schlafen. Es gab kein brauchbares Trinkwasser, keine Dusche. Keiner der wachhabenden Polizisten konnte uns sagen, wer da inhaftiert ist. Es gab einfach keine Registrierung der Insassen. Und das in der EU! Wenige Meter hinter diesem Haftlager befindet sich die Grenze zur Türkei. Bereits seit einiger Zeit beobachten griechische Rechtsanwälte, dass in der Evros- Region Flüchtlinge nachts illegal über den Grenzfluss in Richtung türkisches Territorium getrieben werden.

Lesen Sie auf Seite 2, welchen Gefahren Flüchtlingskinder in Griechenland ausgesetzt sind und was reiche EU-Länder wie Deutschland Karl Kopp zufolge tun müssten, um diese Menschen zu schützen.

"Patras ist die Hölle für Flüchtlingskinder"

sueddeutsche.de: Was geschieht mit den Menschen, die dem Schicksal langer Haft in Griechenland entkommen?

Peplos, Griechenland, Flüchtlinge

Am Ende des Traumes vom gelobten Europa: Flüchtlinge in griechischer Haft, umgeben von Gittern und Stacheldraht.

(Foto: Foto: Karl Kopp)

Kopp: Die werden ins Nichts entlassen. Die Kinder zum Beispiel bekommen keinen Vormund. Der eigentlich zuständige Staatsanwalt für Minderjährige wird nicht eingeschaltet. Sie sind auf sich allein gestellt. Wenn sie das Geld aufbringen, reisen sie nach Athen - alle versuchen das. In den öffentlichen Parks leben obdachlose Flüchtlingskinder, ohne jede soziale Fürsorge.

sueddeutsche.de: Der griechische Staat kümmert sich überhaupt nicht um sie?

Kopp: Das Gesetz sieht zwar Maßnahmen vor. Aber in der Realität existiert kein Schutzsystem für diese Kinder. Wer nach Griechenland einreist, muss sich selbst helfen, muss stark sein. Die Kinder, die Schwachen, die Traumatisierten fallen da automatisch durch den Rost.

sueddeutsche.de: Pro Asyl hat das Beispiel des 15-jährigen afghanischen Jungen dokumentiert, der tot auf einem Lkw entdeckt wurde. Er erstickte als blinder Passagier während der Überfahrt von Griechenland nach Italien ...

Kopp: Das ist eines der traurigsten Kapitel dieser Geschichte. Wenn Flüchtlingskinder Griechenland verlassen und in ein anderes EU-Land einreisen wollen, werden sie gezwungen, ihr Leben erneut zu riskieren. Der Fährhafen von Patras ist voll von Kindern wie diesem Jungen aus Afghanistan. Wir haben an einem Tag 200 Minderjährige angetroffen, die total ausgehungert und verdreckt waren.

Fünf schwerverletzte Kinder mit Knochenbrüchen mussten wir ins Krankenhaus bringen. Da hatte die Hafenbehörde zuvor hart zugeschlagen, als sie die Kinder auf ihrem illegalen Weg nach Italien aufgriff. Patras ist die Hölle für Flüchtlingskinder! Schläge sind die Regel. Keiner fragt: Was ist mit dem Kind? Was braucht es? Leben irgendwo Verwandte in Europa? Viele könnten ohne großen Aufwand mit ihren Familien zusammengeführt werden. So aber leben sie schutzlos, als potentielle Opfer von Ausbeutung jeglicher Art. Sie haben nicht einmal einen sicheren Schlafplatz, keine Chance, zur Ruhe zu kommen.

sueddeutsche.de: Nach einem aufsehenerregenden Bericht Ihrer Organisation versprachen griechische Behörden gründliche Untersuchungen. Was ist daraus geworden?

Kopp: Außer Lippenbekenntnissen leider nichts. Die Situation ist unverändert. Solange die Akteure von Misshandlungen - Polizisten und Grenzschützer - ungestraft davonkommen, wird sich nichts ändern an den massiven Verletzungen der Menschenrechte.

sueddeutsche.de: Griechenland scheint mit der Flüchtlingssituation überfordert zu sein. Warum helfen nicht die anderen EU-Staaten?

Kopp: Große, etablierte EU-Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien machen es sich zu einfach. Sie haben eine Zuständigkeitsregelung - die sogenannte Dublin-II- Verordnung - geschaffen, die ihnen die Verantwortung abnimmt. Diese Verordnung besagt, dass jeder Asylsuchende nur einen Asylantrag innerhalb der EU stellen kann - und zwar in der Regel in jenem Land, wo er zum ersten Mal den Boden der EU betreten hat. Die Staaten im Innern der EU verlagern die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme an die Außengrenzen, an die kleineren, schwächeren Staaten. Und diese wehren Flüchtlinge vermehrt brutal ab.

sueddeutsche.de: Und wie aus anderen EU-Ländern werden auch aus Deutschland jede Menge Asylsuchende nach Griechenland zurückgeschickt ...

Kopp: ... Nun gibt es aber in Griechenland kein funktionierendes Asylsystem. Von mehr als 25.000 Antragstellern erhielten 2007 in der ersten Instanz genau acht Asyl, in zweiter Instanz noch einmal 132. Griechenland besitzt auch kein Aufnahmesystem. Aktuell gibt es nur knapp 750 Unterkunftsplätze im ganzen Land, aber über 2000 Haftplätze für Flüchtlinge und Migranten. Das nach seiner Einwohnerzahl sieben mal kleinere Griechenland hat im Jahr 2007 ein Viertel mehr Asylsuchende registriert als Deutschland. Dies zeigt, wie unfair dieses Dublin-System ist.

Ich bin selbst schon Abgeschobenen nachgeflogen. Da gibt es traurige und völlig absurde Geschichten wie diese: Ein iranischer Flüchtling kam vergangenen Oktober am Frankfurter Flughafen an; er wurde sofort inhaftiert - wegen des Verdachts, dass Griechenland zuständig sein könnte. Nach drei Monaten Haft wurde der iranische Asylsuchende nach Griechenland abgeschoben. Im Athener Flughafen wurde er erneut inhaftiert. In dem Gewahrsam für Flüchtlinge hat ihn ein Polizist über seine Asylgründe befragt, auf Griechisch. Der Asylsuchende spricht aber kein Griechisch. Nach zehn Tagen wurde der Mann entlassen - in die Obdachlosigkeit. Er befindet sich zwar offiziell im Asylverfahren. Sein Antrag wird aber mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelehnt. Dieser Mann hatte nie eine faire Chance, seine Fluchtgeschichte vorzutragen.

sueddeutsche.de: Wie sollte sich Europa Ihrer Meinung nach verhalten? Was müsste sich ändern, um die Situation der Flüchtlinge entscheidend zu verbessern?

Kopp: Wir brauchen mehr Solidarität zwischen den EU-Staaten und mehr Humanität gegenüber Flüchtlingen, nicht diesen Verschiebebahnhof. Für Flüchtlinge ist es fatal, wenn sie in ein Land zurückgeschickt werden, in dem es kein funktionierendes Asylsystem gibt. Ein irakischer Flüchtling hat fast null Prozent Anerkennungschance in Griechenland. In Deutschland sind es über 70 Prozent in der ersten Instanz. Dieses Lotteriespiel muss aufhören. Die zutiefst unfaire und inhumane Dublin-II-Verordnung der EU muss abgeschafft werden.

sueddeutsche.de: Immer wieder wird der ungerührte Blick auf jene Menschen beklagt, die in Europa Hilfe suchen. Mangelt es den Europäern an Mitgefühl?

Kopp: Einerseits stelle ich sowohl in Griechenland als auch in anderen EU-Ländern fest, dass immer mehr Menschen den himmelschreienden Skandal nicht mehr hinnehmen wollen, dass massenhaft Menschen an den europäischen Außengrenzen sterben oder in einem ganz elendigen Zustand hier ankommen. Die Bevölkerung will nicht, dass täglich Leichen an ihre Strände angeschwemmt werden oder Menschen misshandelt werden im Namen Europas. Anderseits gewöhnen sie sich an viele Grausamkeiten des Alltags.

sueddeutsche.de: Was meinen Sie damit?

Kopp: Früher war es zum Beispiel in Deutschland nicht normal, dass neu angekommene Asylsuchende inhaftiert wurden. Heute kommt es wegen dieser europäischen Zuständigkeitsregeln immer häufiger vor, dass ein Schutzsuchender von Stunde eins an inhaftiert wird - und dieser Tabubruch wird nicht öffentlich thematisiert. Gleiches gilt für die Abschiebung. Viele denken: Ach ja, in der EU werden die Flüchtlinge in jedem Land ähnlich behandelt. Aber weit gefehlt. Die Abschiebung nach Griechenland bedeutet für den betroffenen Menschen Elend und Rechtlosigkeit.

Menschen, die sich nichts zuschulden kommen haben lassen, sondern Schutz suchen, werden einfach weggesperrt und ohne Rücksicht abgeschoben - dieser Skandal ist im Bewusstsein vieler Europäer noch nicht präsent.

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