Oscar-Preisträger aus München:Der König der Kurven

Oscar-Preisträger aus München: Alexandre Espigares mit seiner Trophäe.

Alexandre Espigares mit seiner Trophäe.

(Foto: Robert Haas)

Alexandre Espigares ist Animator: Er sitzt tagelang vor dem Computer und verwandelt Filmschnipsel in digitale Spektakel. Vor vier Wochen hat er den Oscar gewonnen für "Mr Hublot", als besten animierten Kurzfilm. Ein Besuch.

Von Philipp Crone

Zwei Zehntelsekunden, das ist der Unterschied. Zwischen richtig gut und durchschnittlich. Die linke Hand greift nach dem Gegenstand auf dem Tisch, zwei Zehntel, die Finger umschließen ihn, zwei Zehntel, dann heben sie ihn hoch, vier Zehntel. So lange dauert es, wenn Alexandre Espigares diese Szene in seinem Computer digital animieren würde.

Ein nicht so versierter Animator - so heißen die Leute, die früher Trickfilmer genannt wurden- würde die Hand den Gegenstand wohl in zwei Zehntelsekunden anheben, und das würde der Zuschauer merken. Niemand kann einen schweren Gegenstand heben wie eine leere Bierdose.

Die linke Hand gehört Alexandre Espigares, der Gegenstand darin ebenso. Ein Oscar, 3,6 Kilogramm schwer. "3,8", sagt Espigares im Dachgeschoss eines Schwabinger Hinterhofs beim Filmunternehmen Arri. Ein Kollege läuft vorbei, schaut auf die Figur, dann auf den Mann im blaurot karierten Hemd, Jeans und grünen Sneakern. "Hi!", sagt Espigares kurz. Es scheint ihm fast unangenehm zu sein, mit der Statue erwischt zu werden. Was soll ich machen? Sie haben mir den Oscar gegeben und jetzt wollen ihn alle sehen und mit mir sprechen.

Vor vier Wochen hat Alexandre Espigares den Oscar gewonnen für "Mr Hublot", als besten animierten Kurzfilm. Der 36-Jährige, der dem australischen Schwimmer Ian Thorpe ein wenig ähnelt, hat Regie geführt, zusammen mit dem Franzosen Laurent Witz. Bei der Ehrung stand er neben Witz auf der Bühne, sah ins Publikum und sagte kein Wort.

Hublot ist eine Maschine, die manifestierte Perfektion

Seitdem ist sein Leben noch mehr in Bewegung geraten als es ohnehin schon war, für jemanden, der beruflich Dinge bewegt und der beruflich in Bewegung ist. Jemand, der ein wenig so wirkt wie Mr. Hublot im Film, eine sympathische Figur mit mechanischer Präzision. Hublot ist eine Maschine, die manifestierte Perfektion, eingeschaltet oder ausgeschaltet, auf 1 oder auf 0. Sie wird aus der Bahn geworfen von einem obdachlosen Eisenhund. Espigares' Hund ist der Oscar.

1 oder 0. Beim Arbeiten. Espigares sitzt täglich stundenlang vor zwei Bildschirmen. Nur der Zeigefinger seiner linken Hand tippt ab und an auf eine Taste, die rechte Hand führt mit kaum sichtbarem Zucken einen Stift über ein Touchpad.

Es ist dunkel in seinem Arbeitsraum an diesem Mittag. Hier werden aus Filmfetzen digitale Spektakel. Digital erschaffene Figuren stürzen sich in den Kampf, fliegen durch die Luft. Gerade arbeitet Espigares an einer Figur für den Film Saphirblau, die Fortsetzung von Rubinrot. Mehr darf man noch nicht wissen. An drei Filmsekunden arbeitet Espigares etwa eine Woche. In geheimer Stille bewegen sich die Kunstfiguren, erschaffen von regungslosen Animatoren. Espigares hat sich eingeschaltet. Konzentration auf 1, Vorstellungskraft 1, Bewegung 0, Oscar 0.

Präzise Antworten auf 1. "Gute Arbeit ist, wenn man sie nicht sieht." Wenn der Zuschauer der Hand dabei zusieht, wie sie den Oscar hochhebt, und es ihr ganz natürlich vorkommt. Espigares zeigt grauen Digitalformen in seinem Rechner, wie sie sich menschlich bewegen. Wenn er zum Beispiel Mr Hublot einen Knopf drücken lässt, bewegt sich der Finger nicht gerade zum Knopf. "Dabei bewegen sich Finger, Hand, Arm und Schulter." Dann erst verhält sich Hublot, als wäre er Espigares.

Eine Grundregel: Keine Bewegung ist gerade. "Wir bewegen uns nur in Kurven." Espigares ist der König der Kurven. Manche Bewegungen sind reine Routine, etwa der Gang einer normalen Figur. "Aber wenn sie dann einen schweren Gegenstand werfen soll, wird es schon kompliziert." Manchmal stellen sich die Animatoren dann zusammen und filmen sich bei der gewünschten Bewegung, um sie nachvollziehen zu können. Um die richtigen Kurven zu kriegen.

Espigares sitzt am Ende der Animationskette. Wenn ein Drehbuch zu einem Film fertig ist, wird gezeichnet, wie Espigares das gelernt hat, nach dem Abitur in Luxemburg. Er zeichnete schon in der Schule gerne, es gab diese Trickfilmschule, da konnte man das zum Beruf machen, und außerdem "hatten die einen Kaffeeautomaten".

"Nach den Zeichnern kommen die Character-Designer"

Ian Thorpe lächelt. Kaffee, Computer und Musik im Ohr, das braucht er zum Arbeiten. "Meine Freundin sagt, ich trinke zu viel, drei Tassen", sagt er. Lächeln auf 1. Die Freundin arbeitet auch in der Branche, sie läuft an ihm und seinem Oscar vorbei, holt Besteck, setzt sich auf die Dachterrasse und isst Salat aus einer Plastikbox.

"Nach den Zeichnern kommen die Character-Designer." Die entscheiden, wie die Figuren aussehen, wie groß sie sind. Als nächstes ist der Modellierer dran, er schafft ein Model der Figur, das dann der sogenannte Rigger mit einem Skelett versieht. "Er setzt die Dreh- und Angelpunkte so ein, dass das Skelett möglichst menschlich ist." Espigares bewegt diese Punkte, die grauen Figuren erwachen zum Leben. Als letztes erhalten sie aufwendige Oberflächen, Kleider, Lichtreflexionen. So ist die grobe Reihenfolge.

Man könnte sagen, Animator ist die Königsdisziplin, nur Espigares selbst würde das nicht sagen. Eitelkeit auf 0, Selbstgefälligkeit 0. Er trägt den Oscar, in einer Jutetasche verpackt, im Rucksack zusammen mit seinem privaten Laptop. "Ein Steinzeitmodel", von 2010, das linke Plastikscharnier des Bildschirms ist abgebrochen. "Wenn ich einen schnelleren brauche, nehme ich den meiner Freundin."

Dominik Trimborn, Chef im Bereich Visual Effects bei Arri, weiß, dass man die Arbeit hier nicht leicht erklären kann, er zeigt deshalb als erstes einen Film. Darin läuft ein Mann mit seinem Pferd durch eine tiefe Schlucht, Berge im Hintergrund. Im nächsten Moment sieht man, dass die beiden nur vor einer winzigen grünen Wand laufen, einem Greenscreen, alles andere ist nicht echt, nur echt gut erschaffen.

Nur mal eine Kaffeepause zwischendurch

Als zweites sagt Trimborn, dass Espigares kein Nerd sei. Denn er weiß auch, dass vielen in der Branche dieser Ruf vorauseilt. "Die können unglaublich konzentriert arbeiten, über viele Stunden." Nur mal eine Kaffeepause zwischendurch. Jan Stoltz von der Firma Trixter, bei der Espigares vorher gearbeitet hat, sagt: "Alex ist zurückhaltend, fast schüchtern und witzig, ganz Animator."

Es ist nicht so, dass Espigares dauernd den Arbeitgeber wechseln will. Er muss. "Am Anfang hatte ich noch Verträge über ein Jahr, aber oft sind es Engagements für wenige Monate." In sieben verschiedenen Ländern hat der 36-Jährige gelebt in den vergangenen zwölf Jahren, derzeit wohnt er in München. "Man hofft immer, dass es dort, wo man gerade ist, einen Anschlussvertrag gibt." Vielleicht hilft da die 3,8-Kilo-Figur, denn auf den nächsten Filmen wird vermerkt sein: "Von Oscar-Gewinner Alexandre Espigares."

Bewegung auf 1. Espigares spricht mit kurvigen Gesten, am liebsten darüber, was seine Arbeit ist, über jedes Detail, von einem Aspekt zum nächsten, als wären sie über Dreh- und Angelpunkte verbunden. Nur wenn es um den Oscar geht, antwortet er kurz. "Mein erster Gedanke war, als sie unseren Namen gesagt haben: Jetzt wird es richtig stressig." Sein zweiter: Die linke Treppe nehmen, nicht die mittlere.

Die Oscar-Nacht. Espigares hält seine Plastikflasche mit Apfelschorle zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, um mit den restlichen Fingern gestikulieren zu können, schaut über München in der Mittagssonne und sagt: "Alle kommen hinterher und sagen congratulations zu dir. Aber es wirkt alles so irreal, die ganze Stadt ist doch irgendwie aus Pappe. Richtig gefreut habe ich mich über die Glückwünsche meiner Freunde und Familie, da weiß ich, was das Lob bedeutet."

Ein Kollege trägt sechs Pizzakartons über die Schwabinger Terrasse

Aufrichtige Anerkennung. Dieses Gefühl hatte er auch am Abend, ein paar Stunden nach der Verleihung. Auf dem Weg zur wichtigsten Aftershow-Party, der von Vanity Fair, hielt die Hublot-Crew, um etwas zu essen. Espigares im Smoking, mit dem Oscar in der Hand. Die Besitzerin gratulierte und spendierte das Essen. "Da habe ich zum ersten Mal wirklich verstanden, was gerade passiert ist."

Ein Kollege trägt sechs Pizzakartons über die Schwabinger Terrasse, die Apfelschorle in der Flasche schwappt hin und her, als Espigares sagt: "Seitdem habe ich viele Mails bekommen, auch von wichtigen Leuten, die sich daran erinnert haben, dass ich schon einmal für sie gearbeitet habe." Skepsis auf 1.

Espigares hat "das Männchen" irgendwo daheim rumstehen. Los Angeles und die Goldfigur scheinen schon wieder weit weg zu sein. Die Gegenwart ist: Computerwesen zum Leben erwecken - einfach den Kopfhörer auf, laute Musik und ab in die digitale Welt. Noch besser werden, die Kurven noch besser kriegen, Bewegungen noch besser verstehen.

Als das Gespräch vorbei ist, wirkt Espigares erleichtert. Er kann jetzt für den Nachmittag wieder umschalten. Alltag 1, Oscar-Aufregung 0. Es muss sich nichts verändern im Leben von Espigares, da ist schon genug in Bewegung.

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