20 Jahre nach Völkermord in Ruanda:Die Waisen vom Vormittag

20 Jahre nach Völkermord in Ruanda: Ein australischer UN-Soldat versucht, ein Hutu-Kind in Sicherheit zu bringen. Dessen Mutter war im Camp Kibeho getötet worden.

Ein australischer UN-Soldat versucht, ein Hutu-Kind in Sicherheit zu bringen. Dessen Mutter war im Camp Kibeho getötet worden.

(Foto: AFP)

Vor 20 Jahren töteten Hutu-Milizen in Ruanda 800.000 Menschen, zumeist Tutsi. Die Welt war entsetzt. Doch das Morden in Afrika fand auch danach kein Ende. Ruandas Regierung nahm fürchterliche Rache. Ein Augenzeugenbericht.

Von Hans Christoph Buch

Die Geschichte des Völkermords in Ruanda muss neu geschrieben werden, obwohl der Ablauf der Ereignisse die bisherige Version des Genozids zu bestätigen scheint: Nach dem Abschuss eines Flugzeugs mit den Präsidenten Ruandas und Burundis an Bord, die in Aruscha ein Friedensabkommen ausgehandelt hatten, töteten extremistische Hutu-Milizen im Frühjahr 1994 im Beisein von UN-Beobachtern 800 000 Tutsi sowie Kinder aus Mischehen und flohen ins Nachbarland Kongo-Zaire, während die Befreiungsfront des heutigen Staatschefs Paul Kagame in Kigali einrückte, um das Massaker zu beenden.

So weit, so gut - oder so schlecht, denn die offizielle Version des Genozids blendet die Vor- und Nachgeschichte aus, die den Völkermord in anderem Licht erscheinen lässt. Die Frage zum Beispiel, wer wem befahl, die Präsidentenmaschine abzuschießen, ist bis heute ungeklärt. Doch bevor alles falsch wird und ich mich in den Fallstricken meiner Argumentation verheddere, gehe ich in medias res, um klarzumachen, worum es mir geht.

Am 22. April 1995 landete ich früh um sieben, aus Kigali kommend, auf einer Hügelkuppe im Süden Ruandas, unweit von Butare. Kent Page, der Pressesprecher der Vereinten Nationen, dessen Namen ich mir merkte, weil er mich an Superman-Comics erinnerte, hatte mir einen Platz im Helikopter reserviert, der eine Handvoll Reporter und Fotografen nach Kibeho beförderte. Aus dem dortigen Flüchtlingslager wurden nicht näher spezifizierte Kämpfe gemeldet, und der Chef der UN-Mission, Yahiya Khan, entließ mich mit dem frommen Wunsch: "Passen Sie auf sich auf!" - als hätte er geahnt, dass dieser Tag mein Leben verändern würde.

Ruanda ist ein Hügelland, dessen Bewohner - Hutu-Bauern und Tutsi-Hirten - sich um durch Erbteilung und Überweidung knapp gewordene Ressourcen streiten. Die Täler versanken im Nebel, auf den Hügeln war es nass und kalt. Als ich den Helikopter verließ, waren Schüsse zu hören, "sporadic gunfire", wie es in Presseberichten heißt, das sich zu MP-Salven verdichtete, unterbrochen vom dumpfen Knall einer Bazooka. Der Helikopter stieg auf und drehte ab mit dem Versprechen, uns später abzuholen, und ein Tutsi-Soldat sperrte mich in eine Lehmhütte, zu meinem eigenen Schutz, wie er sagte. Auf der nächsten Hügelkuppe drängte sich eine Menschenmenge von 80 000 Hutu-Zivilisten, Frauen, Kinder und Greise, zusammengepfercht auf einem Terrain von der Größe eines Fußballfelds, eingekesselt von der ruandischen Armee, die kein Wasser, keine Lebensmittel und Medikamente durchließ und UN-Sanitätern verbot, Kranke oder Verwundete zu evakuieren.

Die Flüchtlinge biwakierten unter freiem Himmel, sengender Sonne und eiskaltem Regen ausgesetzt, und tranken mit Exkrementen verseuchtes Wasser; eine Durchfallepidemie war die Folge, und der Wind trug bestialischen Gestank herüber. Ab und zu durchbrach ein Eingekesselter den Belagerungsring und wurde wie ein Hase über die Hügel gehetzt: Rauchwolken, Schüsse, und der Tote oder Verwundete wurde auf einer Bahre abtransportiert.

"This man dead"

Der Boden der Lehmhütte war übersät mit Karteikarten einer ehemaligen Missionsschule, leeren Bierflaschen und blutigen Monatsbinden, als hätten hier Massaker stattgefunden oder Vergewaltigungen - vielleicht beides zugleich. Unser Bewacher, ein Teenager in Uniform, sprach englisch wie viele in Uganda ausgebildete Kämpfer der Tutsi-Armee, und als ich ihm sagte, dass seine Adidas-Schuhe aus Westdeutschland kämen, das Koppelschloss mit dem Hammer-und-Zirkel-Emblem aber aus der DDR, erlaubte er mir, die Lehmhütte zu verlassen.

Ein aus dem Kessel geflohener Mann, der aus einer Kopfwunde blutete, warf sich mir zu Füßen, zitternd vor Aufregung und Angst. Er stammelte ein Gebet, aber zwei Tutsi-Soldaten führten ihn ab, und kurz darauf fiel ein Schuss. "This man dead", sagte ein Blauhelm aus Sambia, während er mich zum UN-Stützpunkt geleitete, wo ich sicher war vor Querschlägern.

Im Innern des Compounds herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Alle Augenblicke wurden Sterbende und Verwundete hereingetragen, denen Sanitäter Notverbände anlegten oder Infusionslösungen verabreichten, aber meist kam die Hilfe zu spät. Eine junge Frau mit klaffender Halswunde starb vor meinen Augen; ihre Brust hob und senkte sich, sie röchelte und war tot. Der noch warme Körper wurde in eine Decke gewickelt und auf einen Militärlastwagen geworfen, der wegfuhr mit unbekanntem Ziel.

Die Soldaten schossen gezielt in die Menge

Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sterben sah, und ich fragte eine Ärztin, wer hier auf wen schoss und warum? Statt einer Antwort wollte sie meine Akkreditierung sehen. Wie alle Helfer im als Notlazarett dienenden UN-Gelände war sie total überfordert. Nur die sambischen Blauhelme hatten die Ruhe weg; sie hockten am Boden, zwischen Einwegspritzen und gebrauchten Verbänden, und verzehrten ihr Frühstück, Couscous mit Hammelfleisch - einer von ihnen bot mir seine Ration an. Ein paar Meter weiter lag ein Schwerverletzter, zu entkräftet, um aufzustehen oder um Hilfe zu bitten, in einer Pfütze von Blut.

Ein australischer Sanitäter führte mich zu dem Stacheldrahtzaun, der das UN-Gelände vom Flüchtlingslager trennte. Morituri te salutant, dachte ich beim Anblick der ausgemergelten Frauen, Kinder und Greise, die seit Tagen in drangvoller Enge ausharrten, ohne Wasser, Nahrung und elementarster Hygiene. Helfer mit Gummihandschuhen reichten ihnen proteinhaltige Kekse über die Absperrung, die selbst für Gesunde schwer zu kauen sind; ab und zu wurde ein weinendes Baby über die Absperrung gereicht und dann, mit Süßigkeiten beschenkt, der Mutter zurückgegeben. Kein Dank, kein Lächeln - die apathischen Blicke der Kinder sagten mehr über ihr Elend als wortreiche Erklärungen.

Ich weiß nicht mehr, warum, aber an einer Stelle, wo der Draht niedergetreten war, kletterte ich über den Zaun. Ein Sprung, ein stechender Schmerz im Knöchel, und ich versank im Flüchtlingselend wie in einem Ozean. Erst jetzt begriff ich, was passierte: Die Soldaten schossen nicht über die Köpfe hinweg, wie ich geglaubt hatte, sondern gezielt in die Menge hinein, die, um den Kugeln auszuweichen, in Panik hin und her wogte. Unter den Flüchtlingen hielten sich die Täter des Völkermords versteckt, hinter Frauen und Kindern verschanzt - so die offizielle Rechtfertigung, die ich schon damals nicht glaubte.

Jemand klammerte sich an meine Beine, ich strauchelte und stieg über Tote und Sterbende hinweg, die wie im Schlaf stöhnten. Eine junge Mutter reichte mir ihr Baby, um es in Sicherheit zu bringen; um mein eigenes Leben bangend, stieß ich sie abrupt zurück. Ich mache mir darum bis heute Vorwürfe. Ein ukrainischer Blauhelmsoldat hievte mich über den Stacheldraht und renkte mir dabei fast die Schulter aus.

Auf der anderen Seite, am Ausgang des Lagers, war das Chaos noch schlimmer als im UN-Stützpunkt. "Das hier sind die Waisen von heute Vormittag", sagte ein Rotkreuzhelfer und zeigte auf eine Baracke, aus der vielstimmiges Heulen drang, sich verdichtend zu einem markerschütternden Schrei. Als ich mich umdrehte, stand ich Auge in Auge mit einem Mann, dem ein Machetenhieb das Kinn weggeschlagen hatte - sein Mund war eine einzige, sabbernde Wunde. Nagette, die mich begleitende Entwicklungshelferin, musste sich übergeben, und ich legte schützend den Arm um sie.

"Wurde wirklich scharf geschossen", fragte William Clarance, der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, dem die Armee den Zugang zum Lager verwehrte. "Haben Sie es mit eigenen Augen gesehen?" Wenn das stimmte, würde er seinen Bericht, der von Frieden und Versöhnung handelte, neu schreiben müssen. Nagette begann zu weinen, und Clarance flößte ihr Whisky ein, während eine junge Mutter mich um Aspirin für ihr Kind bat. "Geben Sie ihr nichts", sagte der Menschenrechtsbeauftragte; und er sah tatenlos zu, wie Soldaten die Bittstellerin verscheuchten.

Später am Abend, im Hotel Mille Collines, wurde mir schlecht beim Anblick eines Blutstropfens an einem Steak. In den Nachrichten von CNN war von einem Massaker mit 4000 Toten die Rede, während der Armeesprecher die Zahl herunter rechnete auf 300 Extremisten, die sich gegenseitig umgebracht hätten. Erst jetzt begriff ich, was ich aus nächster Nähe gesehen und erlebt hatte: Das Wort Massaker war mir nicht eingefallen, und meine Begriffsstutzigkeit hatte mich vor der Einsicht bewahrt, dass Ruandas Regierung Rache nahm für den Völkermord vom vorigen Jahr, während Armeechef Paul Kagame von Frieden und nationaler Versöhnung sprach.

RWANDA-REFUGEES

Eine Woche nach dem Massaker von 22. April 1995, bei dem 4000 Menschen ermordet wurden, harren immer noch Hunderte Hutu-Flüchtlinge auf einem Schulgrundstück im Camp Kibeho aus.

(Foto: AFP)

"Lo vi con mis propios ojos" - so nannte Francisco Goya seine Bilderfolge von den Schrecken des Krieges: Ich habe es selbst gesehen. Die Erinnerung an den 22. April hat sich meinem Gedächtnis eingebrannt und wandert durch meinen Organismus wie ein Geschoss, das sich den Weg zum Herzen bahnt. Trauma ist der Fachausdruck dafür, und obwohl ich Bücher darüber geschrieben habe, verfolgt mich die Erinnerung bis in die Träume der Nacht.

Zwei Folgerungen leite ich daraus ab: Erstens dass das, was ich in Kibeho gesehen und erlebt habe, auch anderswo möglich ist: Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber bei einer Arbeitslosenrate von über 30 Prozent geht die Demokratie vor die Hunde. Banditen, Rebellen oder Milizen treten an die Stelle politischer Parteien, und das Rauben, Morden und Vergewaltigen wird zum Selbstzweck wie einst im Dreißigjährigen Krieg oder derzeit in der Zentralafrikanischen Republik.

Ruanda ist ein Lieblingskind westlicher Medien

Zweitens misstraue ich allen Verlautbarungen des ruandischen Regimes und seines Staatschefs Paul Kagame. Dazu muss man wissen, dass Ruanda ein Lieblingskind westlicher Medien ist: Ein Land mit sauberen Straßen, ohne Plastiktüten, Bettler und Diebe, die in Afrika zum Alltag gehören. Wo, wenn nicht hier, wollen wir Entwicklungshilfe leisten?

Dass der Wirtschaftsboom auf den Ressourcen des Nachbarstaats Kongo beruht, den Kagame von Rebellen und Milizen ausplündern und destabilisieren lässt, und dass im kongolesischen Bürgerkrieg mehr Menschen ermordet und vergewaltigt wurden als in Ruanda während des Genozids, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso wie die Tatsache, dass Paul Kagame Präsidentschaftswahlen mit 90 Prozent gewinnt und jede Art von Dissens gnadenlos unterdrückt: Die Oppositionsführerin steht unter Arrest, und der Gründer der Grünen Partei, ein ehemaliger Mitstreiter Kagames, wurde enthauptet aufgefunden, was der Staatschef mit dem Satz kommentierte, auch Jörg Haider sei nicht von der Regierung ermordet worden.

Oder soll ich auf die Vorgeschichte verweisen, 1972 zum Beispiel, als die Tutsi-Elite im benachbarten Burundi 100 000 Hutu-Evolués, die auf Missionsschulen Lesen und Schreiben gelernt hatten, umbringen ließ? Damals besuchte ich einen Friedenskongress in Brüssel, und als ich auf das Massaker in Burundi verwies, herrschte betretenes Schweigen - so wie heute, wenn man dem herrschenden Konsens in Sachen Ruanda widerspricht.

Hans Christoph Buch lebt in Berlin und hält derzeit eine Poetikvorlesung über Geister- und Totenschiffe in Bern. Zuletzt erschienen: "Boat People" (Frankfurter Verlagsanstalt), "Nolde und ich" und "Apokalypse Afrika" (Andere Bibliothek).

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