Genozid in Ruanda:Generation 1994

Ernestine poses for photographs outside her home on the 20th anniversary of the genocide in Kigali

Mudahogora Ernestine war 14, als ihre übrige Familie ausgelöscht wurde. Sie überlebte nur knapp und verletzt an Händen, Nacken und anderen Stellen ihres Körpers.

(Foto: REUTERS)

Die Geister der Vergangenheit, Traumata und Tabus - der Völkermord vor 20 Jahren wirkt mächtig nach bei der Jugend von Ruanda. Doch wer mit ihnen Zeit verbringt, der hört vor allem viel über die Zukunft.

Eine Reportage von Tobias Zick, Kigali

Hotelflure, Foyer, Rezeption: Das meiste ist renoviert, die Spuren von 1994 sind übertüncht, nur hier und da lassen sich noch Überbleibsel von damals finden: die alten Aufzugtüren, die Wegweiser mit gelber Schrift auf braunem Grund.

Auf der Suche nach seiner Zukunft ist der junge Mann an diesen Schauplatz des Schreckens gekommen, das Hôtel des Mille Collines, berühmtestes Hotel Ruandas. Die Geschichte ist in aller Welt durch die Kinos gegangen: Wie der damalige Hotelmanager Hunderte Menschen auf der Flucht vor den Völkermördern aufnimmt, die Täter mit Geld und Whisky ablenkt, während die Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen nur Ausländer in Sicherheit bringen und die bedrohten Ruander zurücklassen. Im gesamten Land sterben damals in hundert Tagen mehr als 800 000 Menschen. Im Hotel überleben etwa 1200. Eine wahre Geschichte aus dem Jahr 1994.

Natürlich bereite es ihm Schmerzen, diesen Ort zu betreten, sagt der junge Mann jetzt, gestreiftes Hemd über der Hose, sanftes Lächeln. Er ist im Jahr des Genozids geboren, gerade mit der Schule fertig geworden, voller Tatendrang.

Doch während in ganz Ruanda, diesem dicht bevölkerten kleine Staat in Ostafrika, zum Gedenken an die Hölle vor 20 Jahren Fackeln entzündet und Andachten gehalten werden, schaut René Nshimiyamana wie Abertausende seiner Altersgenossen nach vorne. "Gott hat gewollt, dass ich überlebe", sagt er. "Nun will er, dass ich helfe, mein Land aufzubauen." Er hat die Sekundarschule abgeschlossen, und in dem Hotel, das so sehr für die Vergangenheit dieses Landes steht, findet heute eine Bildungsmesse statt. Universitäten aus England, Italien, Indien werben für sich.

Später am Nachmittag sitzt René seiner Mutter gegenüber, im winzigen Wohnzimmer ihres gemauerten Hauses, es ist Teil einer Siedlung für Genozid-Witwen am Rande der Hauptstadt Kigali. "Wir hatten viel Vieh und eine große Familie", sagt sie leise, während sie mit einer Nadel Perlen auffädelt; sie fertigt Gedenk-Anstecker und Taschen, die dann im Genozid-Museum verkauft werden. Eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Wochenlang in Verstecken

Als einzige Überlebende der Familie hatte sie sich damals wochenlang in wechselnden Verstecken verschanzt: im Gebüsch hinter einem Abwassergraben, in der Kabine einer verstopften, überlaufenden Toilette. Schließlich gebar sie René am 22. August 1994 im Haus einer Bekannten, gab ihn in den ersten Jahren zu ihrer Mutter, die ihrerseits mit großem Glück überlebt hatte, während sie selbst in der Hauptstadt Kigali nach irgendeiner Arbeit suchte. "Er ist ein so fleißiger Junge", sagt sie, "ich wünsche ihm so sehr, dass er ein gutes Studium machen kann." René nickt und starrt an die Wand.

Dass die heute 20-Jährigen den Genozid nicht bewusst miterlebt haben, heißt nicht, dass sie vom kollektiven Trauma ihres Landes verschont sind. "Für diese Generation ist es psychologisch mitunter sogar noch schwieriger", sagt Eric Mahoro, Vorsitzender der Organisation "Never again", die in Schulen Theaterspiele und Ausstellungen organisiert. "Sie leben selbst in einer sicheren, friedlichen Umgebung, zugleich hören sie schreckliche Geschichten, bekommen mit, wie ihre Eltern daran leiden - aber sie können beides schwer zusammenbringen." Immer wieder kommt es vor, dass Schüler bei Gedenkfeiern zitternd und weinend zusammenbrechen.

Mit wem man auch spricht aus dieser Generation: Man trifft auf unbändigen Tatendrang, auf überbordende Ideen, auf den unbedingten Willen, bei der Entwicklung des Landes mitanzupacken. Die Botschaften von Eigeninitiative und Gründergeist, wie sie die Regierung in den Schulen unaufhörlich verbreitet, sind fest in den Köpfen verankert. Aber bei allen Erfolgen der Regierung in der Versöhnung von Täter- und Opferseite: Wenn man der jungen Generation jetzt keine echte Perspektive bietet, warnen viele, dann könnten eines Tages die alten Ressentiments und Spannungen wieder hervorbrechen.

Völkermord in Ruanda

Kigali im Frühjahr 1994: Ein Plünderer trägt einen Bettrahmen weg, im Hintergrund liegen tote Zivilisten.

(Foto: dpa)

Hutu und Tutsi. Wie tief bei vielen das Trauma tatsächlich noch sitzt, könnte angesichts des vorgeschriebenen Umgangs mit der Geschichte leicht in Vergessenheit geraten: Versöhnung ist oberste Bürgerpflicht, angeordnet von Präsident Paul Kagame, dem damaligen Anführer der Tutsi-Rebellenarmee, die schließlich die Völkermörder aus dem Land trieb. Niemand soll heute mehr zwischen Hutu und Tutsi unterscheiden, ja die beiden Wörter auch nur erwähnen; alle sind Ruander.

Das Land hat unter Kagames harter Hand beachtliche Entwicklungsschritte gemacht, die Straßen in der Hauptstadt sind sauber, schlaglochfrei und sicher, sogar nachts, Ruanda hat eine flächendeckende staatliche Krankenversicherung, als erstes Land Afrikas. Und die weiteren Pläne sind groß: Eine "Wissens-Ökonomie" will die Regierung verwirklichen - und auf dem Weg von der Agrarwirtschaft die Industrialisierung überspringen.

Die Killer waren sich ideologisch uneins - das rettete Baby Pauline

Wie groß dieser Sprung allerdings sein müsste, wird deutlich, wenn man die Hauptstadt verlässt und in die Provinz fährt. Lucie Niyomukesha, geboren am 18. September 1994, steht in einem Fleece-Pullover auf einem Hügel nahe der Kleinstadt Muhanga im Südwesten des Landes; Nebel liegt in der Luft, eine kühle Brise weht über die grüne Hügellandschaft. In den Tälern breiten sich bewässerte Felder aus, die Regierung fördert in großem Stil den Reisanbau. Lucie macht ein Praktikum bei einer Kooperative von Bauern.

Vom Genozid im Jahr ihrer Geburt hat sie erst in der Schule erfahren; sie weiß, dass einige Verwandte noch heute im Gefängnis sitzen, als Täter, doch über all dies wird in der Familie nicht gern geredet. "Ich habe meine Eltern manchmal gefragt: Wie konntet ihr damals einfach eure Nachbarn töten? Darauf sagten sie immer wieder: Frag nicht solche Sachen, das verstehst du eh nicht. Es wurde uns halt von unseren Anführern befohlen."

Die Anführer und ihre Befehle. Wie präzise organisiert der Völkermord war, zeigt die Geschichte von Pauline Niyonasenze, geboren am 12. März 1994. Sie war keine sechs Wochen alt, als ihre Eltern sich mit ihr und mehr als 40 000 anderen Menschen auf der Baustelle einer Schule am Rand einer Stadt namens Murambi zusammendrängten. Die Milizen, die das Grundstück belagerten, drehten ihnen das Wasser ab, die Eingeschlossenen begannen aus Pfützen zu trinken, und die ersten waren bereits verdurstet, als schließlich die Killer das Gebäude stürmten, Handgranaten in die Menge warfen und mit Macheten hineinhieben.

Dass Pauline als Baby den Massenmord überlebt hat, verdankt sie allein der Tatsache, dass die Killer sich in ihrer Ideologie nicht ganz einig waren. Ihr Vater - ein Tutsi - sowie ihre Brüder starben in den Massakern, ihre Mutter aber - eine Hutu - wurde von den Milizen nach draußen geleitet, mit dem Baby auf dem Arm. Dann sagte einer: Das Kind ist doch Halb-Tutsi, wir müssen es töten. Ihre Mutter fiel auf die Knie, begann zu beten, darauf sagte einer der Anführer zu seinen Schergen: Wenn einer dieser Frau und ihrem Kind etwas antut, ist er selbst dran.

"Ich habe in meiner Kindheit manchmal gedacht: Wegen dieser Leute habe ich keinen Vater und keine Brüder", sagt Pauline heute. "Ich kann vergeben, aber nicht vergessen." Wie so viele andere hofft auch sie auf ein Stipendium, um studieren zu können - und um ihren Traum verwirklichen zu können, nämlich Bücher zu schreiben, am liebsten Biografien. "Ich glaube, wenn die Menschen diese Geschichten lesen, dann kann das dazu beitragen, so etwas in Zukunft zu verhindern."

All diese Jugendlichen sind bereits Teil des neuen Ruanda - anders als der Junge Thomas Habimana, der ebenfalls 1994 geboren wurde, am 15. Juli, und nun erst ankommt in seinem Land - nach einer Odyssee, die 1994 begann und nun schon sein ganzes Leben andauert. Unter einem Wellblechdach, auf das der Regen prasselt, sitzt er, im Hintergrund türmen sich gewaltige Vulkanberge, sie bilden die Grenze zum Nachbarland Kongo.

Thomas weiß nicht mehr wie viele Menschen er getötet hat

Von dort ist er vor wenigen Wochen gekommen, hat die Erde seines Herkunftslandes Ruanda zum ersten Mal betreten. Geboren ist er in einem Flüchtlingsdorf im Kongo; seine ruandischen Eltern waren zusammen mit Hunderttausenden anderen Hutu ins Nachbarland geflohen vor den Tutsi-Rebellentruppen. In dem Flüchtlingstreck marschierten auch etliche Völkermörder mit. In den folgenden Jahren bewaffneten sie sich wieder, organisierten sich im Ostkongo neu zu einer Armee namens "Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas", FDLR.

Vor zwei Jahren schloss sich Thomas den Kämpfern an. "Ich hatte keine Wahl", sagt er. "Es gibt dort eine ganze Reihe weiterer Rebellengruppen, keiner kann ihnen entgehen. Ich dachte mir: Ehe mich die Mai-Mai oder die Raia Mutomboki einziehen, gehe ich lieber zu denen, die Kinyarwanda sprechen, meine Muttersprache."

Er lernte, mit der AK-47 umzugehen, schlief im Wald, ernährte sich von dem, was seine Truppe bei Überfällen auf Dörfer erbeutete. Die Hutu-Anführer bläuten ihm und seinen Kameraden ein: Die Tutsi-Regierung in Ruanda hat das Land eurer Eltern gestohlen, sie wollen uns alle verhaften oder töten. Wir müssen kämpfen, um unser Land zurückzuerobern. Während der zwei Jahre, sagt er, sei er nur einmal in einen längeren Kampf verwickelt gewesen, 16 seiner Kameraden starben dabei. Wie viele der Gegner hat er selbst getötet? Er lacht verlegen. "Das weiß ich nicht genau. Aber ich weiß, dass ich getötet habe."

Vor einem halben Jahr erfuhr er von einem Neuzugang in der Truppe, dass seine Mutter inzwischen nach Ruanda zurückgekehrt sei und dort unbehelligt lebe. Wofür kämpfe ich hier also überhaupt noch, dachte er. Thomas folgte dem Aufruf, den die UN seit einiger Zeit per Radio verbreitet hatten, lief eines Nachts mit seiner AK-47 und etwas Munition los in Richtung des Blauhelm-Lagers, gab seine Waffe ab und ließ sich von den UN-Soldaten an die ruandische Grenze bringen. Bevor er in das Camp hier eingewiesen wurde, um in einem Drei-Monats-Lehrgang auf ein ziviles Leben in Ruanda vorbereitet zu werden, ließen sie ihn zunächst für ein paar Tage in das Heimatdorf seiner Mutter reisen.

"Bist du es wirklich?", fragte sie immer wieder. "Ich dachte, du seist schon längst nicht mehr am Leben." Nächste Woche wird er entlassen, wird zu seiner Mutter gehen und ein neues Leben beginnen. "Vielleicht werde ich Mechaniker."

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