Doku-Projekt "24h Jerusalem":Alltag im Ausnahmezustand

Jerusalem: "24h Jerusalem"

24 Stunden lang senden Arte und BR das Doku-Projekt "24h Jerusalem". © Maurice Weiss/OSTKREUZ/zero one 24 Foto: ARTE France/BR

(Foto: © Maurice Weiss/OSTKREUZ/zero on)

Von Samstag, 6 Uhr, bis Sonntag, 6 Uhr, räumen Arte und der BR das TV-Programm für "24h Jerusalem". In Echtzeit wird das Leben in der geteilten Stadt porträtiert. Die Entstehungsgeschichte des Mammut-Projekts ist so außergewöhnlich wie das Ergebnis.

Von David Denk

Jerusalem ist für Annette Muff zu einer Art zweiten Heimat geworden. Dabei war sie erst einmal da - vor 23 Jahren. Und kam in den vergangenen Monaten doch jeden Tag wieder: Muff ist Chef-Cutterin von 24h Jerusalem, dem Mammut-TV-Projekt von BR und Arte, für das beide Sender nach dem Vorbild von 24h Berlin von Samstag, 6 Uhr, bis Sonntag, 6 Uhr, ihr Programm freiräumen. Wer die Abendschau vermisst, muss BR Alpha einschalten.

So lange nicht in Israel gewesen zu sein, empfindet Annette Muff als Vorteil. "Wenn mich etwas verwirrt, muss es wohl noch besser erklärt werden." Das ist die zentrale Herausforderung: dem deutschen Publikum den Nahostkonflikt verständlich zu machen, der das Leben in der von Israelis wie Palästinensern gleichermaßen beanspruchten, geteilten Stadt bestimmt. "Dagegen war 24h Berlin Boulevardtheater", sagt Muff.

Für 24h Jerusalem haben 70 Filmteams - je ein Drittel palästinensisch, israelisch und europäisch - im April 2013 etwa 90 Protagonisten zumeist einen Tag lang begleitet. "Alltag in einer Stadt, deren Bewohner keinen Alltag kennen", heißt es im Trailer. 500 Mitarbeiter vor und hinter der Kamera produzierten fast 500 Stunden Filmmaterial, aus dem Muff und ihr Team ein Programm schneiden, das 24 Stunden Jerusalem in Echtzeit abbildet. Online sind mit Laptop, Tablet oder Smartphone ergänzende Second-Screen-Informationen über Stadt und Protagonisten abrufbar.

Zum Zeitpunkt des Besuchs im Berliner Schneideraum im Februar befindet sich Cutterin Muff auf der Zielgeraden. Die Stunde von 5 bis 6 Uhr bekommt den letzten Feinschliff. Auf den Monitoren wird die Grabeskirche aufgeschlossen, Marktstände werden aufgebaut, eine Straßenbahn bringt Pendler zur Arbeit. Sie habe "übers Gucken ein Gespür für den Ort bekommen". Bei der Straßenbahnszene rät sie: "Ich würde spontan sagen: Westjerusalem. Da sind so viele Bäume." Hinter ihr hängt zur Absicherung ein aus handschriftlich ergänzten Google-Maps-Ausdrucken improvisierter Stadtplan, um bloß nicht in "geopolitische Fettnäpfchen" zu treten.

Wie 16 Dokumentarfilme in einem Jahr

Die Ausmaße des Projekts konnten sie indes nicht mehr schrecken. "Wir haben mit 24h Berlin ja quasi schon mal geübt", sagt sie. Die Abläufe, das Nebeneinander sonst aufeinander folgender Produktionsschritte, wurden schon 2009 beim Vorgängerprojekt 24h Berlin erprobt. Wir machen hier in einem Jahr 16 Dokumentarfilme", sagt Muff. An ihrem letzten 90-Minüter saß sie anderthalb Jahre. Nicht nur das Ergebnis ist mit seinem Vertrauen in die Parallelmontage von Protagonisten und Geschichten eine Feier der Gleichzeitigkeit, sondern bereits der Entstehungsprozess.

Unter dem Zeitdruck litt das Sozialleben aller Beteiligten. Produzent Thomas Kufus, der mit Regisseur Volker Heise 24h Berlin erfand, spricht von einem "Bohrinselgefühl". Die Chefs von Zero One 24 wollten ihre Erfahrungen mit dem Format eigentlich nur als Berater israelischer wie palästinensischer Partner einbringen, unter deren Regie - aber mit deutschem Geld - 24h Jerusalem ursprünglich produziert werden sollte.

"Ihre Stadt, ihr Programm. Punkt", sagt Heise. Doch ein Boykott der palästinensischen Produktionsseite zwang Kufus und Heise zum Umdenken. Die Palästinenser fühlten sich übervorteilt, weil eine israelische Produktionsfirma federführend war: Nach einem hitzigen Gespräch mit den Boykotteuren sei es ihnen "wie Schuppen von den Augen gefallen, dass wir das Projekt vor lauter europäischer Blauäugigkeit komplett falsch aufgestellt hatten", sagt Heise. "Und das wollten wir wiedergutmachen, nicht indem wir besonders lieb zu den Palästinensern sind, sondern indem wir es so konzipieren, dass es für alle Beteiligten Hand und Fuß hat."

Das Tempo wird stärker variiert

Fortan war Kufus Tag und Nacht damit beschäftigt, das Projekt "in vielen Hinterzimmergesprächen" zu retten, und Heise damit, es umzusetzen. Für Kufus war das "eine Frage der Ehre" - aber auch der Existenz: Wäre das Projekt endgültig gescheitert, hätte Zero One 24 etwa 400 000 Euro Miese gemacht: "Das hätte unsere Firma nicht verkraftet."

Im Nachhinein, und nur im Nachhinein, möchten Heise und Kufus diesen Rückschlag jedoch nicht missen, sei er doch "wichtig für die Durchdringung des Themas" gewesen, sagt Kufus. Und Heise sagt: "Ich hoffe, dass sich dieses Schwankende, Unsichere, auch im Programm widerspiegelt." Auch im zweiten Anlauf war die Produktion stetig bedroht. Heise vergleicht die Bedingungen mit einem "Formel-1-Boliden, mit dem man auf einem Feldweg zu fahren versucht."

Mit preisgekrönten Formaten wie Schwarzwaldhaus 1902 und Die Kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener haben Heise und Kufus das serielle Erzählen von Dokus geprägt und weiterentwickelt. In diesem Sinne war ihnen ein "Qualitätssprung" im Vergleich zu 24h Berlin wichtig: Bei 24h Jerusalem hat Heise das Tempo stärker variiert: Abends etwa besteht das Programm zur Hälfte aus Interviews. Entsprechend gering sind die Sympathien für gedankenlose Rund-um-die-Uhr-Doku-Plagiate, in Auftrag gegeben von Sendern, deren Umgang mit Kreativen Heise bisweilen an "Raubrittertum" erinnert.

"Programm von Europäern für Europäer"

Die Macher von 24h Jerusalem haben genug vom Nahostkonflikt begriffen, um zu wissen, dass auch diese ungewöhnlich intensive Arbeit sie noch lange nicht zu Experten macht. Es sei ein "Programm von Europäern für Europäer", mit dem man "niemandem helfen" könne und wolle, sagt Heise. "Die Botschaft von 24h Jerusalem ist die Art, wie es gemacht ist."

Das Format bedient das Interesse von Menschen für Menschen und setzt aus den Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Protagonisten ein Puzzle zusammen. Eine "extrem reife Arbeit" ist 24h Jerusalem für Produzent Kufus, "schwere Kost mit leichter Hand erzählt". Die vorab zur Verfügung gestellten Ausschnitte machen jedenfalls Lust auf einen langen Fernsehsamstag.

Auch Cutterin Muff hat noch nicht genug. "Ich habe das alles schon tausendmal gesehen", sagt sie, "gucke mir das aber immer noch gern an." Zum Beispiel, wie die Kamera an einem Checkpoint durch den Röntgenapparat fährt. Mit diesen Aufnahmen endet 24h Jerusalem. Und ein neuer Tag beginnt.

24h Jerusalem, BR und Arte, Samstag, 6 Uhr, bis Sonntag, 6 Uhr; danach noch bei 24hjerusalem.tv.

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