Verkehrschaos in São Paulo:Der Albtraum

Der Verkehr in São Paulo

Verkehrschaos auf der Radial Leste Avenue - eine der größten Ausfallstraßen in Sao Paulo.

(Foto: dpa)

Auf halbem Weg zwischen Himmel und Hölle: Der Straßenverkehr ist das Nadelöhr der großen Sportereignisse in Brasilien.

Von José Soares

São Paulo 14. November 2013: Nichts geht mehr in der größten Stadt Brasiliens. Am Abend vor einem dreitägigen Wochenende versuchen besonders viele Menschen, die Megacity zu verlassen. Zwei öffentliche Kundgebungen in der Stadtmitte und mehr als ein Dutzend Unfälle tragen zu den insgesamt 309 Kilometer langen Staus bei. Ein neues Allzeithoch. Die Metropolregion hat mit 8000 Quadratkilometern nur ein Tausendstel der Gesamtfläche des Landes. Mit 20 Millionen Einwohnern lebt hier aber ein Zehntel der gesamten Bevölkerung. Jede Form von Fortbewegung in dem Hexenkessel ist ein Albtraum.

Die Paulistanos (gebürtige Stadtbewohner von São Paulo) sind daran gewöhnt, Tag und Nacht im Verkehr stecken zu bleiben. 2013 betrug die durchschnittliche Fahrzeit zwei Stunden 45 Minuten täglich. Hochgerechnet sind das 27 Tage pro Jahr, bloß um sich von den Vororten in die Innenstadtbüros und zurück zu kämpfen. Jeder Versuch, den endlosen Staus über die Busspuren zu entkommen, wird hart bestraft. 2500 Kontrolleure achten darauf, dass jeder Fluchtversuch mit rund 20 Euro Strafe und drei Strafpunkten auf dem Führerschein geahndet wird.

1. Das perfekte Chaos

Fußballtouristen sollten gar nicht auf die Idee kommen, sich im Juni und Juli dieses Jahres hinters Steuer zu setzen. Dagegen spricht der gesunde Menschenverstand. Jedes Jahr wird in Brasilien quasi ein Fußballstadion voll mit 60 000 Menschen im Straßenverkehr ausgelöscht. Brasiliens Behörden versuchen, die Fußball-WM und Olympischen Spiele 2016 für einen Befreiungsschlag zu nutzen: 200 Millionen Euro wurden als Förderung für die Verkehrsinfrastruktur flüssig gemacht. Manche sagen, das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber das Geld reicht immerhin für den Bus Rapid Transit (BRT) an allen zwölf Veranstaltungsorten der Fußball-WM. Bis zum Ende des Jahrzehnts soll es in Brasilien insgesamt 4000 dieser Schnellbuslinien geben. Ein bis drei Jahre sind für die Vorbereitung und ein Jahr für die Implementierung notwendig. Dagegen benötigen U-Bahnen allein schon bis zu fünf Jahre für die Planung, weitere vier bis acht Jahre müssen mindestens als Bauphase veranschlagt werden.

Im Grunde besteht Bus Rapid Transit aus nichts anderem als aus separaten Busspuren und Plattformen, von denen man ohne Treppenstufen schnell ein- und aussteigen kann. Die Trennung vom Restverkehr und eine grüne Ampelwelle lassen die Busse in einem gleichmäßigen Strom fließen. In der kolumbianischen Stadt Bogotá ist alle 63 Sekunden ein neuer Bus zur Stelle, die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt mit 26 km/h ein Drittel über dem Tempo des Individualverkehrs. Wesentlich schneller als mit BRT sind auch U-Bahn-Passagiere nicht unterwegs. In São Paulo erreichen die neu installierten Schnellbuslinien zwar nur die halbe Transportkapazität der dortigen U-Bahn. Dafür betragen die Kosten mit neun Millionen Euro pro Kilometer nur ein Zehntel von schienengeführten Systemen. Trotzdem ist die Kundenzufriedenheit mit 88 Prozent äußerst hoch. Das ist kein unwesentlicher sozialer Faktor in einem Land, in dem sich längst nicht alle Menschen eigene Autos leisten können.

2. Überlebenstipps

Heute gibt es geschätzt rund 80 Millionen Fahrzeuge in Brasilien, doppelt so viele als vor zehn Jahren. Für das Fahrvermögen eines Südeuropäers wie den Autor dieser Zeilen ist das Durcheinander im Straßenverkehr noch immer Furcht einflößend. Die Windschutzscheibe wird zum Bildschirm, auf dem in rasender Geschwindigkeit Hunderte Charaktere aus dem Nichts erscheinen und wieder verschwinden. Bei dieser Art von Videospiel sollte der Fahrer allerdings sicherstellen, dass am Ende nicht "Game Over" auf der Mattscheibe steht. Auf jeden Fall sind folgende Regeln zu beachten, wenn man nicht direkt zur Hölle fahren will:

Erstens: Ignorieren Sie auf dreispurigen Staatsstraßen die äußeren Spuren, weil dort die Gefahr von Überfällen überproportional steigt. Aus demselben Grund sollten Sie die Fenster immer geschlossen halten, wenn Sie vermeiden wollen, die Bekanntschaft eines bewaffneten Individuums zu machen.

Zweitens: Achten Sie nachts auf niedrige Emissionswerte, und fahren Sie gleichmäßig langsam auf Ampeln zu. Halten Sie niemals an, und warten Sie stattdessen aus einiger Entfernung, bis die Ampel grün wird. Alternativ können Sie die scharlachrote Farbe auch schlicht ausblenden, wenn Sie sicher sind, dass Sie keinen Fußgänger plattmachen.

Drittens: Bereiten Sie Ihre Fahrt sorgfältig vor. Als Tourist mit dem Auto einfach nur herumzufahren, könnte Sie auf die falsche Spur bringen. Sollten Sie in einer Favela landen, einem jener übervölkerten Vororte auf den Hügeln in der Nähe der Stadt, würden Sie bloß die Statistik bereichern. Sie zeigt, dass mehr Leute hineinfahren als wieder herauskommen.

Viertens: Bleiben Sie ruhig, wenn Sie in einem Stau in einem Tunnel landen. Legen Sie ein paar Wertsachen bereit, um sie einem unfreundlichen, bewaffneten Fußgänger zu überreichen, der mit seinem Team die Zufahrten des Tunnels blockiert hat.

Fünftens: Wenn Sie hinter einem Oldtimer herfahren, der mitten auf der Straße alle 300 Meter stoppt und Leute aufnimmt oder aussteigen lässt, sollten Sie auf keinen Fall hupen. Da diese Privattaxis die verbreitetste Form des Nahverkehrs ist, könnten die Leute ziemlich sauer werden, wenn man dagegen angeht.

Sechstens: Erwarten Sie unter keinen Umständen, dass Menschen nur an den markierten Überwegen die Straße überqueren. Fußgänger zwängen sich einfach so weit sie kommen zwischen den Autos durch. Oft bleiben sie mitten auf der Straße stecken, um in der nächsten Lücke weiterzugehen.

Siebtens: Man darf nicht wirklich für Fußgänger bremsen, weil das niemand erwartet und daher einen Auffahrunfall auslösen könnte. Das gilt auch für Tausende verwilderte Hunde und Katzen, die extrem schnelle Reflexe erfordern - genauso wie die riesigen Krater in der Straße, die unpassierbaren Schlammlöcher und die massiven Geschwindigkeitsschweller, die sich ohne Warnung über die Straße ziehen.

Achtens: Eine ständige Bedrohung scheinen auch die zickzackfahrenden Mototaxis zu sein. Aber ganz ehrlich: Sie sollten sich wirklich nicht darüber aufregen, denn die Fahrer wissen trotz ihres rätselhaften Fahrstils meist, was sie tun.

3. Geben Sie das Autofahren auf!

Sobald Sie irgendwann resignierend beschließen, Ihr weiteres Leben auf den Rücksitzen der zahllosen unautorisierten Transportvehikel zu fristen, werden Sie vielleicht bereit sein, noch einmal über die Vorteile von Bus Rapid Transit nachzudenken. Es stimmt schon: Die insgesamt 742 Kilometer Schnellbusrouten, die bis zu den Olympischen Spielen 2016 fertiggestellt sein werden, machen den Autofahrern das Leben nicht unbedingt leichter. Deshalb ist die automatische Vorfahrt für den öffentlichen Verkehr keineswegs unumstritten. Die BRT-Gegner in São Paulo führen an, dass man einfach nicht drei Millionen Fahrzeuge in eine Fahrspur zwängen kann, ohne dass es zu schweren Staus kommt. Ana Odila Souza, Managerin der Verkehrsbehörde von São Paulo, entgegnet trocken: "Wenn ein Fahrer in einem Stau steckt und sieht, dass einer der 15 000 Busse schnell an ihm vorüberfährt, beflügelt ihn das nur, sein Auto am nächsten Tag zu Hause stehen zu lassen."

Die BRT-Befürworter berufen sich auf die soziale Gerechtigkeit: 28 Prozent der Paulistanos, die jeden Tag per Auto in die Stadt pendeln, nehmen 80 Prozent der Verkehrsfläche in Anspruch. Dagegen begnügen sich jene 68 Prozent der Pendler in öffentlichen Verkehrsmitteln mit lediglich acht Prozent des Platzes auf den Straßen. Trotzdem sparen sie pro Tag durchschnittlich 38 Minuten Fahrtzeit. Durch den Bus Rapid Transit wurden die Bustransporte 2013 im Vergleich zu 2012 um 45 Prozent beschleunigt (im Durchschnitt von 14 auf 20 km/h), während der Individualverkehr um acht Prozent langsamer wurde. Auf das Wutgeheul der Autofreunde reagiert Ronaldo Tonobohn von der CET (Traffic Engineering Company) mit belastbaren Zahlen: Da die durchschnittliche Geschwindigkeit bereits von 2011 auf 2012 sank, als die 300 Kilometer BRT-Spuren in São Paulo noch nicht implementiert waren, können die Busse nicht als Sündenbock herhalten. "Der Verkehr wird wegen des hohen Fahrzeugaufkommens immer langsamer und nicht wegen der Einführung von mehr Busspuren", so Tonobohn.

BRT ist weltweit in mehr als 140 Städten im Einsatz. Die gleiche Anzahl von Systemen befindet sich in der Planungs- oder Entwicklungsphase. Ob die Autofahrer wollen oder nicht: Busse sind jedenfalls schneller, umweltfreundlicher und sicherer.

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