Hypersexualität:Wenn Lust zur Qual wird

Hypersexualität: Er kann nicht anders: Immer wieder schleppt Brandon, der Held von Steve McQueens Film "Shame", Frauen aus Bars zum One-Night-Stand ab.

Er kann nicht anders: Immer wieder schleppt Brandon, der Held von Steve McQueens Film "Shame", Frauen aus Bars zum One-Night-Stand ab.

(Foto: Fox)

Als sein Telefonsex die kompletten Ersparnisse verbraucht hat, gesteht er seiner Frau seine Sucht. Das übersteigerte Verlangen von Nymphomaninnen und Sexsüchtigen zerstört oft die Grundlagen ihres Lebens. Früher wurde die Klitoris entfernt, um Abhilfe zu schaffen, heute versuchen Ärzte mit Psychotherapie zu helfen.

Von Franziska von Malsen

Er ist ein Getriebener. Seine ganze Geschichte lang sucht Brandon nach Befriedigung, die er meist - rein körperlich - mit eigenen Händen herbeiführt, seltener mit einer Partnerin erlebt, und die 2011 im Film "Shame" von Steve McQueen ausbleibt, als er mit einer Frau ins Bett geht, die ihm tatsächlich etwas bedeutet.

Sie ist eine Getriebene. Mit unstillbarem Verlangen hastet Joe von einer extremen sexuellen Erfahrung zur nächsten. Im zweiten Teil des aktuellen Kinofilms "Nymphomaniac" von Lars von Trier landet sie bei einem jungen Mann in einem gefliesten Raum ohne Fenster. Der fesselt sie in peinsamer Verrenkung auf ein Ledersofa und peitscht sie beinahe bewusstlos. Joe besucht ihn dennoch wieder und wieder.

Bizarr und unverständlich, mindestens irritierend wirken diese Figuren auf den gewöhnlichen Zuschauer. Doch es gibt auch in der Realität Menschen, die Ähnliches erlebt haben - ein 58-jähriger Mann etwa, der gerade irgendwo in Ostdeutschland am Telefon sitzt und Auskunft gibt. Er hat nur den Trailer von "Nymphomaniac" gesehen; "verstörend", sagt er. Nein, er könne sich diesen Film nicht ansehen: "Ein trockener Alkoholiker geht doch auch nicht zu einer Weinprobe." Nach der Wende fing es an, berichtet er. Der Mann schaute Pornovideos und ging in den Puff. Und telefonierte. Täglich, immer mit derselben Frau. Achthundert, neunhundert, tausend Mark zahlte der Mann für Telefonsex. Jeden Monat mehr als seine Miete. Irgendwann offenbarte er sich seiner Ehefrau. Er hatte die kompletten Ersparnisse vertelefoniert.

Männer wie er sind Zeugen dafür, dass Steve McQueens und Lars von Triers Filme mehr als Fiktion sind. Es gibt Frauen und Männer, denen ihr übermächtiges Verlangen nach Sex zur Qual gerät. Hypersexualität nennen Psychiater das womöglich gar nicht so seltene Phänomen. Amerikanischen Studien zufolge leiden drei bis sechs Prozent der Bevölkerung während einer Phase ihres Lebens an Hypersexualität; auf drei betroffene Männer kommt eine Frau. Wie belastbar diese Angaben sind, ist schwer zu sagen, da eine klare Definition schwerfällt. Denn: Wie viel Sex ist zu viel?

"Das ist die falsche Frage", sagt der Psychiater Peer Briken, Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie in Hamburg. Es gehe nicht um die Quantität, sondern um den inneren Leidensdruck. "Wenn der Patient nicht unter seinem Verlangen leidet, sollte man als Arzt auch keine Diagnose stellen." Vorausgesetzt es handle sich nicht um einen forensischen Fall, bei dem also Verbrechen begangen werden. Kritiker befürchten, dass sonst das Zuweisen einer klinisch-diagnostischen Kategorie zu einer Pathologisierung bei Menschen führen könnte, die mehr Sex haben als der Durchschnitt. Deshalb wurde die hypersexuelle Störung - noch nicht - in die neue Version des amerikanischen Klassifikationssystems psychischer Störungen (DSM-5) aufgenommen.

Im 19. Jahrhundert galt die Beschneidung der Klitoris als Therapie für Hypersexualität

Nach einer verbreiteten Definition zeigt ein Betroffener länger als sechs Monate intensive sexuelle Phantasien und ein derart übersteigertes sexuelles Verlangen oder Verhalten, dass sein Leben beschädigt wird: Soziale Kontakte leiden, er vernachlässigt seinen Beruf, weil er etwa nächtelang Pornos schaut. Auf Stress, Langeweile oder Angst reagiert er vorwiegend mit sexuellen Handlungen. Und - ganz wichtig - er leidet selbst darunter. Wer bei dieser Beschreibung an Alkohol statt an Sex denkt, erkennt schnell das Muster.

Dabei zeigen Hypersexuelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Typisch ist die Filmfigur Joe insofern, weil sie ihr Verlangen im realen Leben auslebt - so machen es die meisten hypersexuellen Frauen. "Sie gehen abends aus, betrinken sich und nehmen Drogen, lassen sich auf One-Night-Stands ein und geraten manchmal in Situationen, in denen es zu einer sexuellen Grenzüberschreitung kommt", erläutert Briken. So suchten sie zum Beispiel Kontakt zu Männern, die sadistische Neigungen an ihnen ausleben und Stoppsignale ignorieren. Manchmal riskierten die Frauen bewusst, sich mit Krankheiten anzustecken, um sich selbst zu schädigen.

Ein typischer männlicher Patient wie Brandon hingegen sitzt stundenlang vor dem Rechner und masturbiert. "Wenn ich mit meiner Freundin zusammen bin", zitiert Briken einen Patienten, "habe ich keine Lust auf Sex mit ihr, bekomme keine Erektion. Ich möchte lieber ins Netz gehen und nach neuen Filmen schauen, die etwas noch Aufregenderes zeigen als die letzten."

Dabei verschafft ihr Verhalten den Hypersexuellen keine nachhaltige Befriedigung. Oft ist nach dem Akt die Scham über das eigene sexuelle Verhalten groß. Das heizt das Verlangen zusätzlich an, die Betroffenen verlieren sich erneut in sexuellen Eskapaden. Ein Teufelskreis, der sich nur schwer durchbrechen lässt. Weibliche wie männliche Betroffene nehmen ihr Sexualverhalten als krankhaft wahr, bringen es aber nicht unter Kontrolle.

"Ich bin eine Nymphomanin"

Für die nächste Fassung des Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation ICD-11 rechnet Briken damit, dass zumindest eine "sexuelle Zwangsstörung" als Diagnose verankert wird. Im aktuellen ICD-10 wird nur kurz "gesteigertes sexuelles Verlangen" - Satyriasis beim Mann oder Nymphomanie bei der Frau - erwähnt, ohne genauere Definition. "Wenn eine Störung im Krankheitsmanual nicht vorkommt, bedeutet das eigentlich, dass sie wissenschaftlich nicht ernst genommen wird", sagt Briken. "Dann haben wir Schwierigkeiten, dass die Krankenkassen für die Behandlung aufkommen." Im Moment wählen die Psychiater bei ihrer Diagnose deshalb andere Kategorien, wie "Störung der Impulskontrolle" oder "nicht anderweitig spezifizierte sexuelle Störung".

Die Verwirrung um Begriffe und Kriterien deutet auch Lars von Triers Film an. Joe tritt im zweiten Teil in die Mitte einer Selbsthilfegruppe, eine Handvoll Frauen reiht sich dort im Stuhlkreis zum Gespräch. "Ich bin eine Nymphomanin", sagt sie und wird barsch von der Psychologin korrigiert: "Wir nennen das sexsüchtig."

Aber auch Sexsucht ist als Begriff umstritten. Zwar verwendeten ihn viele Patienten selbst, sagt Briken. Als medizinischer Fachbegriff tauge er aber nicht, da für hypersexuelles Verhalten die Mechanismen stoffgebundener Süchte nur teilweise eine Rolle spielten. Den Ausdruck Nymphomanie hingegen verwendeten Ärzte schon ab den 1990er-Jahren nicht mehr, obwohl er im ICD-10 auftaucht.

Phänomene sexueller Sucht sind keine Erfindung der Moderne. Sie wurden über die Jahrhunderte immer wieder beschrieben, und stets prägte die gesellschaftliche Anschauung die wissenschaftlichen Konzepte. So charakterisierten renommierte Ärzte im 19. Jahrhundert - allesamt Männer wohlgemerkt - die weibliche Sexualität auf eine Weise, die heute absurd erscheint. Nymphomanie entwickelten demnach Frauen, die romantische Musik hörten oder unangemessene Romane lasen. Wenn sie masturbierten, hieß es, drohe ihnen Schwachsinn und Hysterie. Auch Depression, "Amoralität" oder Epilepsie hatten nach damaliger Auffassung mit dem Sexualverhalten zu tun. Führende Gynäkologen versuchten, durch Klitorisbeschneidungen Besserung zu erreichen.

Übermächtiges Verlangen entsteht womöglich im Kindesalter, wenn Eltern zum Porno-Gucken bitten

Heute lehnt die Wissenschaft solchen Unsinn als barbarisch ab, aber die Gründe, warum Menschen hypersexuelles Verhalten entwickeln, sind weiterhin nicht abschließend geklärt. Erfahrungen aus Kindheit und Jugend spielen vermutlich eine Rolle, etwa sexuelle Übergriffe oder eine übersexualisierte Atmosphäre im Elternhaus. Patienten erzählten zum Beispiel, sagt Briken, dass sie miterlebt haben, wie Mutter oder Vater ihre Sexualpartner laufend wechselten. Sie berichten von offenen Türen, von Eltern, die Pornos schauten und sagten: "Setz dich dazu, guck mit."

Ebenso problematisch erweist sich Briken zufolge das komplette Gegenteil, wenn also sexuelles Verlangen und Verhalten in allen Bereichen tabuisiert wird. Für die Betroffenen werde Sexualität dann zu einem Raum, in dem sie - abgespalten von ihrem Alltag - alles unterbringen können, was sonst nicht zur Sprache kommen darf. Oft quälen die Betroffenen auch Depressivität oder Angst, Langeweile und innere Leere. Sex erscheint ihnen dann als einzige Möglichkeit, negative Gefühle zu mildern.

Zudem könnten neurobiologische Vorgänge eine Rolle spielen. So spricht bei den Betroffenen das Belohnungssystem im Gehirn überdurchschnittlich stark auf sexuelle Reize an. Deshalb behandeln Ärzte einen - allerdings kleinen - Teil hypersexueller Patienten auch medikamentös, zum Beispiel mit Antidepressiva. Die mindern nicht nur Depressionen und Ängstlichkeit, sondern dämpfen auch die Libido. Die Patienten können sich dann besser selbst kontrollieren.

Die größten Behandlungserfolge zeigen allerdings Psychotherapien. In der ersten Phase besprechen Therapeuten dabei mit ihren Patienten, wie diese ihr Verhalten besser kontrollieren können, zum Beispiel indem sie ihren Computer mit einer Filtersoftware versehen und ihn in einen Raum stellen, in dem sie nicht stundenlang unbeobachtet masturbieren können. Außerdem lernen die Patienten, auf negative Gefühle anders zu reagieren als mit Sex - zum Beispiel mit Sport, Entspannungs- oder Achtsamkeitsübungen.

In einem zweiten Schritt sollen die Patienten verstehen, wie sich die Symptome vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte, von Erlebnissen und Konflikten erklären lassen. Eine solche Therapie dauert manchmal Jahre, aber die Erfolgsaussichten sind gut, sagt Briken, ähnlich wie bei Patienten, die genau das Gegenteil quält: zu wenig Sex oder Lust. Davon sind nämlich deutlich mehr Menschen betroffen als von Hypersexualität.

Egal ob zu viel oder zu wenig: Briken beklagt generell eine Unterversorgung für Patienten, die unter ihrer Sexualität leiden, insbesondere seit das große sexualwissenschaftliche Institut in Frankfurt geschlossen wurde. "In Hamburg haben wir unser spezialisiertes Institut und können trotzdem nicht alle Patienten versorgen", sagt Briken. Das weiß auch der Mann am Telefon. Zweimal hat er mehrere Wochen in Suchtkliniken verbracht, eine davon ist mittlerweile geschlossen. Zum wöchentlichen Treffen seiner Selbsthilfegruppe fährt er mehr als hundert Kilometer. Zwar macht er in der Stadt, in der er wohnt, auch eine Psychotherapie. Aber die Psychologin ist nicht auf Fälle wie ihn spezialisiert, sagt er. "Sie tut ihr Möglichstes."

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