Studie zu EU-Osterweiterung:Angst vor Globalisierung ist unbegründet

Bei der EU-Erweiterung vor zehn Jahren fürchteten viele deutsche Firmen beinharte Konkurrenz aus Polen, Ungarn oder Tschechien. Es kam ganz anders. Dieser Befund einer aktuellen Studie ist für viele aktuelle Debatten interessant, in denen Marktöffnungen heftig umstritten sind.

Von Alexander Hagelüken

Vor zehn Jahren steckte Deutschland in der längsten Stagnation der Nachkriegszeit. Die Zahl der Arbeitslosen kletterte in Richtung fünf Millionen. Da löste die Erweiterung der EU um zehn Länder vorwiegend aus Osteuropa Ängste aus, alles werde noch schlimmer: Noch mehr Arbeitslose. "Deutschland lag psychisch am Boden", urteilt der Bonner Volkswirt Michael Grömling. Aus Befragungen Tausender deutscher Firmen weiß er, dass es selbst in der eher positiv gestimmten Wirtschaft viele Sorgen gab: Ein Drittel der Firmen erwartete aus Polen, Ungarn oder Tschechien harte Konkurrenz und den Druck zu rationalisieren, etwa über Entlassungen. Also noch mehr Arbeitslose. Jede zehnte Firma rechnete sogar damit, in größerem Umfang die Produktion in den Osten zu verlagern.

Grömling ließ die Firmen für das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft zweimal befragen, 2005 und jetzt. Das Ergebnis: Es kam alles ganz anders. Bereits ein Jahr nach dem Beitritt hatten sich die Sorgen-Werte fast halbiert. Bis heute sind sie weiter gesunken. Starken Druck zur Rationalisierung erlebte nur jede zehnte Firma - mehr als zwei Drittel weniger als befürchtet. "Die Osterweiterung ging offensichtlich ohne große Umwälzungen in den deutschen Unternehmen einher", fasst Grömling seine Studie zusammen, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

War die damals monatelang heftig diskutierte Erweiterung doch kein Jobkiller in Deutschland? Dieser Befund ist womöglich für viele aktuelle Debatten interessant, in denen Marktöffnungen heftig umstritten sind. Etwa für die Vorbehalte gegen Rumänen und Bulgaren, die seit diesem Jahr leicht auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen. Gegen das geplante europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen, das auch deutsche Sozialstandards unter Druck setzen könnte. Oder gegen die Globalisierung generell, die aus Sicht vieler Deutscher eher Verluste als Gewinne bringt.

Warum kam es nicht zum Konkurrenzschock?

Der Beitritt der osteuropäischen Länder 2004 war die größte EU-Erweiterung aller Zeiten. Sie brachte 74 Millionen Menschen zur Union. Und es passierte auch etwas: Binnen zehn Jahren haben sich sowohl die Exporte als auch die Importe fast verdoppelt, etwa zehn Prozent aller deutschen Exporte gehen heute in die EU-Länder Mittel- und Osteuropas. Der befürchtete große Importdruck blieb aber aus. Die Handelsbilanz ist beinahe ausgeglichen. Warum kam es nicht zum Konkurrenzschock, den so viele deutsche Firmen und Arbeitnehmer gefürchtet hatten?

Die erste Antwort ist, dass sich beide Seiten schon vor der Erweiterung wirtschaftlich integrierten: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich der deutsche Außenhandel mit den neuen Beitrittsländern bereits mehr als vervierfacht. Und deutsche Firmen hatten dort schon Fabriken aufgebaut. Der zweite Grund: "Ökonomische Integration ist keine Einbahnstraße", sagt Professor Grömling. Beide Seiten profitierten von dem stärkeren wirtschaftlichen Austausch. Statt wie befürchtet Einbußen in Deutschland gab es Gewinne auf beiden Seiten, deutsche Firmen exportierten auch mehr. Und als dann Mitte der Nullerjahre der Globalisierungs-Boom mit Schwellenländern wie China einsetzte, waren beide Seiten Nutznießer. "Deutsche Unternehmen exportierten in diese Staaten, und die osteuropäischen Länder lieferten ihnen dafür beispielsweise Vorprodukte", analysiert Grömling. Durch den Aufschwung stiegen die Löhne in Polen, Ungarn und Tschechien, und dadurch verringerte sich der gefürchtete Kostenunterschied zu Deutschland, den viele als Treiber für eine Verlagerung erwartet hatten.

Einfach können es sich Politiker und Unternehmer nicht machen

Michael Grömling zieht aus der Osterweiterung eine allgemeine Lehre: "Marktöffnungen und die zunehmende potenzielle Konkurrenz werden von vielen zunächst als eine Bedrohung wahrgenommen. Dies ist verständlich." Die Analyse der Umfrageergebnisse mache aber deutlich, dass die Befürchtungen in vielen Fällen so nicht eintreten. "Viele Ängste vor der Globalisierung sind unbegründet." Stimmt das, über das Beispiel der Osterweiterung hinaus? Unterm Strich hat sich die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland jedenfalls erhöht, seit die Globalisierung Anfang/Mitte der Neunzigerjahre richtig einsetzte: Um zehn Prozent auf etwa 42 Millionen. Auch die Wirtschaftsleistung nahm zu. Das spricht dafür, dass sich die Globalisierung selbst für Industrieländer mit sehr hohen Löhnen positiv auswirken kann.

Das historische Beispiel zeigt auch: Einfach können es sich Politiker und Firmen nicht machen. Sie müssen auf neue Konkurrenz reagieren. Die Jahre, in denen Deutschland die EU-Osterweiterung gut bewältigte, waren auch eine Zeit politischer Reformen wie der Agenda 2010 und großer Anstrengungen in den Firmen, international wettbewerbsfähiger zu werden.

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