33. Internationales Filmfestival Istanbul:Unterdrückte Gefühle

Szene aus Kenan Korkmazs Drama "Gegangen - Das Andere und das Unbekannte"

Das Bestehen auf Heimat: Szene aus Kenan Korkmazs Drama "Gegangen - Das Andere und das Unbekannte", das beim Internationalen Filmfestival ins Istanbul seine Weltpremiere feierte.

(Foto: Festival)

Wenn Menschen fortgehen: Beim diesjährigen Filmfestival in Istanbul thematisert das türkische Kino die Befindlichkeiten in einem Land, das seit langem von Aus- und Einwanderung geprägt ist. Es geht um die Sehnsucht nach Heimat, das Gefühl der Verlorenheit und das Herantasten an die eigene Identität.

Von Paul Katzenberger, Istanbul

Auf einen wie Asghar Farhadi muss eine Stadt wie Istanbul eine große Anziehungskraft ausüben. Der iranische Filmemacher, der für sein Drama "Nader und Simin - eine Trennung" mit Preisen überhäuft wurde (u. a. Oscar 2012), macht seine Filme inzwischen nicht mehr in seinem Heimatland. Dort herrscht bekanntlich eine strenge Zensur, die dem preisgekrönten Regisseur Jafar Panahi einen Hausarrest eingetragen hat.

Auch deshalb hat Farhadi seinen letzten Film "Le Passé" wohl in Frankreich gedreht, obwohl er die Sprache nicht beherrscht. Und trotzdem hat der 41-Jährige bereits angekündigt, seinen nächsten Film erneut in Europa drehen zu wollen. Wo genau, ist noch ein Geheimnis, doch als Präsident der Wettbewerbs-Jury beim diesjährigen Filmfestival in Istanbul könnte Farhadi auf Istanbul als Drehort gekommen sein. Zumindest deutete er diese Möglichkeit am Rande des Festivals an. Schließlich komme die türkische Kultur seiner eigenen Sozialisation sehr nahe.

Künstlerische Freiheiten, die zwar kleiner sind als im Westen, aber doch größer als im Iran, und trotzdem morgenländisches Flair - das muss einem Asghar Farhadi also als unschlagbare Kombination erscheinen. Doch Istanbul nimmt auch seine westlichen Besucher mit der Synthese aus Morgen- und Abendland gefangen, die auf das Internationale Filmfestival Istanbul ebenfalls abfärbt. Dafür sorgt allein schon die Atmosphäre im quirligen Stadtteil Beyoglu mit seinen unzähligen Shisha-Cafés, wo das Festival seinen Schwerpunkt hat.

Dazu trägt auch das Programm in Form seines nationalen Wettbewerbs bei, der einen sehr guten Überblick über das aktuelle türkische Kino bietet. Die politische Konfrontation, die der Konflikt um die drohende Überbauung des Gezi-Parks mit einem Einkaufszentrum im vergangenen Jahr ausgelöst hat, war nur am Rande zu spüren: Das türkische Kultusministerium gab den regierungskritischen Wettbewerbsfilm "Nicht ohne Kritik" erst ab 18 Jahren frei, was von Beobachtern als politische Intervention bewertet wurde. Im vergangenen Jahr hatten Proteste gegen den Abriss des traditionsreichen Emek-Kinos zu Gunsten eines Einkaufszentrums das Festival phasenweise überlagert.

Als Filmland hat sich die Türkei seit den späten 1990er Jahren im Weltkino neu etabliert, nachdem die Filmkunst, die in der so genannten Yeşilçam-Periode (benannt nach der Straße in Beyoglu in der das Emek-Kino stand) zwischen 1950 und 1970 zur Blüte gelangt war, in der Folge des Militärputschs von 1980 stark gelitten hatte.

Bilder statt Dialoge

Inzwischen wird Filmemachern wie Nuri Bilge Ceylan ("Drei Affen") und Semih Kaplanoglu ("Bal-Honig") regelmäßig der Rote Teppich in Cannes, Venedig und Berlin ausgerollt, doch dass hinter diesen beiden bekannten Namen inzwischen eine ganze Phalanx von Regisseuren steht, die ihre ganz eigene Filmsprache entwickelt haben, wird im Ausland kaum wahrgenommen. Typisch für das türkische Art-House-Kino dieser Generation sind sozialkritische Anliegen, die in minimalistischen und langsam erzählten Plots dargelegt werden, bei langen Einstellungen und natürlichem Licht.

Die extreme Zurückhaltung bei Dialogen sind das wohl markanteste Kennzeichen dieser Filme, die stattdessen auf starke Bilder mit Symbolkraft setzen und so auf Vorbilder wie Andrei Tarkowski, Roberto Rossellini oder Krzysztof Kieślowski verweisen.

Thematisch kreisen die Filme des aktuellen türkischen Kinos oft um einfache Leute im Alltag. Es geht um die Sehnsucht nach der Heimat oder um nostalgische Gefühle. Die Frage nach der Identität oder das Gefühl der Verlorenheit und des Nicht-Dazugehörens zur Gesellschaft sind regelmäßig aufgegriffene Stoffe, die auch beim diesjährigen Filmfestival in Istanbul oft behandelt wurden.

Eine Frühlingsblume obendrauf

Regisseurin Esra Seydam beim Filmfestival Istanbul

Die junge Regisseurin Esra Seydam bei der Weltpremiere ihres Debüt-Spielfilms "Dinge, die ich nicht erzählen kann" (Ko-Regisseurin Nisan Dag) in Istanbul.

(Foto: Paul Katzenberger)

Seinen zweiten Spielfilm "Gegangen - Das Andere und das Unbekannte" siedelte Regisseur Kenan Korkmaz beispielsweise in Nordmesopotamien im heutigen Südosten der Türkei an, in einem Gebiet, aus dem viele assyrische Christen vertrieben wurden. In einem Klima des Terrors verlassen in "Gegangen" viele Menschen das Land, doch der Dorfälteste weigert sich zu gehen. Sein Sohn Juhan bleibt bei ihm, während sich der zweite Sohn Josef zur Flucht entschließt. Indem Korkmaz beide Söhne mit ihrer Entscheidung hadern lässt, die sie unter Druck fällen mussten, zeigt er die persönlichen und sozialen Auswirkungen erzwungener Aussiedlung auf.

Dass es auch innerhalb der Türkei Armutsflüchtlinge gibt, machte der kurdische Regisseur Kazim Öz zum Gegenstand seines Films. In "Es war einmal" zeigt er eine kurdische Großfamilie, die aus Batman, einer Großstadt in Südost-Anatolien in die Hauptstadt Ankara zieht, um sich dort als Tagelöhner in der Landwirtschaft zu verdingen. Circa eine Million Menschen, die meisten von ihnen Kurden und viele davon Kinder, arbeiteten in der Türkei bei extrem niedriger Bezahlung als Tagelöhner, sagte Öz in Istanbul zur Lage der Minderheit in dem Land. Das habe ihn zu seinem Film bewogen, denn "die Kunst sollte weiterhin das Gewissen der Menschheit sein."

Menschen, die fortgehen, waren auch im Kontext von Beziehungsgeschichten eines der wiederkehrenden Themen dieses Istanbuler Festivaljahrganges. In "Konsequenzen" von Ozan Aciktan kehrt Cenk (Ilker Kaleli) aus den USA nach Istanbul zurück. Als er auf Ece (Nehir Erdogan) trifft, mit der er vor seinem Weggang eine Beziehung hatte, machen sich unterdrückte Gefühle bemerkbar, die ganz ähnlich auch Damla (Damla Sönmez) packen, als sie in "Dinge, die ich nicht sagen kann" mit ihrem amerkanischen Ehemann aus den USA in den türkischen Ferienort ihrer Kindheit kommt und dort Burak (Ahmet Sungar) begegnet - ihrem ersten Geliebten im Leben.

Den zwei Regisseurinnen Esra Saydam und Nisan Dag gelingt es trotz ihres jungen Alters, diesen Herzschmerz sehr eindringlich ohne falschen Pathos darzustellen. Die Verwerfungen, die sich zwangsläufig auftun, wenn Menschen ihre Heimat verlassen, wird im Film des Emigrationslandes Türkei derzeit ganz offensichtlich aufgearbeitet.

Erschütterte Identitäten

Die Frage nach der eigenen Identität ist davon automatisch häufig berührt. Für sein Drama "Ich bin nicht er" über den Junggesellen Nihat (Ercan Kesal), dessen Leben sich durch die Beziehung zu einer Frau radikal verändert, wurde Regisseur und Drehbuchautor Tayfun Pirselimoglu bereits im vergangenen Jahr mit dem Drehbuchpreis des Filmfestivals Rom ausgezeichnet. In Istanbul kam nun noch der Hauptpreis des nationalen Wettbewerbs hinzu.

Im internationalen Wettbewerb, der erneut eine interessante Zusammenstellung von aktuellen Festival-Highlights aufbot, siegte ebenfalls ein Film, der schon andernorts prämiert wurde. Das norwegische Drama "Blind" von Eskil Vogt war im Winter schon beim Sundance-Festival und bei der Berlinale mit Preisen ausgezeichnet worden. Nun gab es für die Geschichte, in der es um die Phantasie einer Erblindeten geht, eine Frühlingsblume oben drauf - die Istanbuler "Goldene Tulpe".

Der Besuch des Filmfestivals Istanbul wurde teilweise vom Veranstalter unterstützt.

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