Ostukraine:Volksaufstand ohne Volk

Slawjansk in der Ost-Ukraine

Alltag in Slawjansk: Eine ältere Frau passiert einen Panzer.

(Foto: AFP)

Alltag in Slawjansk bedeutet Alltag am Rande eines Bürgerkriegs. Behördengebäude sind nicht mehr in der Hand der Kiewer Staatsmacht, öffentlich werden sogenannte "Helden" beigesetzt. Die Stimmung in der Stadt ist allerdings verhalten, zu unübersichtlich ist die Lage.

Von Daniel Brössler, Slawjansk

Wladimir Buchow will sich das nicht gefallen lassen. Vor seiner Nase sind gerade die Gitter der VAB-Bank im Zentrum von Slawjansk heruntergegangen. "Ein Anruf aus Kiew, heute geschlossen", wurde er abgefertigt. Mit seinen 77 Jahren, findet Buchow, hat er mit dem, was in seiner Stadt gerade vorgeht, eigentlich nicht viel zu tun. Er will nur seine Pension. Das Referendum? "Ist mir egal", sagt er.

Entschlossen umrundet der frühere Busfahrer den Plattenbau, in dem die Filiale untergebracht ist, und klopft an die Hintertür. Nach einer Weile öffnet eine Bankangestellte. "Wir haben geschlossen. Ein Anruf aus Kiew", wiederholt sie. Mit Politik habe das nichts zu tun. Jedenfalls nicht direkt. "Wenn - Gott behüte - etwas passiert, wer soll uns zu Hilfe kommen?"

Gute Frage. Im ostukrainischen Slawjansk ist von dem, was noch vor ein paar Tagen die Staatsmacht war, nichts mehr zu sehen. Ein paar Schritte von der Bank entfernt türmen sich Lastwagenreifen, Sand und Sperrmüll zu einer Blockade unter einer riesigen schwarz-blau-roten Fahne der "Republik Donezk". Ein Plakat propagiert das "Referendum", in dem die prorussischen Kräfte, die in der Gegend das Sagen zu haben scheinen, am 11. Mai über den Bruch mit Kiew abstimmen lassen wollen. Zwei junge Männer ganz in Schwarz bewachen die Blockade. "Keine Fotos", sagen sie. Und: "Kein Durchgang." Zur Polizeistation führt kein Weg. Sie ist eines von drei Gebäuden in der Hand von . . . Ja, von wem eigentlich?

Alltag am Rande eines Bürgerkriegs

An den Straßensperren aus Lkw-Reifen, die im Abstand von ein paar Hundert Metern auf dem Weg ins Zentrum von Slawjansk errichtet wurden, tun Jungs in Trainingsanzügen Dienst. Manche haben sich Halstücher ums Gesicht gebunden, was sie martialischer aussehen lässt. Die meisten Autos werden durchgewunken.

Es hat sich so etwas wie Alltag eingeschlichen. Ein Alltag am Rande eines Bürgerkriegs allerdings. Vor der Kirche unweit des Lenin-Denkmals haben sich mehrere Hundert Menschen versammelt, die ein Spalier bilden. In der ersten Reihe stehen ein paar Männer in Kosaken-Tracht mit roten Nelken in der Hand. Im Hintergrund halten sich Männer in Tarnfleck-Uniformen, einige von ihnen bewaffnet mit Kalaschnikows. Schließlich treffen drei grüne Stadtbusse ein. Die Menge verfolgt, wie ein Kofferraum nach dem anderen geöffnet und je ein Sarg herausgehoben wird. "Ehre den Helden von Slawjansk", schreit eine Frau, während Männer den ersten Sarg durchs Spalier zur orthodoxen Kirche tragen. "Ehre, Ehre, Ehre", antwortet die Menge.

Kein Anschluss unter der angegebenen Nummer

Die "Helden von Slawjansk" sind am Ostersonntag etwa zehn Kilometer vor der Stadt an einem der neuen Bürgerwehr-Checkpoints erschossen worden. Das scheint sicher zu sein, sonst eigentlich nichts. Nach Darstellung der Separatisten soll aus vier Fahrzeugen heraus das Feuer eröffnet worden sein. Der selbst ernannte Bürgermeister von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, präsentierte eine angeblich am Tatort gefundene Visitenkarte von Dmitro Jarosch, dem Führer der nationalistischen Gruppierung "Rechter Sektor" aus Kiew.

Obwohl es unter der angegebenen Nummer keinen Anschluss gibt, sind die Menschen vor der Kirche in Slawjansk überzeugt, dass die "Faschisten" aus Kiew hinter dem Tod der drei Männer stecken. "Was hatten wir für ein Leben", sagt eine Frau, die sich als frühere Lehrerin vorstellt, "wir hatten die Pioniere, wir hatten den Komsomol". Sie habe Russisch und Ukrainisch unterrichtet, "gern habe ich das gemacht". Heute aber sei ihr das Ukrainische widerlich geworden, wegen der "Faschisten" in Kiew. Es ist schwer, jemanden zu finden, der die prowestliche Regierung in der Hauptstadt anders nennt.

Der selbst ernannte Bürgermeister von Slawjansk hat russische "Friedenstruppen" erbeten

In Kiew ist derweil der amerikanische Vizepräsident Joe Biden zu Besuch. Er sichert der Übergangsregierung die Unterstützung der USA zu. "Sie stehen vor gewaltigen Problemen und, wie manche sagen würden, erniedrigenden Drohungen", sagt Biden bei einem Treffen mit Abgeordneten. Die Präsidentschaftswahl am 25. Mai sei möglicherweise die "wichtigste Wahl in der Geschichte der Ukraine". Soll heißen: Es geht um das Überleben des Landes in seinen heutigen Umrissen. Russlands Präsident Wladimir Putin hat an der Grenze zur Ukraine Truppen zusammengezogen, bis zu 50 000 Mann sollen es sein.

Sucht der Kremlchef nach der Annexion der Krim nach einem Anlass, auch im Osten der Ukraine einzumarschieren? Nach einem Anlass von der Art des Schusswechsels in Slawjansk? "Bürgermeister" Ponomarjow hat "Friedenstruppen" erbeten. Seine Stadt ist eine von etwa zehn im Osten der Ukraine, in denen prorussische Gruppen Gebäude von Verwaltung, Geheimdienst und Polizei besetzt haben.

Am Dienstagabend wird gemeldet, eine ukrainisches Militärmaschine sei über der Stadt beschossen worden. Das Aufklärungsflugzeug habe notlanden müssen, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew danach mit. Es habe keine Verletzten gegeben.

Dem Volksaufstand im Osten fehlt das Volk

Interimspräsident Alexander Turtschinow nahm unter anderem diesen Zwischenfall zum Anlass, eine Wiederaufnahme der "Anti-Terror-Maßnahmen" gegen prorussische Separatisten bekannt zu geben. Außerdem berichtete er, dass in der Nähe von Slawjansk die Leichen gefolterter Menschen gefunden worden seien. Provinzmetropolen sind zu Brennpunkten des Weltgeschehens geworden. Die aktuellen Machthaber in Slawjansk sind sich dessen bewusst. Sie haben mehrsprachige Flugblätter aufgehängt. "Nein zum Faschismus", ist dort ist auf Russisch, Englisch und Deutsch zu lesen. Und auch: "EU - Hände weg von der Ukraine". Die Welt möge nicht "mit zweierlei Maß messen". Soll heißen: Im Osten der Ukraine erhebt sich das Volk, so wie vor ein paar Monaten auf dem Maidan in Kiew.

Allein: Dem Volksaufstand fehlt das Volk. In Slawjansk, einer Stadt von 100 000 Einwohnern, sind ein paar Hundert zur Kirche gekommen, um Abschied zu nehmen von den Männern, die am Ostersonntag gestorben sind. Auch am Lenin-Denkmal sind es keine Massen, die rote Nelken niederlegen für die "Helden".

Vielleicht auch, weil sich dahinter ein unheimliches Bild bietet. Am Eingang der Stadtverwaltung türmt sich eine Mauer aus Sandsäcken. Schwer zu sagen, ob dahinter jene Russen Quartier bezogen haben, von deren Anwesenheit die ukrainische und die amerikanische Regierung überzeugt sind. Wer durch einen Spalt blickt, kann Schwerbewaffnete in Tarnuniformen sehen. Sie warten auf den Sturm.

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