Krise in der Ostukraine:Russland erzählt vom Krieg

Prorussischer Seperatist im Osten der Ukraine

Prorussischer Separatist in Slawjansk im Osten der Ukraine.

(Foto: REUTERS)

Schießereien, entführte Journalisten und Leichen mit Folterspuren. Die Nachrichten aus der Ostukraine werden schrecklicher. Kiew und der Westen machen Russland verantwortlich, doch die Regierung Putin zeichnet ein ganz anderes Bild - mit den immer gleichen Bestandteilen.

Von Hannah Beitzer

Wolodymyr Rybak ist tot. Er wurde gefoltert und dann ertränkt - so berichtet es das ukrainische Innenministerium in Kiew. Die Leiche des Regionalpolitikers, der Julia Timoschenkos Vaterlandspartei angehörte, sei in einem Fluss nahe der Stadt Slawjansk gefunden worden. Slawjansk ist seit einigen Wochen unter der Kontrolle von russischen Separatisten. Neben Rybak sei noch ein zweiter Leichnam gefunden worden, der noch nicht identifiziert sei.

Für Kiew ist der Fall klar: Prorussische Kräfte haben Rybak in Horliwka entführt, heißt es dort. Er habe an einer anti-separatistischen Demonstration teilgenommen und sei daraufhin verschleppt worden. Besorgniserregend ist auch der Fall des US-amerikanischen Journalisten Simon Ostrovsky, der für das US-Magazin Vice News aus der Ukraine berichtet. Er ist seit einigen Tagen verschwunden. Mehreren Medien zufolge sei er ebenfalls in der Gewalt von Separatisten. Am Dienstag hatte der selbst ernannte Bürgermeister von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, einem Bericht der russischen kremlkritischen Internetzeitung Gazeta.ru zufolge in einer Pressekonferenz mitgeteilt, dass der Reporter in den Händen der Separatisten sei, es ihm jedoch gut gehe. Das letzte Lebenszeichen von Ostrovsky ist ein Tweet von einer Pressekonferenz prorussischer Kräfte.

Nach Informationen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sollen bereits am Montag drei französische, italienische und weißrussische Journalisten kurzzeitig von Separatisten in Slawjansk festgehalten worden sein. Entführte Journalisten, gefolterte Politiker: Die Nachrichten aus dem Osten der Ukraine sind schrecklich - und eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht.

Kiew vermutet Moskau hinter der Eskalation

Im Gegenteil: Die ukrainische Übergangsregierung wirft Russland vor, die "Terroristen und Separatisten" im Osten der Ex-Sowjetrepublik zu unterstützen. Russland müsse auf seine Anhänger einwirken, um dort die "Gewalt zu beenden und Geiseln sowie besetzte Gebäude freizugeben". Aus Kiew heißt es: "Leider werden gerade friedliche Bürger jetzt Opfer von kriminellen Handlungsreisenden und Terroristen, die sich hinter politischen Losungen verstecken."

Auch der Westen, allen voran die USA, beschuldigt Moskau, an der Eskalation im Osten der Ukraine schuld zu sein. Zuletzt drohte US-Außenminister John Kerry seinem Amtskollegen Sergej Lawrow mit neuen Sanktionen, wenn die russische Regierung nicht zu einer Deeskalation beitrage. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton äußerte sich besorgt über die Vorfälle. Erst vor wenigen Tagen hatten Ashton und die Außenminister von Russland, der Ukraine und der USA in Genf versucht, einen Kompromiss zur Entschärfung der Lage zu finden. So sollten etwa paramilitärische Gruppen entwaffnet werden.

Für den Westen und die Ukraine sind damit vor allem die separatistischen Kräfte in der Ostukraine gemeint. Russland sieht das nicht so - und zeichnet ein gänzlich anderes Bild der Lage als der Westen. Die Hauptgefahr, so die russische Lesart, geht nicht von den bewaffneten prorussischen Kräften im Osten aus - sondern von "Faschisten" in Kiew. Gemeint sind damit etwa die Angehörigen des Rechten Sektors, die maßgeblich am Sturz von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch beteiligt waren.

Die Foltervorwürfe und die mutmaßliche Entführung des US-Journalisten Ostrovsky spielen in den staatlichen Medien des Landes keine Rolle. Stattdessen beschäftigen sich Russlands Berichterstatter seit Anfang der Woche intensiv mit einer Schießerei in Slawjansk am Ostersonntag, bei der mehrere Menschen starben. Moskau macht für den Tod der Menschen den Rechten Sektor verantwortlich - weil am Tatort eine Visitenkarte gefunden worden sei, die Dmitrij Jarosch, dem Anführer der Rechten, gehört haben soll.

Russland sieht Ukraine von "Faschisten" bedroht

Damit schreiben die kremltreuen Medien eine Erzählung fort, die sie schon seit Beginn der Proteste gegen Ex-Präsident Janukowitsch verfolgen. Demnach habe in Kiew ein faschistischer Putsch stattgefunden, dessen Drahtzieher nun auch die Bürger in der Ostukraine bedrohten. Die BBC hat am Beispiel der Schießerei von Slawjansk aufgeführt, wie russische Medien mit den immer selben Zutaten die Ängste der eigenen Bevölkerung und der russischsprachigen Menschen in der Ostukraine schüren.

Als Beleg für die Bedrohung durch Faschisten diene dabei häufig der bewaffnete Rechte Sektor mit seinem Anführer Jarosch, dessen Einfluss auf die Protestbewegung auf dem Maidan und die Kiewer Übergangsregierung als enorm groß dargestellt wird. Auch die Beteiligung der nationalistischen Partei Swoboda an der Übergangsregierung bringt Kiew ins Dilemma. Nach Ansicht vieler Experten rächt es sich nun, dass die demokratischen Kräfte der Anti-Janukowitsch-Bewegung sich auf eine Zusammenarbeit mit den Rechten eingelassen haben - sowohl auf dem Maidan als auch im Parlament. Selbst wenn sie in der Protestbewegung zahlenmäßig unterlegen sind, so machten sowohl der Rechte Sektor als auch Vertreter der Swoboda zuletzt mit gewalttätigen Aktionen auf sich aufmerksam.

In den russischen Medien finden sich außerdem häufig Hinweise auf "ausländischen Einfluss". Die Maidan-Bewegung, heißt es dort oft, sei aus dem Westen finanziert worden. Nach der Schießerei in Slawjansk berichteten russische Sender über Waffen der Nato, die eingesetzt worden seien. Die BBC schreibt weiter, dass in den Berichten oft Hinweise auf den Zweiten Weltkrieg und die damalige Bedrohung durch den Faschismus auftauchen - im Falle der Schießerei in Slawjansk etwa die explizite Beschreibung einer dort angeblich benutzten deutschen Maschinenpistole aus dem Zweiten Weltkrieg.

Faschismus als Feindbegriff

In der Tat ist der Zweite Weltkrieg vor allem für das post-sowjetische Russland Trauma und identitätsstiftendes Moment in einem. Bereits die Sowjetunion erschuf nach 1945 die ständige Bedrohung durch das "faschistische" Ausland als Propagandamittel. "Faschismus" war nach sowjetischer Lesart später weniger mit den tatsächlichen faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts verbunden als mit dem Westen im Allgemeinen. Der Begriff diente als logische Steigerungsform des feindlichen "Kapitalismus".

Der "Faschismus" als Feind funktioniert bis heute - und zwar nicht nur in Russland, das sich als natürlicher Nachfolger des sowjetischen Imperiums versteht, sondern auch in der Ostukraine, wo viele Menschen dem Westen kritisch gegenüberstehen. Wie sich vor allem die ältere Generation immer noch vor deutschen Panzern und westlichem Einfluss fürchtet, hat Konrad Schuller in einer Reportage in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung beschrieben.

Die BBC führt zwei weitere typische Elemente der russischen Berichterstattung über die Ukraine-Krise an: So spiele zum einen häufig die orthodoxe Religion eine Rolle - die Schießerei in Slawjansk wurde etwa deswegen besonders beklagt, weil sie über die Osterfeiertage stattfand. Zum anderen - und noch viel wichtiger aber sei: Die Ereignisse in der Ostukraine dienen als Rechtfertigung für ein mögliches russisches Eingreifen. Immer wieder berichten Staatsmedien von "Hilferufen" der Bevölkerung an die Regierung Putin. Sie möge die Ostukraine vor den "Faschisten" aus Kiew beschützen.

Scheinheiliger Westen

Dem Westen wirft Russland Scheinheiligkeit vor. Warum, fragen Vertreter der Regierung Putin seit Ausbruch der Krise, seien die bewaffneten Kämpfer in der Ostukraine nun "Terroristen", während die ebenfalls bewaffneten Demonstranten vom Maidan vor einigen Wochen als "Protestbewegung" unterstützt worden wären? Hätten nicht die Bürger im Osten der Ukraine ebenfalls ein Recht, gegen Kiew aufzubegehren, wenn sie das möchten?

Anschuldigungen des Westens und Kiews, dass dort keinesfalls spontan aufgebrachte Bürger protestierten, sondern vielmehr Moskau die Situation gezielt eskaliere, weist Russland weit von sich. Und in der Tat sind die Beweise aufgrund der chaotischen und gefährlichen Lage vor Ort eher dürftig. So legten die ukrainische und die US-Regierung zwar Bilder vor, die eine Beteiligung russischer Spezialkräfte an den Aufständen beweisen sollten, doch deren Echtheit ist schwer zu überprüfen.

Der Westen hofft nun in erster Linie auf die OSZE, deren Beobachtungen bereits für die Gespräche von Genf eine große Rolle gespielt haben. Die OSZE-Mission soll nun nicht mehr nur beobachten, sondern auch mit den Separatisten verhandeln und deren Entwaffnung überwachen. Von den Beobachtern vor Ort kommt aber bisher keine Entwarnung: Die Situation sei weiter angespannt. Vor allem verliefen, so zitiert die Neue Osnabrücker Zeitung einen deutschen OSZE-Mitarbeiter, die Fronten nicht so eindeutig, wie häufig dargestellt: "Es ist zumindest denkbar, dass es Gruppen gibt, die sich weder durch Kiew noch durch Moskau repräsentiert fühlen."

Viel Zeit für eine friedliche Lösung bleibt der OSZE ohnehin nicht. Die Übergangsregierung in Kiew hat bereits die Wiederaufnahme des über Ostern ausgesetzten "Anti-Terror-Einsatzes" im Osten des Landes angekündigt.

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