Estland nach 10 Jahren als EU-Mitglied:Übervorsichtig und besorgt wegen Putin

Estland nach 10 Jahren als EU-Mitglied: Ein Grenzübergang zwischen den baltischen Staaten Estland und Lettland. In der Region blicken nun viele Menschen mit Sorge auf das Handeln des großen Nachbarns Russland.

Ein Grenzübergang zwischen den baltischen Staaten Estland und Lettland. In der Region blicken nun viele Menschen mit Sorge auf das Handeln des großen Nachbarns Russland.

(Foto: Imago Stock&People)

Die Esten gelten als Musterschüler der EU, weil ihre Regierung kaum Schulden macht. Dass jedes zehnte estnische Kind in Armut aufwächst und die russische Minderheit benachteiligt ist, ist weniger bekannt. Zehn Jahre nach dem Beitritt zu EU und Nato fragt sich das Land: Könnten wir Moskaus nächstes Opfer sein?

Ein Gastbeitrag von Anna Karolin

Die 26 Jahre alte Estin Anna Karolin arbeitet bei der Good Deed Foundation und beendet gerade ihr Politik- und Verwaltungsstudium an der Universität von Tartu. Als Debattiertrainerin hat sie mehrere Jugend-Bildungsinitiativen mitentwickelt, unter anderem das Model European Parliament.

In den düstersten Tagen der Eurokrise fühlten sich die Esten oft wie Europas wirtschaftliche Superstars. Auch wenn der Star-Ökonom und Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, unser estnisches Wirtschaftsmodell nicht mag, haben wir es tatsächlich geschafft, sinnvolle Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben vorzunehmen, weswegen es kaum Proteste gab und sich Estlands Wirtschaft schnell erholt hat.

In der estnischen Politik gilt der ausgeglichene Staatshaushalt noch immer als grundlegendes Dogma und die Durchschnittsbürger sind seltsamerweise stolz darauf, dass wir Geld an unseren südlichen Nachbarn Lettland (unser Äquivalent eines Bruders, mit dem man immer verglichen wird) geliehen und uns am Bailout Griechenlands beteiligt haben. Manche behaupten gar, dass der Ausdruck "ehemals sowjetisch" auf Estland nicht mehr zutreffe und wir jetzt Europäer seien.

Nachdem wir 1991 unsere Unabhängigkeit von der sowjetischen Besatzung wiederhergestellt haben, hat Estlands Elite sehr systematisch den Kurs Richtung Westen eingeschlagen, vor allem hinsichtlich einer Mitgliedschaft in EU und Nato. Während die Beziehung zum unruhigen, aber ökonomisch verlockenden Russland oder das Graben in der sowjetischen Vergangenheit von einigen mittel- und osteuropäischen Ländern kontrovers aufgenommen wurde, hat sich Estland darauf konzentriert, eine Gesellschaft aufzubauen, die auf den Idealen des freien Marktes basiert.

Verglichen mit anderen mittel- und osteuropäischen Staaten ist unsere Beziehung zu Russland immer noch am schlechtesten (so haben wir immer noch keinen gültigen Grenzvertrag) und Moskaus abstoßende Haltung (inklusive der Wirtschaftsblockade), vor allem nach den Krawallen um die Statue des Bronze-Soldaten, haben Estland gezwungen, engere Beziehungen zu seinen nordischen Partnern Finnland und Schweden aufzubauen.

Wir Esten, die Lieblingsschüler der EU

Unser Weg in die Europäische Union verlief sehr schnell, da Hunderte von jungen Staatsdienern eifrig an der Umsetzung der erforderlichen Reformen gearbeitet haben. Mitglied der EU und der Nato zu werden, war ein nationales Projekt, kein Projekt der Eliten - und vielleicht das wichtigste Ereignis in unserer jüngeren Geschichte.

Glücklicherweise lesen sich die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft wie ein solider Leitfaden für liberale Demokratien. Estlands wirtschaftliche Situation in den neunziger Jahren war fragil und unsere jungen Minister (der damalige Premierminister Mart Laar war gerade 32 Jahre alt) haben berichtet, dass sie mit Hilfe eines Buches gelernt haben, wie man ein demokratisches Land mit einer Marktwirtschaft regiert (es handelte sich um Milton Friedmans "Chancen, die ich meine"). Zeitweise wurden einige Gesetze fast wortgetreu aus dem deutschen Grundgesetz abgeschrieben, um überhaupt moderne Gesetze anstatt der sowjetischen zu haben.

Die Folgen der Sowjetzeit sind bis heute spürbar

Während der sowjetischen Besatzung hat Estland ungefähr 17,5 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Wären wir nicht Teil der UdSSR gewesen und hätten uns etwa wie Finnland entwickeln können, dann wäre unser Bruttosozialprodukt Schätzungen zufolge heute fünf Mal höher. Doch andere Auswirkungen sowjetischer Vorgaben sind immer noch zu spüren und einige schmerzhafte Themen sieht keiner unserer Politiker gerne in internationalen Zeitungen thematisiert. Ungefähr jedes zehnte Kind in Estland lebt in absoluter Armut.

Auch wenn wir eine hohe Beschäftigungsquote unter Frauen vorweisen können, besteht eine geschlechtsbedingte Gehaltsdifferenz in Höhe von 25 Prozent. Unsere Arbeitslosenrate liegt konstant unter zehn Prozent, bei der russischsprachigen Minderheit ist sie hingegen doppelt so hoch. Estnische Männer sterben mit 71,4 Jahren deutlich früher als Estinnen, die 81,5 Jahre alt werden. Zudem ist unsere Produktivitätsrate weniger als halb so hoch wie der EU-Durchschnitt.

Daher wandern sehr viele junge Menschen und Teile der arbeitenden Bevölkerung aus. Wir Esten arbeiten in Hotels in England oder in Krankenhäusern in Finnland und sind an unserem äußerst komplizierten und seltsamen Geheimcode zu erkennen (es ist die estnische Sprache, die weniger als eine Million Menschen sprechen). Der Trend, das Land zu verlassen, ist unter den jungen und gut ausgebildeten Russen noch stärker (auf estnisch nennen wir sie eestivenelased - estnische Russen).

Während meiner Schulzeit habe ich in den Sommerferien oft Erdbeeren in der Nähe der finnischen Stadt Turku gepflückt, womit ich mehr Geld als meine beiden Eltern zusammen verdient habe. Estland hat nur 1,3 Millionen Einwohner und ist ohnehin dünn besiedelt, doch die ländlichen Gegenden sterben aus. Für ein paar tausend Euro kann man in einer kleineren Stadt eine Wohnung kaufen.

Einige argumentieren, dass dies der Preis ist, den wir für unsere niedrigen Steuern und den schlanken Staat bezahlen müssen. Dies hat aber nichts damit zu tun, dass wir nicht solidarisch sind - ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass Esten sich gegenseitig unterstützen und in den meisten Bereichen des Lebens sehr gut kooperieren.

Unsere politische Kultur reagiert jedoch äußerst allergisch auf jeden Anflug von Sozialismus und die radikalen Wirtschaftsreformen haben unsere kollektiven Normen von Individualität und wirtschaftlichen Erfolg verändert. Die meisten Esten würden wohl darin übereinstimmen, dass Kinderarmut etwas sehr schlechtes ist; Obdachlosigkeit, Drogensucht und andere schwerwiegende soziale Probleme werden aber weithin immer noch als eigenes Verschulden der Menschen gesehen, wofür man keine Hilfe aus der Gesellschaft erwarten darf.

Die heikle Frage: Was macht Russland?

Zusätzlich zu den Geschichten über den Drang gen Westen gibt es ein paar Dinge, die unser Ego mehr kitzeln als Gespräche über den Erfolg der estnischen Wirtschaft. Allerdings finde ich es höchst bizarr, dass die dringenden Empfehlungen der OECD und des Internationalen Währungsfonds über sozial fortschrittliche Reformen zur Verbesserung unserer Wirtschaft ignoriert werden. Das Schicksal der südeuropäischen Volkswirtschaften ist in dieser Diskussion nicht hilfreich - sozialdemokratische Ideen über Investitionen in Menschen werden durch Beispiele über die Verschwendung öffentlicher Gelder in Frankreich und Spanien widerlegt.

Zudem müssen wir immer noch die Herausforderung der Kommunikation mit unserer 23-prozentigen Minderheit bewältigen - die estnischen Russen eestivenelased. Ich würde mir nicht anmaßen für sie zu sprechen, aber unsere nationale Politik scheint mehr auf Assimilation als auf Integration zu zielen und es ist schwieriger, ein Russe in Estland zu sein als ein Este. Die Frage der eestivenelased wird in der estnischen Politik als Frage der Sicherheit behandelt - es geht nicht um gleiche bürgerliche Rechte oder das Wohlergehen der Menschen.

Angesichts der jüngsten Ereignisse in der Ukraine ist es jedoch zu einer Veränderung im Tonfall gekommen. Die sicherheitspolitische Bedeutung der eestivenelased hat sich gewandelt. Könnten sie Mutter Russland um Hilfe bitten? Könnte Russland auch Ansprüche auf den östlichen Teil Estlands stellen? Die Antworten auf diese Fragen fallen wahrscheinlich - und glücklicherweise - negativ aus. Aber wir haben sicherlich nicht alles dafür getan, dass sich die eestivenelased bei uns zu Hause fühlen.

Für mich ist ganz klar, dass die Heimat der eestivenelased Estland ist - Moskau versucht seit Jahren vergeblich, die Leute mit russischen Pässen zu ködern. Am vergangenen Samstag veranstaltete die von Russland finanzierte Nachtwache-Bewegung (Öine Vahtkond), die 2007 die Krawalle rund um den Bronzenen Soldaten organisiert hatte, eine Protestaktion am ehemaligen Standort des Sowjetdenkmals. Das Treffen fand unter dem Motto "Zur Verteidigung der russischen Welt" statt - und abgesehen von den Journalisten kamen genau fünf Menschen.

Dieser Artikel wäre ganz anders geworden, wenn ich ihn vor einigen Monaten geschrieben hätte. Die sich überschlagenden Ereignisse in der Ukraine haben unsere nationale Diskussion über sozialen Fortschritt in Richtung grundlegender Sicherheitsfragen verändert. Ist einer unserer östlichen Alliierten der nächste? Könnten wir die nächsten sein und was würden wir tun? Und noch viel wichtiger - was würden unsere Alliierten tun?

Es könnte sein, dass Esten übervorsichtig und paranoid auf Putin reagieren und dass wir bald schon unsere Aufmerksamkeit wieder auf soziale und solidarische Fragen in Estland richten müssen. Doch gegenwärtig liegt unser Fokus nicht auf Kinderarmut, sondern wir fürchten aggressive Schritte aus dem Osten und blicken Richtung Europäischer Union und Nato in der Hoffnung auf Hilfe, Solidarität und Sicherheit.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung. Bis zur Europawahl Ende Mai werden in der Serie junge Europäer zu Wort kommen - streitbar, provokativ und vielfältig.

An English version of the text will soon be available at the website of FutureLab Europe.

Übersetzung: Dorothea Jestädt

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