Soziales Netzwerk für die Amish:Wie ein analoges Facebook

Soziales Netzwerk für die Amish: Der Chefredakteur der Zeitung ist auch Besitzer und Herausgeber: Hauptquartier von "The Budget". Dieser Teil Ohios heißt auch "die kleine Schweiz".

Der Chefredakteur der Zeitung ist auch Besitzer und Herausgeber: Hauptquartier von "The Budget". Dieser Teil Ohios heißt auch "die kleine Schweiz".

(Foto: Boie)

Strenggläubige Amische sehen nicht fern, verwenden keinen Computer und fahren nicht Auto. Aber sie lesen Zeitung und finden darin seit 124 Jahren die Status-Updates ihrer Freunde. Ein Besuch bei "The Budget" in Ohio.

Von Johannes Boie, Sugarcreek, Ohio

In Newmanstown, Pennsylvania, ist die Nachrichtenlage ziemlich komplex "Wir hatten ganz unterschiedliches Wetter diese Woche, von Sonnenschein und eher warm bis eher kalt, Regen und Schnee", schreibt Lavinia Weaver, ihres Zeichens Berichterstatterin der Zeitung The Budget. Dafür hat Weaver ein paar gute Nachrichten vom vergangenen Wochenende: Einen Besuch bei Bruder Abraham am Samstagvormittag habe man genutzt, um über vergangene Zeiten zu reden. Es muss, im Rahmen des Möglichen, hoch hergegangen sein.

Der Rahmen des Möglichen ist allerdings eher eng gesetzt. Lavinia Weaver ist entweder Mennonitin oder Amish. Beide streng christlichen Glaubensgemeinschaften sind für ihr Leben ohne moderne Technik bekannt, die meisten Amish leben ohne Strom, Autofahren ist ihnen nicht erlaubt. Sozialer Druck und Angst vor der Hölle sorgen dafür, dass die kinderreiche Gemeinschaft wächst, Austritte sind selten. Noch heute ist Englisch für sie nur die zweite Sprache, am besten verstehen viele von ihnen sehr altertümliches Deutsch, das Pennsylvaniadeutsch, das an breites Pfälzisch oder Schwäbisch erinnert; manche sprechen auch schweizerdeutsche Dialekte.

In Sugarcreek, einem Kaff im Norden Ohios, sitzt Keith Rathbun in einem kleinen einstöckigen, mit Holz verkleideten Gebäude, das aussieht wie der Versuch, ein Schweizer Chalet im Norden Ohios nachzubauen. Exakt das ist es auch, Sugarcreek nennt sich "die kleine Schweiz", und dass die Einwohner stolz darauf sind, liegt vielleicht daran, dass die wenigsten von ihnen schon einmal in der Schweiz waren. Um Sugarcreek lebt mit 55 000 Mitgliedern die größte Amish-Gemeinschaft der Welt, die schwarzen Kutschen der Gläubigen haben hier eigene Spuren neben den Fahrbahnen der Autos.

Neuigkeiten vom letzten Wochenende

Das Schweizer-amerikanische Haus ist das Hauptquartier von The Budget. Rathbun, ein ausgesucht höflicher Herr, ist hier Chefredakteur, Herausgeber und Besitzer in einer Person. Seine Finger streichen über die aktuelle Zeitung, in der der Bericht von Lavinia Weaver steht, dessen Inhalt jetzt auch schon wieder mehrere Tage alt ist. Oder, wie Rathbun es zufrieden ausdrückt: "Ziemliche frische Neuigkeiten vom letzten Wochenende." Wie die meisten Menschen im Norden Ohios und wie seine Angestellten, die mal redaktionelle, mal organisatorische Aufgaben erledigen, ist Rathbun gläubiger Christ, aber kein Amish oder Mennonit. Er arbeitet am Computer.

Die Zeitungskrise, die ringsum die Regionalzeitungen Ohios zusammenfaltet wie ein Frühjahrs-Hurrikan die Häuser in den Südstaaten, ist hier höchstens gut, um dem Chef ein Lächeln zu entlocken. "Wir haben hier Nischenjournalismus gemacht, bevor das ein Trend wurde", sagt er. Und ja, klar, das liegt daran, dass seine Kunden kein Teil der digitalen Gesellschaft sind, und er weder über Paid Content im Netz noch über sinkende Anzeigenerlöse im Blatt nachdenken muss. In einer Welt, die sich seit dem 19. Jahrhundert kaum verändert, ist eine gedruckte Zeitung ein modernes Produkt. Einerseits. Andererseits ist The Budget eben auch ein sehr viel moderneres Produkt, als es viele Blätter je waren: The Budget ist ein soziales Netzwerk, ein analoges Facebook.

Fast 20 000 Abonnenten

Das funktioniert so: Wie die übrigen 879 Autoren der Zeitung erhält Weaver einmal im Jahr von der Redaktion Post mit 52 frankierten Umschlägen und einem Block mit 52 Blatt doppelseitig liniertem Papier. Auf diese Bögen schreibt sie Woche für Woche ihre Berichte, die von einem Teil der 16 Mitarbeiter in Sugarcreek entziffert und abgetippt werden, um dann in der Zeitung gedruckt zu werden, in eine schwarz-weiße, 44 Seiten dicke Bleiwüste, die die Leser lieben. Dieser Teil der Zeitung wird an alle Abonnenten geschickt. 10 000 leben in Ohio, weitere 9500 in allen übrigen amerikanischen Staaten mit Ausnahme von Hawaii. Die Abonnenten in Ohio erhalten zusätzlich die schmaleren Ressorts Politik, Sport und - natürlich - Landwirtschaft.

So erfahren die Leser, wie die Witterung im Rest des Landes ist - beziehungsweise wie sie vor ein paar Tagen war -, wer gestorben ist, Elizabeth "Lizzie" Bontraeger, mit 93, in Greentown, Indiana, zum Beispiel, wer geheiratet hat, wie Jonas und Lena, die in Dyer Brook, Maine, glücklich werden möchten, wer fröhlich im Gottesdienst war, aber auch, wer leidet, wie die Eltern von Emily, einem Neugeborenen in Nebraska, das nur 40 Minuten lebte, und - auch immer gerne gelesen - wie die Tomaten gedeihen, in Florida und sonst wo, wo der Winter doch so kalt war. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte ein Drucker in Sugarcreek die Idee, die Menschen, die von der Kleinstadt aus in den Westen zogen, mit ihren alten Freunden zu verbinden. Weil es weder Computer noch IP-Adressen gab, erfand der Unternehmer nicht Twitter, sondern The Budget. Status-Updates seit 124 Jahren. Den Lesern gefällt das.

Und Rathbun gefällt das auch. "Sie gehört mir - und sie gehört mir nicht," sagt er über die Zeitung. Das Blatt gehöre seinen Lesern, grummelt er, und nimmt wie zum Beweis einen frischen Stapel Briefe vom Schreibtisch, Stoff für die kommende Ausgabe.

Für Rathbun ein ernster Job

Seit 14 Jahren ist er der Chef der Zeitung, und wie amerikanische Journalisten eben so sind, nimmt er seinen Job so ernst, wie ein investigativer Reporter bei der New York Times es tun würde. Rathbun hat in Cleveland ein Musikmagazin gegründet und besuchte die ziemlich angesehene E. W. Scripps School of Journalism an der Ohio University. Es ist nicht so, dass The Budget keine Wettbewerber hätte. Gerade in Ohio würden seine Leser auch gerne mal das bunte Blatt USA Today lesen, wenn es um Politik geht, sagt er.

Doch Keith Rathbun hat ein Händchen für seine Zeitung, er hat den Farbdruck im Politikteil eingeführt, und eine Seite Werbung kostet immerhin 12 000 Dollar. Es mangelt nicht an Anzeigen, die Zahl der Autoren steigt seit Jahren. So ist das Archiv des Blattes zugleich zu einem umfangreichen Geschichtszeugnis der Amish in den USA geworden. Viele Angehörige der Gemeinschaft kommen in den kleinen Raum neben der Redaktion und erforschen mit einem Mikrofilmgerät die eigene Familiengeschichte in uralten Ausgaben.

Dabei können sie auch auf ein paar hammerharte Berichte stoßen, wie jenen des Amish-Farmers, neben dessen Acker in Pennsylvania ein Flugzeug abstürzte. Es war der 11. September 2001. Rathbun sagt, er hätte keine bessere Geschichte über den Anschlag gelesen als jene in The Budget. "Wir haben die Welt im Blick, wenn was geschieht", sagt er und muss selbst lächeln. "Mehr oder weniger." Was halt so geht, im Rahmen der Möglichkeiten.

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