Martin Schulz und Jean-Claude Juncker:"Wer Populisten wählt, wählt leere Sätze"

Martin Schulz und Jean-Claude Juncker

Martin Schulz (links) und Jean-Claude Juncker, Spitzenkandidaten für die Europawahl.

(Foto: Gael Turine)

Die Europawahl als Duell: Martin Schulz tritt als Spitzenkandidat für die Sozialisten an, Jean-Claude Juncker für die Konservativen. Mit der SZ und ihren Partnerzeitungen sprechen beide über die Stärke Deutschlands, ihre Strategie gegen Populisten - und darüber, was die EU mit Christoph Kolumbus zu tun hat.

Von Luis Doncel, Cerstin Gammelin, Philippe Ricard, Ian Traynor und Marco Zatterin

Herr Juncker, warum glauben Sie, dass Martin Schulz die Wahl gegen Sie verlieren wird?

Jean-Claude Juncker: Weil ich gewinnen werde.

Bitte, warum?

Juncker: Weil er verlieren wird.

Herr Schulz, sehen Sie das auch so?

Martin Schulz: Ich sehe eine Bewegung nach links. In einigen Ländern gewinnt die sozialdemokratische Linke deutlich an Unterstützung. Wir verlieren auch in einigen Staaten, das muss man nüchtern sehen. Aber es gibt einen Abwärtstrend bei den christdemokratischen Volksparteien, die über die vergangenen zehn Jahre Europa weitgehend beherrscht haben.

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Juncker: Einspruch! Wir haben Europa nicht beherrscht, sondern wir sind in einigen Ländern regelmäßig gewählt worden.

Sie beide treten als Spitzenkandidaten an, aber Sie, Herr Juncker, sind nirgends auf Wahlplakaten zu sehen. Wer durch Berlin geht, sieht die für Europa werbende Angela Merkel, aber keinen Juncker. Sind Sie ein virtueller Kandidat?

Juncker: Die deutsche Presse ist deutschlandzentriert. Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der mich auf einem Plakat vermisst hätte.

Weil kaum einer weiß, dass Sie da hängen müssten?

Juncker: Ich bin auch in Luxemburg niemandem begegnet, der mich dort vermisst hat. Ich finde, dass in Deutschland die Bedeutung der Plakate etwas überhöht ist.

Finden Sie das auch, Herr Schulz? Sie werden ja überall plakatiert.

Juncker: Moment! Hängt Herr Schulz in Luxemburg, in Süditalien und in Nordfinnland? Deutschland ist nicht das einzige Land, das in Europa zählt. Schminken Sie sich diesen Eindruck endgültig ab.

Schulz: Wir haben in Deutschland diese Tradition der Plakatierung, die haben andere Länder gar nicht. In Frankreich haben die Sozialisten eine Million Wahlbroschüren gedruckt. Ähnliches machen wir in Italien. Ich hätte es allerdings gut gefunden, wenn die CDU nicht ihre Spitzenkandidaten versteckt, denn die Bürger haben ein Recht zu wissen, wer zur Wahl steht.

Ihre britischen Parteifreunde von der Labour-Party verstecken Sie ja auch. Sie sind nicht eingeladen, auf der Insel aufzutreten, warum?

Schulz: Der britische Wahlkampf ist ein besonderer Wahlkampf für uns alle. Großbritannien ist aber nur ein Land von 28.

Wer Sie noch weniger sehen will als Ihre Freunde von der Labour-Partei, ist der britische Premier Cameron. Er will Sie beide nicht als Präsident der nächsten EU-Kommission. Werden die Spitzenkandidaten zum Katalysator eines Austritts der Briten aus der EU?

Juncker: Es gibt kein Referendum über Schulz oder Juncker. David Cameron muss sich an Vertragsregeln halten. Da steht, dass der Präsident der Europäischen Kommission mit qualifizierter Mehrheit vom Europäischen Rat gewählt wird. Die Grundregel gilt. Und wer gewinnt, hat gewonnen. Vertrag ist Vertrag.

Schulz: David Cameron wird ein gewichtiges Wort mitzureden haben, hat aber sicher nicht das alleinige Wort.

Es kursieren auch andere Namen für den Kommissionsvorsitz: der Ire Kenny, die Dänin Thorning-Schmidt, der Finne Katainen. Fühlen Sie sich betrogen?

Schulz: Diese Debatte, die Sie hier führen, ob die Regierungschefs das Europäische Parlament am Ende nicht doch austricksen und einen anderen Kandidaten aus dem Hut zaubern, interessiert die Wählerinnen und Wähler kaum. Sie interessiert, ob sie diesmal mit ihrer Stimme Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen.

Das interessiert sehr wohl. Der Präsident des Rates, Herman Van Rompuy, sagte kürzlich: Die Leute gehen nicht wählen, weil sie wissen, dass die wirkliche Macht nicht im Parlament liegt, sondern bei den Regierungschefs. Hat er da nicht recht?

Schulz: Zwölf sozialdemokratische Regierungschefs haben sich für mich ausgesprochen, darunter übrigens auch Frau Thorning-Schmidt. Für Herrn Juncker haben sich elf christdemokratische Regierungschefs ausgesprochen. Angela Merkel hat erklärt, Herr Juncker sei ihr Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten. Ich habe nicht den Eindruck, dass das Aprilscherze sind. Herr Van Rompuy hat da bloß eine sehr eigene Meinung.

"Alter ist kein Privileg und Jugend keine Schande"

Sie, Herr Juncker, sind Spitzenkandidat, weil Merkels CDU dafür war. Sie, Herr Schulz, brauchen Merkels Stimme, um Kommissionspräsident zu werden. Wird die nächste EU-Kommission die verlängerte Werkbank Berlins sein?

Juncker: Die deutsche Presse ist deutschlandkonzentriert . . .

. . . das ist eine europäische Sorge. . .

Juncker: . . . nur in der Presse.

Martin Schulz und Jean-Claude Juncker: Jean-Claude Juncker (im Hintergrund): Warum reden Sie nicht über die wirklich wichtigen Dinge?

Jean-Claude Juncker (im Hintergrund): Warum reden Sie nicht über die wirklich wichtigen Dinge?

(Foto: Gael Turine)

Schulz: Ich glaube, dass diese Sorge eine absolut zutreffende Wahrnehmung ist. Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern fragen mich genau das. Auch, weil meine Partei in Berlin in einer großen Koalition sitzt. Und wenn sie fragen, unterstützt Frau Merkel Sie denn, kann ich nur sagen: Wenn sie SPD wählt, ja. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie das tun wird.

Allerdings brauchen Sie Merkels Stimme in der Runde der Regierungschefs. Schulz: Wie nach der Europawahl Mehrheiten gebildet werden, ist doch völlig offen! Keine Partei wird im Europäischen Parlament die absolute Mehrheit haben. Es werden sich neue Koalitionen bilden, so wie sich auch unter den Staats- und Regierungschefs Koalitionen bilden.

Wer entscheidet denn nun?

Schulz: Die Regierungschefs und die Vertreter der Bürger im Parlament müssen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Es gibt keinen Automatismus, dass der Wahlgewinner Präsident der EU-Kommission wird, da hat Frau Merkel recht. So etwas gibt es auch in Deutschland nicht. Frau Merkel ist mit 41 Prozent aus der Bundestagswahl gekommen, da gab es nicht den Automatismus, dass sie Kanzlerin wird, es hätte auch eine Linkskoalition geben können. Das, was wir als Normalität vom Bürgermeisteramt bis zum Regierungschef in 26 Staaten kennen, die Wahl des Regierungschefs durch ein Parlament, wird auf europäischer Ebene als revolutionärer Akt bezeichnet. Das zeigt, wie defizitär die europäische Demokratie entwickelt ist.

Sie zählen zur alten Garde. Wie können Sie da Aufbruch verkörpern und Populisten den Wind aus den Segeln nehmen?

Juncker: Warum reden Sie nicht über die wirklich wichtigen Dinge? Ihre Europadebatte ist der öffentlichen Meinungsförderung nicht dienlich.

Schulz: Was hat der Kampf gegen Populismus mit dem Alter zu tun? Es geht um Inhalte. Alter ist kein Privileg und Jugend keine Schande und umgekehrt.

Also, wie wollen Sie gegen Extreme und Populisten punkten?

Juncker: Das sagen wir doch pausenlos. Wer Populisten wählt, wählt leere Sätze. Es sind verlorene Stimmen.

Sie sagen, Sie wollen Europa sozialer machen. Was ist zu erwarten? Eine europaweite Arbeitslosenversicherung?

Schulz: Eine europäische Arbeitslosenversicherung werden wir nicht hinbekommen. Die sozialen Sicherungssysteme bleiben auf absehbare Zeit in den Händen der Mitgliedsländer. Ich will den Kampf gegen Arbeitslosigkeit ins Zentrum der europäischen Politik stellen.

Juncker: Ich kann mir keine europaweit organisierte Arbeitslosenversicherung vorstellen. Es hieße, dass jeder Arbeitgeber und jeder Arbeitnehmer in eine europäische Versicherung einbezahlen müssten. In der Euro-Zone sollte man jedoch prüfen, ob es nicht gemeinsame Hilfestellung für eine teilweise Finanzierung nationaler Arbeitslosensysteme geben kann.

Wie wäre es mit einer Grundsicherung für Kinder?

Schulz: Kindergeld liegt in den Händen der Nationalstaaten. Da soll es auch bleiben.

Juncker: Wir sollten uns darauf einigen, dass es in jedem Land einen Mindestlohn geben muss. Die Höhe hinge von den Lebensbedingungen in jedem Land ab. Man wird nicht verlangen können, dass die Bulgaren den gleichen Mindestlohn wie wir Luxemburger haben. Wir müssen Lohndumping vermeiden.

Herr Schulz, Sie waren nie in Regierungsverantwortung, sondern immer im Parlament. Was hätten Sie in der Krise anders gemacht?

Schulz: Ich muss rückblickend zugeben, dass der Rat teilweise nicht anders hat handeln können, weil man in einer Not- und Abwehrsituation war. Da kann man nicht mit dem EU-Vertrag unter dem Arm über den Flur laufen. Da muss man handeln.

Also hat Herr Juncker, der frühere Euro-Gruppen-Chef, alles richtig gemacht?

Schulz: Halt! Die Krise ist dadurch verstärkt worden, dass die These sich im Rat durchgesetzt hat, man müsse nur die Haushalte nachhaltig sanieren und dann kämen Investoren zurück und Wirtschaftswachstum. Die Leitlinie in Europa war Sparpolitik. Das funktioniert nicht. Wir brauchen wachstumsstimulierende Investitionen.

Sie hören sich an wie Frankreichs sozialistischer Präsident Hollande. Wollen Sie neue Verschuldungsregeln?

Schulz: Wir sollten bei der Drei-Prozent-Grenze für die jährliche Neuverschuldung und den Zeitzielen bleiben. Wir müssen aber bei den Gesamtschulden definieren, was ist eigentlich Staatsschuld und was ist Investition in Zukunft. . .

Was heißt das konkret?

Schulz: Es gibt kaum ein Unternehmen, das aus seiner Substanz investiert. Die meisten arbeiten über Kreditfinanzierung. Also kann man nicht von vornherein sagen, kreditfinanzierte Staatsinvestitionen sind falsch. Ist es ein Regelverstoß, dass Matteo Renzi sagt, 80 Euro mehr für die 1000-Euro-Bezieher, das sind fast zehn Prozent, das führt zu mehr Konsum und zu mehr Sicherheit in den Familien? Darüber müssen wir diskutieren, das ist in den vergangenen Jahren nicht gemacht worden.

Juncker: Ich akzeptiere nicht, dass die Welt in Gut und Böse aufgeteilt wird. Die Christdemokraten sind zuständig für die Sparerei, die Sozialisten für generöse Sozialpolitik. Das ist doch Quatsch. Zu einer vernünftigen Haushaltskonsolidierung gibt es keine Alternative. Sie muss einhergehen mit einer wachstumsorientierten Politik. Wir haben nicht umsonst 2008/2009 ein antizyklisches Konjunkturpaket geschnürt.

Kann ein Deutscher Kommissionschef werden?

Die Gemeinschaft ist trotzdem in die tiefste Krise geschlittert, Jugendarbeitslosigkeit, Rekordschulden. . .

Juncker: Das liegt daran, dass wir Tacheles geredet, aber zu wenig umgesetzt haben. Es gibt Länder, die es mit der Haushaltskonsolidierung nicht so genau genommen haben. Die sind im Wachstum am schwächsten. Frankreich wächst relativ mickrig, wenn überhaupt. Das kann nicht daran liegen, dass die französischen Schulden nicht hoch genug wären. Hohe Schulden muss man abtragen. Das bringt nicht automatisch Beschäftigung und Wachstum, aber ohne geht es nicht.

Sollen Italien und Frankreich mehr Zeit bekommen, um die Haushalte in Ordnung zu bringen?

Juncker: Nein, keine Fristverlängerung. Schulz: Renzi und Hollande sind in der dramatischen Situation, dass sie konsolidieren und gleichzeitig Wachstum schaffen müssen. Europa muss ein Interesse daran haben, dass diese Staaten auf die Füße kommen, sonst haben wir alle ein gemeinsames Problem. Darum erwarte ich, dass wir länderspezifisch schauen, was gebraucht wird. Wenn am Ende herauskommt, dass sie ein Jahr mehr brauchen, wäre ich bereit, es ihnen zu geben.

Viele Europäer klagen über die Stärke Deutschlands. Kann ein Deutscher Kommissionschef werden?

Martin Schulz und Jean-Claude Juncker: Martin Schulz (links): Fasziniert von Christoph Kolumbus und Vasco Da Gama

Martin Schulz (links): Fasziniert von Christoph Kolumbus und Vasco Da Gama

(Foto: Gael Turine)

Schulz: Vor 20 Jahren hätte darüber niemand diskutiert. Dass heute die Nationalität wieder eine Rolle spielt, zeigt, in welcher Krise Europa ist. Es geht nicht um den Einfluss Deutschlands, sondern darum, die Kommission zu dem zu machen, was sie sein muss: das koordinierende Zentrum zwischen den berechtigten Interessen der souveränen Mitgliedstaaten einerseits und den von diesen Mitgliedstaaten geschaffenen Institutionen der europäischen Integration andererseits. Das kann ein Malteser genauso wie ein Finne, ein Deutscher, ein Italiener, ein Luxemburger oder ein Belgier. Ich habe mein Leben in den Dienst der europäischen Integration gestellt. Ich bin kein nationaler Politiker.

Juncker: Für mich spielt die Nationalität des Kommissionspräsidenten keine Rolle. Es zählt allein die Grundeinstellung.

Die Krise um Russland und die Ukraine beunruhigt viele Menschen. Plädieren Sie dafür, Sanktionen der "Stufe 3" zu verhängen, also Energieverträge zu kündigen, Ein- und Ausfuhren stoppen?

Schulz: Wenn Russland hinter den Problemen in der Ostukraine steckt und nicht aufhört, Druck auf andere Teile seiner Nachbarregionen auszuüben, sind wirtschaftliche Sanktionen die logische Konsequenz. Ich würde dazu raten, dass die EU wegen ihrer eigenen Glaubwürdigkeit sie nicht nur ankündigt, sondern auch umsetzt. Parallel rate ich immer dazu, einen zweiten Weg offen zu halten, nämlich den der Verhandlungen. Wenn die Sanktionen in der Härte, wie wir sie beschrieben haben, durchgesetzt werden, treffen sie nicht nur Russland, sondern auch uns, worauf man die Bevölkerung übrigens vorbereiten muss.

Juncker: Wenn es zu Sanktionen kommt, und es wird zu Sanktionen kommen, werden die Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich betroffen sein. Deutschland und Luxemburg sind mit am wenigsten betroffen; Balten, Polen, Slowaken, Bulgaren dagegen sehr. Da hätte ich schon gerne, dass wir, bevor wir darüber entscheiden, überprüfen, wie wir diesen Ländern beistehen können.

Wann haben Sie sich eigentlich mal so richtig als Europäer gefühlt?

Juncker: Das schönste europäische Erlebnis war ein Erlebnis außerhalb, in der Ukraine. 1997 habe ich den ersten Gipfel zwischen der Europäischen Union und der Ukraine organisiert, sehr zur Belustigung vieler großer Staaten, die mir damals bedeutet haben, die Ukraine wäre nicht so wichtig. Ich habe da eine Schiffsfahrt gemacht und mich mit meinen ukrainischen Kollegen unterhalten, wie lange man von Kiew nach Odessa braucht. Die haben gefragt, warum interessiert dich das? Weil mein Vater damals als deutscher Soldat zwangsweise eingezogen und in Odessa verletzt wurde. Und dann hat der Ukrainer gefragt, wann war das, und ich habe ihm das Datum genannt und dann haben wir beide geweint, weil sein Vater am selben Tag auf der russischen Seite verletzt worden war.

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Schulz: Mir ist an einem Sonntagmorgen in Lissabon das Archiv der portugiesischen Marine im Hieronymitenkloster geöffnet worden. Dort hat mir der Chefhistoriker das Logbuch und die Karten von Christoph Kolumbus und Vasco da Gama gezeigt. Ich durfte mir das alleine anschauen. Ich bin von diesen Seefahrern bis heute so fasziniert, weil ich glaube, dass das extrem mutige Leute waren. Sie glaubten, nach Indien zu segeln. Das war ein Irrtum, aber sie haben eine neue Welt entdeckt. Und ich glaube, in einer ähnlichen Situation sind wir heute in der Europäischen Union auch.

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