Zweiter Weltkrieg und Ukraine-Krise:Deutsche müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein

Vladimir Putin visits Crimea

Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Blumenniederlegung für die Helden des Zweiten Weltkriegs in Sewastopol.

(Foto: Alexey Druginyn/dpa)

Als "Faschisten" bezeichnen Putin und die prorussischen Separatisten ihre ukrainischen Gegner. Dabei stammte ein Großteil der sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs aus der heutigen Ukraine. Dessen sollten sich auch die Deutschen bewusst sein.

Ein Kommentar von Julian Hans

Wer in den vergangenen Tagen die Internetseite des russischen Verteidigungsministeriums aufrief, wurde dort mit Frontberichten begrüßt: "Auf der Krim haben unsere Truppen mit Unterstützung massiver Schläge der Luftwaffe und heftiger Artillerie gestern, am 7. Mai, den Sturm auf die Stellungen der deutsch-faschistischen Kräfte in Sewastopol begonnen."

Diese Meldung des sowjetischen Informationsbüros aus dem Jahr 1944 ist sorgfältig ausgesucht. Für einen Augenblick stutzt man - Krim? Truppen? Faschisten? Aber es geht um den Großen Vaterländischen Krieg und den Sieg über Deutschland. Wladimir Putin hat ihn am Freitag doppelt gefeiert: erst mit der traditionellen Militärparade auf dem Roten Platz die Kapitulation der Wehrmacht vor 69 Jahren; dann auf der Krim, die am 9. Mai vor 70 Jahren von der Roten Armee befreit wurde. Die Annexion der ukrainischen Halbinsel durch russische Geheimtruppen 2014 soll dasselbe sein wie die Befreiung der Krim von den Nazi-Besatzern 1944. Das ist die Botschaft.

Die russische Regierung und die von ihr gesteuerten Medien tun derzeit alles, um ein historisches Déjà-vu zu erzeugen. Das Fernsehen schneidet Bilder ukrainischer Nationalisten mit Aufnahmen von Gräueltaten der SS zusammen. Maidan-Demonstranten werden pauschal als "Banderowzy" diffamiert, als Anhänger des ukrainischen Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera. Putin nennt die Interimsregierung in Kiew faschistisch.

Viele Russen wissen nicht, was "Faschismus" bedeutet

Das Band, das die Verbindung zwischen dem Kampf gegen den Faschismus damals und heute herstellen soll, ist die orange-schwarz gestreifte Sankt-Georgs-Schleife. Ursprünglich ein Ordensband des Zarenreichs, wurde sie unter Boris Jelzin wiederbelebt, um das Rot der Kommunisten zu verdrängen. Die Veteranen und ihre Familien überall im Land tragen sie zum Gedenken an die Befreiung. Und die prorussischen Milizen in der Ostukraine tragen sie an ihren Maschinenpistolen und Kampfanzügen, wenn sie öffentliche Gebäude stürmen und Geiseln nehmen. Die historische Parallele soll Taten rechtfertigen, die in der Gegenwart nicht zu rechtfertigen sind: Wir befinden uns wieder im Kampf gegen den Faschismus. Ein Kampf, der nicht nur am 9. Mai in Russland "heilig" genannt wird. Und heilige Dinge entziehen sich aller Rationalität. Und damit aller Kritik.

Die Menschen der Sowjetunion haben gewaltige Opfer gebracht, um Europa von der Herrschaft Hitlers zu befreien. Es haben mehr als doppelt so viele Soldaten der Roten Armee ihr Leben verloren wie von allen westlichen Alliierten und Deutschland zusammengenommen. Opfern erweist man eine Ehre, indem man ihr Andenken bewahrt. Das ist auch die Pflicht der Deutschen, deshalb ist es richtig, dass die sowjetischen Kriegsdenkmäler in Treptow und anderswo erhalten, gepflegt und besucht werden. Es gehört aber auch zu einem würdigen Andenken, die Toten nicht für Zwecke zu missbrauchen, mit denen sie nichts zu tun haben.

In der Linken war der "Faschismus" lange vor dem Zweiten Weltkrieg ein Begriff, mit dem der Feind markiert und zum Abschuss freigegeben wurde. Das war so in den Zwanzigerjahren, als Kommunisten ihren sozialdemokratischen Konkurrenten den Stempel "Sozialfaschisten" aufdrückten. Während des Großen Terrors der Dreißigerjahre ließ Stalin Bolschewiki der ersten Stunde als "faschistische Spione" erschießen; darunter solche, die im spanischen Bürgerkrieg gegen den echten Faschisten Franco gekämpft hatten. Nach dem Krieg war Tito der Erste, dem das Etikett angeheftet wurde, weil er sich Moskau nicht unterordnen wollte. Und 1956 begründete die sowjetische Führung die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands ebenfalls mit dem "Kampf gegen den Faschismus".

Wladimir Putin hat dieses Zauberwort nicht erst heute wiederentdeckt. 2005 gründeten seine Helfer die Jugendbewegung Naschi, die sich als antifaschistisch ausgibt, alle ihre Energie aber auf den Kampf gegen kremlkritisch Liberale verwendet und diese als "Liberalfaschisten" beschimpft. In ihrem Sommerlager errichtete die Kreml-Jugend 2010 eine "Allee der Schande" aus Pappfiguren mit den Gesichtszügen von Oppositionellen und heftete ihnen Nazi-Symbole an. Der Zweite Weltkrieg ist das Beispiel schlechthin, dass Faschismus notfalls mit Gewalt bekämpft werden muss. Nachhaltig besiegen kann ihn aber nur Aufklärung.

So verbreitet der Begriff ist, so wenig wissen viele Russen darüber. Auf die deutschen Angreifer wurde er zunächst angewandt, weil "Nationalsozialisten" nicht passte - es steckte ja das Wort "Sozialist" darin. Und später gab es zu viele offensichtliche Parallelen zum eigenen System - Führerkult, Heldenkult, Geringschätzung des Individuums -, als dass eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus möglich gewesen wäre. Das gilt heute wieder: Wenn unter dem Vorwand, den Faschismus zu bekämpfen, ein Landraub stattfindet und dieser im Anschluss mit völkischen Argumenten gerechtfertigt wird - auf der Krim leben Russen und sind Russen begraben -, dann stimmt etwas nicht.

Die Nachkriegsgeschichte hat aber auch in Deutschland die Erinnerung an den Krieg einseitig geprägt. Die Teilung, die Westbindung der Bundesrepublik und der Kalte Krieg führten dazu, dass viele im Westteil nur den Anteil der Amerikaner, Briten und Franzosen an der Befreiung von Hitler würdigten. Im kollektiven Gedächtnis sind die Bilder der brennenden Synagogen in Berlin, Frankfurt oder Wien, weit stärker präsent als die Schlucht von Babi Jar bei Kiew, wo deutsche Sonderpolizisten 1941 mehr als 30 000 Juden erschossen. Jedes Kind kennt das Schicksal der deutschen Jüdin Anne Frank, aber wem fällt der Name eines Opfers aus Osteuropa oder einem ehemaligen Staat der Sowjetunion ein? Die Aufarbeitung der Geschichte erfolgte diesseits des Eisernen Vorhangs weitgehend für sich. Als er sich öffnete, die Kontakte einfacher und Forderungen aus Osteuropa lauter wurden, war die Bereitschaft begrenzt, ein zweites Mal zu beginnen.

Das Ergebnis ist ein diffuses Gefühl der Schuld gegenüber "den Russen". Die meisten sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs aber stammten aus dem Gebiet der heutigen Ukraine und der Republik Belarus. Das sollte die Führung in Moskau nicht vergessen, wenn sie die Nachfahren ehemaliger sowjetischer Waffenbrüder mit Faschisten gleichsetzt. Und die Deutschen sollten das im Sinn haben, wenn sie in diesen Tagen ihrer Befreiung vom Nationalsozialismus gedenken. Das ist auch ein Teil ihrer Verantwortung für die Existenz einer freien, ungeteilten Ukraine.

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