Eurovision Song Contest 2014 in Kopenhagen:Schaumgebremst

Eurovision Song Contest 2014 in Kopenhagen: Die Tolmatschowa-Schwestern treten beim ESC 2014 für Russland an.

Die Tolmatschowa-Schwestern treten beim ESC 2014 für Russland an.

(Foto: AFP)

Is it right, is it wrong? Als der Geiger Niccolò Paganini den modernen Starkult erfand, ahnte er nichts vom Eurovision Song Contest. Höchste Zeit, ein paar Maßstäbe anzulegen.

Von Harald Eggebrecht

Es scheint, als sei die Entfernung zwischen der sogenannten klassischen Musik mit ihrem vermeintlich starren Konzertritual und einer Veranstaltung wie dem Eurovision Song Contest, dessen Finale heute Abend in Kopenhagen über die Bühne geht und von Millionen Zuschauern in ganz Europa verfolgt wird, galaktisch weit. In vielem, was Anspruch, Ernst, Tiefe, Dichte oder architektonische Dimensionierung der erklingenden Musik angeht, ist das so.

Doch auf der Ebene des Live-Auftritts gibt es seit dem Geiger aller Geiger, Niccolò Paganini, dem Erfinder des modernen Starkults und -betriebs Anfang des 19. Jahrhunderts, viel Verwandtes, Ähnliches und auch Gleiches. Hier wie dort spielen persönliche Ausstrahlung, musikalische Präsenz, Deutlichkeit der Darstellung, Eigentümlichkeit des Timbres oder des je eigenen Tons, natürliche Ausdrucksfähigkeit und Spontaneität in der Erfüllung des musikalischen Augenblicks, schließlich das Aussehen, Bühnenwirksamkeit der Bewegungen und Gesten mitentscheidende Rollen für den Erfolg. Ein paar dieser Kategorien können daher auch einem eingefleischten Klassikfan beim ESC als Orientierungshilfe dienen.

Timbre

Vor allem anderen wie Beleuchtung, Outfit, Inszenierung prägt selbstverständlich immer noch die Einzelstimme einen Song, nichts ist individueller als das Timbre. Wer auf so unverkennbare Stimmen wie die eines Johnny Cash oder einer Edith Piaf hofft, wird beim ESC 2014 nicht sehr verwöhnt. Immerhin irritiert Conchita Wurst aus Österreich mit sein-ihrem Song "Rise Like A Phoenix" nicht nur als Travestieerscheinung, sondern auch durch eine androgyne Stimme, in der sich Zartheit und befreiende Kraft ungewöhnlich mischen.

Weder der Montenegriner Sergej Ćtković noch die Schwedin Sanna Nielsen haben bei ihren Balladen so individuell einprägsame Stimmen, dass man sie wiedererkennen würde. Die Sängerin der deutschen Teilnehmer Elaiza, Elżbieta Steinmetz, besticht immerhin durch Beweglichkeit und ein gewisses Farbspektrum in ihrer Stimme. Während die russischen Tolmachevy-Zwillingsschwestern bei ihrem "Shine" so konturlos blond singen, wie sie aussehen, kann die dunkelhaarige Ukrainerin Mariya Yaremchuk mit "TickTock" in ihrer elegant geführten Stimme Chasonettencharme entwickeln. Und die Italienerin Emma Marrone setzt auf die immer attraktive Heiserkeit weiblicher Stimmen aus Italien, wenn sie ihre Stadt in "Mia citta" bekrächzt. Dass die Israelin Mei Finegold mit ihrer tiefen voluminösen "Röhre" nicht ins Finale gekommen ist, liegt leider doch am allzu glatten Song "Same Heart".

Bühnenerscheinung

Während die meisten Gruppen und Bands in ihren Gewändern flittern, flimmern und flattern, tritt das isländische Quintett Pollapönk in so lustig-lärmigen bonbonfarbenen Anzügen auf, wie sie auch in ihrem Song gute Laune raustrommeln und -krähen. Unter den sonstigen elegischen Ausschüttungen über Liebesschmerz, Herzeleid, Einsamkeit bis zur ekstatisch hinausgeschrienen Ich-Feier vieler Songs wirken die Pollapönks aufgedreht, fröhlich und munter, so dass man meinen könnte, der ESC sei doch eine federleichte Angelegenheit.

Ähnlich bunt und kregel geht es beim französischen Trio Twin Twin zu, das die Attraktivität des "Moustache", des Schnurrbarts, feiert. Auch hier herrscht Munterkeit, tänzerische Agilität und jener Eingängigkeitsfaktor, der zum Mitbrüllen einlädt. Ganz anders kommt der ungaro-amerikanische Sänger András Kállay-Saunders daher, der in "Running" die düstere Story einer Kindesmisshandlung erzählt: Er trägt ein schwarzes T-Shirt und eine dunkle Hose, gesungen wird mit quasi leiser Stimme.

Physische Anstrengung

Inszenierung

Dergleichen kannte auch schon Paganini, der das Orchester allein im abgedunkelten Saal spielen ließ und erst zu seinem Einsatz plötzlich dastand. Viele Zuhörer, die damals glaubten, er sei mit dem Teufel im Bunde, mochten sich so von der unheimlichen Erscheinung des hageren bleichen Mannes im schwarzen Frack bestätigt fühlen. Die Kopenhagener Veranstalter haben eine Bühne für den ESC gebaut, auf der alle Lightshows, Feuerwerkereien, Wind- und Trockeneisnebeleffekte möglich sind. Bei Ćtkovićs Nostalgiesong fährt eine Schlittschuhläuferin im Tutu um den dunkelgekleideten Sänger herum, bei Kállay- Saunders erscheint bedrohlicher Gitterkäfig, in dem das Drama der Misshandlung geschieht. Die polnische Sängerin Cleo setzt bei den deftigen "Slavic Girls" auf Ironie und Drastik, wenn einerseits Bauerntrachten, Wäscherinnen bei der Arbeit gezeigt werden und andererseits jede Folkloreländlichkeit dem Brausesong abgeht.

Formen

Vor allem herrscht die Ballade vor, weil sie sich vielfach eignet für Erzählsongs, ob von Solosängern oder Gruppen vorgetragen. So klampft sich etwa das niederländische Duo The Common Linnets sanft, ruhig und etwas länglich, aber puristisch streng in ihrem Countrysong "Calm After The Storm" durch die Geschichte eines Paares, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Ansonsten sind es gerne Liedformen mit typischen Mitsingrefrains, wie etwa bei Elaiza, die die ewig zwickende Frage "Is it right, is it wrong" als Ohrwurm in die Wiederholungen steckt.

Instrumente

Neben E- und ab und zu akustischen Gitarren, Akkordeons, Kontrabässen, verschiedenen Holz- und auch Blechbläsern, Keyboards, diversen Schlagzeugbatterien und elektronischen Effekten gibt es bei der Gruppe aus Malta auch ein Instrument, das wirklich selten bei solchen Veranstaltungen wie dem ESC zu sehen und zu hören ist: ein Appalachian Dulcimer, eine Art tragbarer Zither, die bei amerikanischen Folksongs manchmal gebraucht wird. Aber von solchen Spezialitäten abgesehen bleibt die Klanglichkeit der Songs, woher auch immer sie kommen mögen, doch erstaunlich ähnlich, angeglichen und so gut wie nie befremdend, überraschend oder gar unerhört.

Doch nicht nur die schaumgebremste Klanglichkeit ermüdet auf die dauer, sondern auch der Grundgestus aller Nummern, denen allen so etwas wie eine Überredungs-, manchmal auch Überwältigungsaggressivität eigen ist. Wer sich den ganzen Contest anhört, wird nicht nur physisch angestrengt und erschöpft sein, sondern auch nicht allzu viel im Gedächtnis behalten. Sei's drum.

Eurovision Song Contest 2014, ARD, Samstag, ab 20.15 Uhr

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