Conchita Wurst beim ESC 2014:Triumph von Herz, Humor und Toleranz

Auf einmal bietet der Eurovision Song Contest so etwas wie eine große Vision: Conchita Wurst geht als strahlende Siegerin aus dem Wettbewerb hervor und Europa beweist, dass es toleranter ist, als erwartet.

Von Hans Hoff

"Europa ist toleranter als manche vielleicht denken." Am Schluss, weit nach Mitternacht, sagt der altgediente ARD-Kommentator Peter Urban die schönsten Worte, und sie klingen so ergriffen, wie man es von einem ESC-Profi so wohl nicht erwartet hätte.

Conchita Wurst hat in Kopenhagen den Eurovision Song Contest gewonnen, hat zwölf Punkte aus Gegenden bekommen, von denen man bisher annahm, dass man dort das Wort Toleranz nicht einmal buchstabieren könnte. Und Humorverständnis hat man dort auch nicht vermutet. Aber in diesem Fall sind enttäuschte Erwartungen die schönsten. Europa hat abgestimmt und einen Menschen mit Bart, der Frauenkleider und einen weiblichen Phantasienamen trägt, zum Sieger des größten Trällerwettbewerbes der Welt erkoren.

In solch einem Fall wirken selbst Twittermeldungen wie warmer Regen. "This is Europe", schreibt dort eine kluge Frau, und ein ebensolcher Herr bekennt: "Bin irgendwie stolz auf Europa." Es ist kein einfacher Sieg, den Conchita Wurst da feiern darf, es ist ein Triumph von Herz, Humor und Toleranz, eine Bedeutungsexplosion, die aus der sonst gerne so seelenlosen Abfolge von durchprogrammierten Retortenhits eine bedeutsame Sache macht. Der ESC hat Europa nicht vereinigt, aber er hat gezeigt, dass Europa sich auf etwas einigen kann, wenn es um etwas geht.

Das sein, was man will

Sicherlich hat nicht jedem das Lied "Rise Like A Phoenix" gefallen. Es ist nach wie vor eine bombastische Kitschexplosion, die in jedem James-Bond-Vorspann besser aufgehoben wäre als bei einem Schlagerfest. Aber sie wurde halt eben von Conchita Wurst präsentiert, von einer Frau, die zeigen wollte, dass man das, was man sein will, sein kann. Wenn man das Wollen nur mit großer Ernsthaftigkeit und Mut betreibt.

"Wir sind eine Einheit", hat Wurst nach der Show gesagt und dann davon geredet, dass diese Einheit "unstoppable" sei. Unaufhaltsam. Nicht auszudenken, wenn nun aus diesem ESC auch noch so etwas wie eine kontinentale Bewegung für mehr Offenheit hervorginge. Es ist kaum anzunehmen, aber dass so etwas in Zeiten der Ukraine-Krise überhaupt denkbar ist, darf man als Wursts Verdienst betrachten.

Was dieser ESC-Sieg für Europa bedeutet, wird sich zeigen, wenn alle Wortwitze über den Namen gemacht sind, wenn jede Frau sich einmal einen Bart angeklebt hat, wenn sogar bärtige Männer sich einen Bart angeklebt haben.

Barbara Schöneberger stand nach der Siegerehrung mit einem künstlichen Bart auf der Reeperbahn, und sie sah ein bisschen so aus wie jene Frauen, die in "Das Leben des Brian" als Männer verkleidet zur Steinigung gekommen sind. Was normalerweise als Albernheit einer überdrehten Wuchtbrumme durchgegangen wäre, war in diesem Moment ein Ehrenbeweis, eine Reverenz an eine Kunstfigur, die wirklich zu wirken weiß.

Da trat rasch in den Hintergrund, dass Conchita Wurst gar nicht für Deutschland als Siegerin in die Geschichte eingehen wird, sondern als Nachfolgerin von Udo Jürgens, der 1966 den Wettbewerb für Österreich gewann.

Die braven Mädchen von Elaiza

Deutschlands Beitrag ist dagegen ein bisschen untergegangen. Für die braven drei Mädchen von Elaiza hat sich niemand wirklich interessiert. Sie sind im Schatten des großen Ereignisses gerade mal auf Rang 18 gekommen. Bei 26 Teilnehmern keine herausragende Position. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wo sie denn gelandet wären, wenn das mit Wurst nicht geschehen wäre. Es spielt schlicht keine Rolle. Nach dem Debakel im Vorjahr, als Cascada mit einer peinlichen Popnummer noch weiter hinten landete, reichte es schon, ein schönes Neofolkliedchen mit Würde zu präsentieren und alles zu geben. Elaiza haben alles gegeben und das war leider nicht genug. Pech gehabt. Kann passieren.

Dass man mit folkigen Klängen durchaus weit kommen kann, bewies der holländische Beitrag von The Common Linnets. "Calm After The Storm" hieß der Countrysong der beiden Holländer, die sich als Duo mit Gitarren auf der riesigen Bühne einfach gegenüber standen und nur einen Bruchteil der in Kopenhagen verfügbaren Monstertechnik nutzten. Sie sangen einfach ein sehr schönes einfaches Lied, und sie wurden Zweite, wobei es lange tatsächlich so aussah, als könnten sie Wurst die Spitzenposition noch streitig machen.

Herbeigeredetes Duell zwischen Ukraine und Russland

Auf dem dritten Platz landete Schweden, was in Ordnung ging und alle Lügen strafte, die vorab wieder einmal ein finsteres Ostkomplott prophezeit hatten. Natürlich schoben sich hier und da Nachbarländer ein paar Punkte zu, aber das mag am Ende einfach daran gelegen haben, dass in Nachbarländern, die möglicherweise noch die gleiche Sprache sprechen, nun mal oft die gleiche Musik populär ist. Auch das von vielen herbei geredete Duell zwischen der Ukraine und Russland fand nicht statt. Natürlich gab es aus den baltischen Staaten extrem wenige Punkte für den russischen Beitrag, aber das mag vielleicht einfach nur an der Musik gelegen haben.

Nicht zu überhören waren indes die Buhrufe in der Halle, die oftmals Punkte, die an Russland gingen, begleiteten. Der Unmut aber trat sehr schnell in den Hintergrund angesichts der Spannung, die sich abzeichnete, als deutlich wurde, dass Conchita Wurst tatsächlich gewinnen könnte. Auf einmal lag da etwas in der Luft, das nach großer Vision roch. Der Eurovision Song Contest hat sich mit dieser Ausgabe wieder seinen Platz zurückerobert als Veranstaltung, die Länder nicht durch Konkurrenz trennt, sondern durch die Kraft der Musik und der in ihr liegenden Idee eint.

Wenn das so weitergeht, kann man sich jetzt schon auf das nächste Jahr in Wien freuen. Auch wenn es diesmal, wie es in früheren Zeiten Standard war, aus Österreich keine Punkte für den deutschen Beitrag gab. Das ist in diesem Fall aber entschuldbar.

Normalerweise stünde hier am Schluss jetzt noch ein abbindendes Wortspiel rund um ein Schlachtereiprodukt. Aber auch das hat der ESC 2014 bewirkt: Dass solche Wortspiele auch dem Letzten bald zu billig erscheinen werden. Eine große Idee braucht auch eine anspruchsvolle Sprache. Es lebe die Wurst, Vorname Conchita.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: