EuGH und Bundesverfassungsgericht:Mobile der Macht

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Der Gerichtssaal des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg

(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Europäische und nationale Gerichte tarieren aus, wie Zuständigkeiten zu verteilen sind. Insbesondere bei den Grundrechten liegen EuGH und Bundesverfassungsgericht im Clinch - davon profitieren könnten die Bürger.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es ist wie beim Verhältnis von Wald und Bäumen: Wer über den Rechtschutz in Europa nachdenkt, blickt verwirrt auf eine Vielfalt von Gerichtshöfen mit sich überschneidenden Zuständigkeiten. Und übersieht das große Ganze. Nämlich, dass im Schutz der Grundrechte eine der großen Verheißungen Europas liegt.

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Jedenfalls sind die Bürger Europas derzeit geradezu von einem Übermaß an Grundrechten umhegt. Meinungsfreiheit und Menschenwürde, Versammlungsrecht und Eigentum sind nicht nur in den nationalen Verfassungen wie dem deutschen Grundgesetz geschützt. In Europa gibt es obendrauf noch zwei Grundrechtskataloge: die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die für die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats gilt - ein gigantisches Grundrechts-Versprechen für 820 Millionen Menschen, inklusive jenen aus Russland, der Ukraine und der Türkei; und seit 2009 auch die Grundrechtecharta der 28 Länder der Europäischen Union.

Nun könnte man meinen, dreifacher Grundrechtschutz sei doch besser als einfacher - nach dem Motto: viel hilft viel. Die Praxis ist derzeit allerdings eher von den Mühen der Gerichtshöfe geprägt, aus dem komplexen Nebeneinander der Grundrechtskataloge ein arbeitsfähiges Instrumentarium zu entwickeln.

Aus Spannung wird fruchtbare Kooperation

Die Balance ist sensibel wie ein Mobile, das von der Decke hängt. Jede Bewegung bringt das System ins Trudeln - und seit einigen Jahren herrscht viel Bewegung zwischen den beteiligten Gerichtshöfen. Das sind, neben dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und, als oberstes EU-Gericht, der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Sie schwanken derzeit zwischen Abgrenzung und Zusammenarbeit.

In den vergangenen Jahren haben das Straßburger Menschenrechtsgericht und das Karlsruher Verfassungsgericht vorexerziert, wie sich ein latentes Spannungsverhältnis in fruchtbare Kooperation verwandeln lässt. Anfangs hielt man sich gegenseitig auf Distanz. Der EGMR rügte 2004 - sehr zum Ärger der Verfassungsrichter - im Caroline-Urteil die Karlsruher Rechtsprechung zum Persönlichkeitsschutz Prominenter gegen Medienberichterstattung. Die deutschen Verfassungsrichter stellten im selben Jahr in einem Familienrechtsfall schmallippig fest, die Straßburger Rechtsprechung sei in Deutschland "zu berücksichtigen" - mehr aber auch nicht.

Was zeitweise nach einem harschen Konflikt aussah, sollte sich freilich am Ende des Jahrzehnts deutlich entspannen. Straßburg zeigte sich zwar weiterhin sehr selbstbewusst und beanstandete beispielsweise die unzureichend ausgestalteten Väterrechte in Deutschland. Aber Karlsruhe reagierte zunehmend kooperativ. Das Aufsehen erregende Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs zur Sicherungsverwahrung - das immerhin zur Entlassung einiger als gefährlich eingestufter Straftäter in Deutschland führte - fügten die Verfassungsrichter 2011 geradezu mustergültig in die deutsche Rechtslage ein. Zum "Krieg der Gerichte", der gelegentlich beschworen worden war, kam es nicht.

Was dem Bundesverfassungericht unangenehm aufstößt

Ziemlich kompliziert geworden ist dagegen das Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH in Luxemburg. Lange Zeit galt der EuGH als ein Gericht, das im Zweifel zugunsten der EU entschied - als "Motor der Integration", der Wirtschaftsfreiheiten und Binnenmarkt über die Grundrechte der Bürger stellt.

Mit der Einführung der EU-Grundrechtecharta hat in Luxemburg allerdings das Nachdenken über eine Neuausrichtung begonnen - eine Entwicklung, die vor kurzem mit dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung einen spektakulären Höhepunkt erreicht hat. Der EuGH hat die EU-Richtlinie zur Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten gekippt und damit keinen Zweifel daran gelassen, dass für ihn Grundrechte wie der Datenschutz einen hohen Stellenwert haben. Mit dem historischen Urteil vom 8. April hat eine neue Ära für den Grundrechtschutz in Europa begonnen.

Was den Kollegen in Karlsruhe dabei allerdings unangenehm aufstößt: Die Luxemburger Richter zeigen großen Eifer nicht nur beim Ausbau der Grundrechte, sondern im Zuge dessen auch bei der Ausweitung der eigenen Zuständigkeiten. Oder anders ausgedrückt: ihrer eigenen Machtbefugnisse. Im vergangenen Frühjahr signalisierte der EuGH im Urteil Åkerberg-Fransson, dass er die Reichweite der EU-Grundrechtecharta sehr großzügig zulasten der nationalen Schutzrechte interpretieren werde: Selbst dort, wo es nicht unmittelbar um die nationale Umsetzung von EU-Recht geht, hält sich der EuGH für zuständig.

Karlsruhe konterte mit einer ungewöhnlich scharfen Replik: Sollte der EuGH auf diesem egozentrischen Weg weitergehen, dann könnte das Verfassungsgericht jene Keule auspacken, die es immer mal wieder geschwungen hatte: einem EuGH-Urteil die Gültigkeit absprechen, weil das Gericht sich außerhalb seiner Kompetenzen bewege.

Grundrechte sind stark national geprägt

Natürlich mag dahinter auch die Sorge des höchsten deutschen Gerichts stehen, sein Stern könnte im Zuge der Europäisierung im Sinken begriffen sein. Letztlich wiederholt der EuGH genau das, was Karlsruhe in den 50er und 60er Jahren vorexerziert hat: Er lotet aus, wie weit er seinen Einfluss ausdehnen kann. Dahinter steckt aber auch ein grundsätzliches, europatypisches Problem: nämlich die Frage, wie die Entscheidungsmacht über die Grundrechte sinnvoll zwischen EU und Mitgliedsstaaten abgeschichtet werden soll. Den Datenschutz beispielsweise wird die EU wirkungsvoller gewährleisten können, weil er grenzüberschreitend bedroht ist. Bei Grundrechten, die stark von der jeweiligen nationalen Kultur geprägt sind - wie etwa der Religionsfreiheit - gilt das nicht.

Langfristig, daran herrscht kein Zweifel, werden die Gerichtshöfe kooperieren müssen. Kürzlich hat das deutsche Verfassungsgericht - es ging um die Befugnisse der EZB bei der Euro-Rettung - dem EuGH erstmals einen Fall zur Vorabentscheidung vorgelegt. Ein lange erwartetes Signal, mit dem Karlsruhe das letzte Wort des EuGH in Fragen des EU-Rechts anerkennt.

Wobei: Die klare Hierarchie von Oben und Unten, die seit jeher das Denken der Justiz geprägt hat, gilt in Europa ohnehin nicht mehr. Der EuGH plagt sich derzeit gerade mit einem Gutachten zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention herum: Die Folge wird sein, dass auch der EuGH - als oberstes EU-Gericht - seinerseits einer gewissen Kontrolle des Menschenrechtsgerichtshofs unterworfen ist.

Das Mobile des europäischen Grundrechtschutzes hat jedenfalls kräftig zu tanzen begonnen. Aber wie das bei einem Mobile eben so ist: Am Ende wird es wieder ins Gleichgewicht kommen. Und die Menschen, die vor Gericht ihre Freiheit verteidigen und ihre Gleichbehandlung durchsetzen wollen, werden davon profitieren.

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