Fähigkeiten von Kindern:Rettet das Schuhbandl

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Wie man einen Knoten macht? So. (Foto: N/A)

Sie können nicht mehr ordentlich rennen und werfen, weder einen Purzelbaum schlagen noch auf einen Baum kraxeln. Und: Immer weniger Kinder können ihre Schuhe noch selbst binden. Vom Verschwinden einer Alltagskompetenz, die ganz nebenbei auch Intelligenz und Geschicklichkeit trainiert.

Von Hans Kratzer, München

Blicken wir auf einen x-beliebigen Spielplatz: Überall Kinder, die nicht mehr gescheit laufen und werfen, weder einen Purzelbaum schlagen noch auf einen Baum kraxeln können. Wen wundert es, dass sie auch beim Binden ihrer Schuhe überfordert sind. Früher wurde diese Fertigkeit im Kindergarten gelehrt, und als Belohnung erhielten die Vorschulkinder ein Schuhbandldiplom. "In den vergangenen Jahren hat das schleichend aufgehört", sagt die Erzieherin Doris Renner. Es gibt nichts mehr zu binden. Fast alle Kleinen tragen heute Schuhe mit Klettverschlüssen oder mit Schnellschnürsystemen, bei denen die Schuhbandl (Schnürsenkel) mit einem Handgriff festgezogen werden.

Ein Blick in die Regale der Schuhläden bestätigt diesen Trend. In den Kinderschuh-Abteilungen sind Schuhbandl eine Rarität. Wie sollen Kinder das Binden überhaupt noch lernen? Eine europaweite Studie sagt aus, dass jeder vierte Fünfjährige mit dem Smartphone umgehen, aber nicht einmal jedes zehnte Kind seine Schnürsenkel binden kann. In den Elternforen im Internet wird gejammert: "Mein Sohn (7 Jahre) weigert sich strikt Schuhe mit Schnürsenkel anzuziehen", schreibt die Mutter eines Buben, der das Motto "Bequemlichkeit vor Anstrengung" längst verinnerlicht hat.

Auch die Schuhfabrik Gabor in Rosenheim folgt diesem Zeitgeist. "Die Verbraucher verlangen den Klettverschluss, und wir richten uns danach", lautet die Devise der Hersteller. Für die Kindergärten sind die Klettverschlüsse durchaus ein Segen. "Die Erzieherinnen haben doch keine Zeit mehr, bei jedem Gang ins Freie 25 Kindern die Schuhe zu binden", sagt Frau Renner. Heute muss alles schnell und einfach gehen, auch wenn die Feinmotorik der Kinder darunter leidet. Jacke zuknöpfen, Reißverschluss zumachen, Blätter zupfen, um den Pinzettengriff fürs Schreiben zu üben, das sind Allerweltstechniken, die Kinder heute nicht mehr schaffen, auch das Schuhbandlbinden gehört dazu.

Auf Sportplätzen ist zu beobachten, dass die Nachwuchstrainer selbst Zehnjährigen noch die Schuhe binden. Die Münchner Sportlehrerin Emma Herzog klagt, das ständige Schuhbandlbinden koste wichtige Unterrichtszeit. Manche Kinder stopfen deshalb die Senkel seitlich in den Schuh, das wirkt cool und lässig. Aber im Sportschuh und im Schlittschuh haben die Füße damit keinen Halt. "Das ist fatal", sagt Frau Herzog, Sport in schlecht fixierten Schuhen führe zu Verletzungen und Schäden.

Schlampig gebundene Schuhbandl haben seit jeher Stürze verursacht. Herausragend unter Millionen Stürzen ist jener des Physikers Gaspard de Coriolis (1792-1843), der sich bei einem Empfang in Versailles in den Senkeln verfangen hatte. Er stolperte und zerdepperte eine kostbare Vase, weshalb ihn König Louis-Philippe I. belehrte: "Tragen Sie lieber Schnallenschuhe!"

Trotzdem ist der Schnürschuh noch heute das Maß aller Dinge für Sport, Mode und Arbeit. In diesem Sog hat sich auch das Schuhbandl zu einem Wirtschaftsfaktor entwickelt. Die Firma Barth im oberbayerischen Höslwang ist auf diesem Feld ein Global Player. Firmenchef Rainer Barth stellt zusammen mit seinen gut 70 Mitarbeitern jährlich mehrere Millionen Paar Schuhbandln und Ösen her. Bei einem Rundgang im Betrieb erlebt man eine ungeahnte Vielfalt des Kulturguts Schuhbandl, sei es in Baumwoll- oder in widerstandsfähiger Polyesterausführung, sei es in schlichtem Braun oder in bunten Leuchtfarben. Dazzling Blue und Violet Tulip und sind zurzeit die trendigsten Schuhbandl-Farben. Vorbei sind die Zeiten, als alleine Punks und Autonome bunte Schuhbandl durch die Ösen ihrer Stiefel fädelten.

Von März bis Oktober barfuß

Schuhbandl oder Klettverschluss? Vor dieser Frage standen die Kinder vor 60 und 70 Jahren noch nicht. Schuhe waren so kostbar, dass man sie lieber schonte. "Vom März bis zum Oktober sind wir barfuß gelaufen. Wenn es kalt war, haben wir uns unter eine Kuh gestellt und unsere Füße abbieseln lassen", sagt der 85-jährige Kreisheimatpfleger Josef Fendl aus Neutraubling. Oder man stieg in einen dampfenden Kuhfladen auf der Wiese. Das wärmte besser als jeder Schuh. Nur zur Firmung durften Kinder Schuhe mit Schuhbandln tragen. Die zu binden, stellte kein Problem dar in einem Umfeld, in dem sie von klein auf handwerkliche Griffe gelernt hatten.

Ein Drama war es, wenn ein Schuhbandl gerissen war. "Schuahbandl san doch koane Kälberstrick!" schimpfte dann der Vater, und die Mutter nähte es wieder kunstvoll zusammen. In einer Zeit, in der sich fünf Kinder ein Paar Schuhe teilten, hätte ein neues Schuhbandl viel zu viel gekostet. Heute schneiden Jugendliche ihre neuen langen Schuhbandl einfach ab, damit sie nicht drücken, wenn sie seitlich in den Schuh reingesteckt werden.

Radioaktiver Schuhkauf bis in die 60er

Aber was ist ein drückendes Schuhbandl schon gegen die Verheerungen des Pedoskops, wie die Röntgenapparate hießen, die bis in die 60er Jahre hinein in den Schuhgeschäften benützt wurden. Mit ihrer Hilfe überprüften Verkäufer, ob der Fuß gut im Schuh saß. Vor allem Kinderfüße wurden munter geröntgt, Sichtfenster erlaubten spannende Blicke auf Schuhwerk, Schuhbandl und durchleuchtete Füße. Der radioaktive Schuhkauf wurde für Kinder zu einem Abenteuer, wie es die schrillsten Schuhbandl von heute nicht bieten können.

Für die aus Österreich stammende Schuhfabrik Waldviertler hat das Schuhbandl dennoch eine unersetzliche pädagogische Wirkung. "Eines dürfen wir nicht vergessen", schreibt die Firma in einem Prospekt, "nämlich, dass Schuhbandlbinden bei kleinen, lernbegierigen Kindern die motorischen Fähigkeiten fördert und ihre Intelligenz und Sprache verbessert."

Die daraus resultierende Frage nach der Methodik des Bindens lässt viele Antworten zu. Sogar Mathematiker haben nach den besten Techniken gesucht. Zudem fallen einem die bei Händlern seit Generationen ausliegenden Lurchi-Hefte ein, mit ihren Abenteuergeschichten und mit ihren Anleitungen zum Schleifenbinden: "Hasenohr, Hasenohr, einmal rum dann durchs Tor . . ." Lustige Reime sind wohl der beste Anreiz zum Einüben der Schleifen-Techniken, die trotz Klettverschluss überleben werden. Nicht zuletzt, weil Schuhbandl auf die Seele ihrer Binder schließen lassen, das wusste schon Thomas Mann: "Sorgsam gebunden, verrieten die gleich langen Schleifen seiner Schnürsenkel seine Abneigung gegen jede in Liederlichkeit mündende Nachlässigkeit."

© SZ vom 17.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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