Liberaler Spitzenkandidat Verhofstadt:Profiteur des Patts

Presidency of the European Commission candidates debate

Mit 61 Jahren ist der Liberale Guy Verhofstadt der älteste der fünf Spitzenkandidaten, macht aber bei den TV-Debatten einen ganz jugendlichen Eindruck.

(Foto: Olivier Hoslet/dp)

Alle reden über das Duell Juncker gegen Schulz. Dabei kann der Liberale Guy Verhofstadt auch auf ein europäisches Spitzenamt hoffen - wenn Sozialisten und Konservative im EU-Parlament eine klare Mehrheit verfehlen. Die nötige Erfahrung würde der Belgier mitbringen.

Von Javier Cáceres und Cerstin Gammelin, Brüssel

Es gibt diese Geschichte, die viel darüber erzählt, wie Politik in Europa funktioniert. Wie taktiert wird, bis Karrieren gekrönt oder geknickt sind, wie aus Freunden Gegner werden und andersherum. Die Geschichte dreht sich um drei Liberale: Guy Verhofstadt, früherer belgischer Premier und Fraktionschef der Liberalen im EU-Parlament, Olli Rehn, aus Finnland stammender, für seine Sparpolitik bekannter EU-Wirtschaftskommissar, und Marc Rutte, niederländischer Premier sowie Vorsitzender der Liberalen dort. Und außerdem kreist sie um die Frage, ob Verhofstadt, der Mann, der einst von ganz rechts kam und sich zum begeisterten Föderalisten entwickelte, nicht doch eine Chance hat, nach den Europawahlen Präsident der Europäischen Kommission zu werden.

Aber der Reihe nach. In der Zeit um die Jahreswende standen die europäischen Liberalen unter dem Schock des desaströsen Ergebnisses der FDP bei der Bundestagswahl. Sie wähnten sich am Abgrund. Das war die Gemengelage, als Verhofstadt und Rehn sich ein Duell um die liberale Spitzenkandidatur lieferten. Rutte, der zurzeit einflussreichste Liberale Europas, wollte eine Kampfabstimmung vermeiden - und bot sich als Vermittler an. Klare Sache für Rehn, dachten viele Beobachter; schließlich passt zwischen Rehn und Rutte kein Blatt Papier, wenn es um Sparen und Schuldenabbau geht. Doch Rutte setzte sich für Verhofstadt ein. So massiv, dass Verhofstadt Spitzenkandidat der Liberalen für das Amt des Kommissionspräsidenten wurde. Auf die Frage nach dem Warum gab es, wie so oft in politischen Strategiespielen, eine offizielle und eine inoffizielle Antwort.

"Ich habe als Parteichef abgestimmt, nicht als Premier der niederländischen Regierung", sagte Rutte einem niederländischen Reporter. Damit stellte er zweierlei klar: Dass er als Chef der Liberalen unbedingt die Benelux-Parteienfamilie zusammenhalten wollte. Und dass dies nicht bedeute, dass er Verhofstadt nach den Europawahlen als Kandidaten für den Posten des Kommissionschefs nominieren werde, und zwar dort, wo's drauf ankommt: Im Kreis der Staats- und Regierungschefs, die das Vorschlagsrecht haben. Als die Mikrofone aus waren, fielen noch deutlichere Worte. Verhofstadt werde sowieso nicht Kommissionspräsident, dafür gebe es nicht ansatzweise Mehrheiten; Sozialisten und Christdemokraten würden sich in einer Art großer Koalition auf einen von ihren Bewerbern einigen. Aber da Verhofstadt eher als Rehn ein anderes einflussreiches Spitzenamt bekommen könne, lohne es sich, ihn zu unterstützen. Und Rehn bekomme man anderswo unter.

Verhofstadt gilt als exzellenter Vermittler

Wenn Verhofstadt solche Gedanken kennt, dann lässt er sich nichts anmerken. Er macht andere Rechnungen auf - nämlich solche, die ihn als denjenigen erscheinen lassen, der als Sieger aus dem Postengerangel hervorgehen könnte.

Es sei möglich, dass Christdemokraten und Sozialisten auf bis zu 420 Sitze im neuen Parlament kämen, greift er Ruttes Gedanken auf. "Aber es ist eine instabile Mehrheit." Das Parlament kenne nicht nur Parteien, sondern auch Länderzugehörigkeiten; nationale Delegationen würden nicht immer mit der jeweiligen Parteienfamilie stimmen. Um Mehrheiten zu organisieren, sei eine moderierende Gestalt wie er ideal.

Tatsächlich gilt der Rechtsanwalt aus Ostflandern als exzellenter Vermittler. Wer neun Jahre lang im chronisch zerstrittenen Belgien in wechselnden Koalitionen mit Sozialisten und Grünen gegen die Konservativen regieren kann, der weiß, was es heißt, Interessen auszugleichen. Verhofstadt, der lange Zeit US-Präsident Ronald Reagan verehrte, so sehr, dass Parteifreunde ihn als "Mini-Reagan" persiflierten, baute das Land radikal um, inklusive Schuldenabbau, Justizreform und Homo-Ehe. Später im EU-Parlament fiel er durch Konzepte, Begeisterung und wechselnde Allianzen auf. Er habe "Beziehungen zu allen Gruppen aufgebaut", sagt er selbst. Bei den Konflikten mit den USA um die Datenschutzabkommen Swift und Acta organisierte er eine linksliberale Mehrheit; in der Krise stand er mit der Europäischen Volkspartei für Stabilität und Sparkurs.

Pragmatisch versucht Verhofstadt sich jetzt seinem nächsten Ziel zu nähern - einem europäischen Spitzenjob. Dazu braucht er nicht nur Wählerstimmen, sondern eben auch die Gunst der nationalen Regierungen. Wohl deshalb gibt der Politikveteran jetzt den Moderaten. Eurobonds, denen er noch vor Monaten das Wort redete, sind aus dem Wahlmanifest verschwunden, als Konzession an Berlin. Die Idee von Europa als föderalem Staat? Ist nur noch schemenhaft zu erkennen; weder der Brite David Cameron noch Rutte sollen verschreckt werden. Die separatistischen Bestrebungen in Schottland und Katalonien? Stille, vielleicht werden ja die rechtsliberalen Kräfte aus Madrid wichtig, um die liberale Fraktion zu päppeln.

Seinen Teil hat Verhofstadt geleistet. Unter den fünf Spitzenkandidaten ist er mit 61 Jahren zwar der Älteste, bei den TV-Debatten aber wirkte er jugendlich. Die Umfragen sehen die Liberalen allerdings mit 63 bis 100 Sitzen nur als drittgrößte Fraktion - was nicht reichen wird, um den Chefposten der Kommission zu erobern. Jedenfalls nicht unter normalen Umständen. Aber Politik verläuft selten linear.

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