Lügen über das Tiananmen-Massaker:Die Unterdrückung geht weiter

The flag of China is burned during a memorial service in Los Angeles on...

Demonstranten verbrennen drei Tage nach dem Massaker in Los Angeles eine chinesische Flagge

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PR)

Dass Chinas Regierung die Demokratiebewegung vor 25 Jahren blutig niedergeschlug, sei wichtig für die Entwicklung des Landes: Es ist erschreckend, wie viele Chinesen solche Lügen ihrer Regierung glauben. Und die Propaganda wird immer dreister.

Ein Gastbeitrag von Chang Ping

Es ist nun ziemlich genau fünf Jahre her, dass ich als Gastwissenschaftler an der Universität in Hongkong war, also just zu jener Zeit, als sich die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zum 20. Mal jährte. Was ich damals in Hongkong erlebte, war eine extreme politische Zerrissenheit: Auf der einen Seite chinesische Studenten, die in der Volksrepublik aufgewachsen waren, und auf der anderen ihre Kommilitonen aus Hongkong.

Die Mehrheit der Studenten aus China bildete eine Gruppe, die den Einsatz bewaffneter Macht am 4. Juni 1989 und die Repressalien der Regierung in heftigen Auseinandersetzungen verteidigten. Ich hatte es zwar schon mehrfach erlebt, dass Chinesen, die im Ausland studieren, die Regierung in Peking in Schutz nehmen - manchmal tun sie das einfach aufgrund eigener Identitätsprobleme. Doch in Hongkong war ich von etwas anderem ausgegangen: Die meisten Studenten aus der Volksrepublik, so dachte ich, müssten doch verärgert darüber sein, dass ihnen jahrelang Fakten über das Geschehen vorenthalten wurden. Jetzt aber, nachdem sie zum ersten Mal in einer Gesellschaft mit Informationsfreiheit lebten und das volle Bild zu Gesicht bekamen, würden sie anders denken. Doch das Gegenteil war der Fall.

In der Volksrepublik China gibt es mehr und mehr Menschen, die glauben, dass es richtig gewesen sei, die 4.-Juni-Bewegung zu unterdrücken und somit die Ein-Parteien-Diktatur in China zu erhalten, da sonst die Wirtschaft in den vergangenen Jahren nicht so atemberaubend schnell gewachsen wäre.

Diese Erfahrung hat auch He Xiaoqing gemacht. Sie lehrt an der Universität in Harvard und gibt dort ein regelmäßiges Seminar zum 4. Juni. Auch sie sagt, dass es immer wieder Widerstand gegen ihren Kurs seitens chinesischer Studenten gegeben habe. Trotz der zahlreichen Bilder und Videos, die Belege sind für das blutige Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, glaubten viele ihrer Studenten immer noch, dass die Führung so hätte handeln müssen - ohne die Panzer kein Wirtschaftswachstum, so lautet die These vieler Studenten heute.

"Der Kampf gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen"

Die Ursache dafür ist die Patriotismus-Erziehung der Kommunistischen Partei seit 1989. In den Jahren vor dem Massaker wurde in den Schulen gelehrt, dass Gerechtigkeit über allem steht, auch in staatlichen Medien wurde stets betont: Chinas Kommunistische Partei ist die Verkörperung der Gerechtigkeit und damit die Zukunft aller Menschen. Diese Ideologie ging 1989 bankrott.

Die Partei hat seitdem ihr Propaganda-Modell angepasst. In der Öffentlichkeit wird nun gesagt, dass es keine Gerechtigkeit in der Welt gebe, egal ob zwischen Individuen oder in den internationalen Beziehungen - ein jeder kalkuliert seinen eigenen Vorteil. Diese auf dem Sozialdarwinismus basierende Patriotismus-Erziehung motivierte nicht nur viele dazu, am Wirtschaftswachstum Chinas teilzuhaben. Sie half auch den Reichen und Mächtigen, sich vor sämtlichen kritischen Fragen zum 4. Juni zu drücken.

Diejenigen in China dagegen, die sich für die vollständige Aufarbeitung des 4. Juni einsetzen, halten es mit Milan Kundera, der geschrieben hat: "Der Kampf gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen."

Die Führung der Kommunistischen Partei scheint sich bewusst zu sein, dass neben den Fakten die Interpretation der Geschichte mindestens genauso wichtig ist - und diese Deutungshoheit nimmt die Partei seit Jahren in Anspruch. Und das mit Erfolg.

Zwar wird über das Massaker inzwischen auch im staatlich zensierten chinesischen Internet hier und dort diskutiert. Doch einen politischen Kollaps der Partei hat die Debatte nicht hervorrufen können, die Linie der Partei ist allgegenwärtig in den Köpfen. Die Parteizeitung Global Times diskutierte zuweilen gar eine neue Propaganda-Theorie anhand des 4. Juni. Zum 20. Jubiläum im Jahr 2009 hielten Gelehrte wie Xu Youyu, Jian Hao sowie Menschenrechtsanwälte und Aktivisten ein Symposium zum Gedenken an den 4. Juni in Peking ab - damals ohne Folgen für die Teilnehmer. Fünf Jahre später, also vor wenigen Wochen, kam nahezu dieselbe Gruppe von Menschen zusammen und hielt ein ähnliches Treffen ab wie damals 2009. Diesmal schickte die Führung jedoch sofort die Polizei, vier Teilnehmer wurden festgenommen, sie sitzen wahrscheinlich noch immer im Gefängnis.

Die Unterdrückung geht weiter. Die meisten Aktivisten, die eine unterschiedliche Meinung haben, sind entweder festgenommen worden, stehen unter Überwachung oder wurden verwarnt. Zur gleichen Zeit führte die Regierung eine nie da gewesene "Reinigung" und Zensur des Internets durch - offiziell allerdings nur, um die Pornografie einzudämmen.

Dieses Ausmaß ist neu und zeigt Veränderungen, seitdem der neue Parteichef Xi Jinping an der Macht ist. Wenn wir uns die Propaganda-Artikel seit dem vergangenen Jahr ansehen, fällt eines auf: Sie sind noch vulgärer und unverantwortlicher als sämtliche ideologische Theorien früher (inklusive der Jahre der Kulturrevolution). Es ist eindeutig: Xi Jinping ist nicht zufrieden mit dem ohnehin schon erfolgreich gezüchteten Patriotismus und neigt deshalb dazu, Opposition mit Gewalt zu unterdrücken.

Als Ergebnis wird die Lage für die Gegner der KP schwieriger. Doch jene, die sich die Lügen ausdachten, um die Bevölkerung zu täuschen, werden die Kommunistische Partei in eine noch größere Vertrauenskrise stürzen.

Chang Ping (45), ist ein kritischer Journalist aus China. Er musste wegen seiner Berichte erst die Volksrepublik und dann auch Hongkong verlassen. Er lebt heute in Deutschland.

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