Posten-Geschachere in der EU:Schleichender Putsch

Jean-Claude Juncker und Martin Schulz

Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz? Das ist nur vordergründig die entscheidende Frage nach der Europawahl.

(Foto: dpa)

Juncker? Oder doch Schulz? Vordergründig ringen Mitgliedstaaten und Europaparlament um die Besetzung des Chefpostens. Der eigentliche Kampf ist komplizierter, geradezu episch. Es geht um Macht - und um die Dominanz der Nationalstaaten im europäischen Gefüge.

Von Stefan Kornelius

Das wichtigste Accessoire auf den Wandelgängen in Brüssel ist in diesen Tagen eine kleine Taschenkarte. Meist tragen hohe Beamte die Karten bei sich, ordentlich in Folie eingeschweißt. Auf den Karten stehen Zahlenkolonnen: Belgien 12, Bulgarien 10, Deutschland 29. Die Liste endet mit Zypern 4. Es stehen also auf der Karte die Namen der 28 EU-Mitglieder und ihr Stimmgewicht im Europäischen Rat, der Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Mit Hilfe der Tabellen lässt sich ablesen, ob ein Kandidat für eines der Spitzenämter eine Mehrheit hat oder nicht.

Bei 28 Ländern kommen 352 Stimmen zusammen, 93 Stimmen genügen, um die Sperrminorität zu aktivieren, die einen Kandidaten verhindert. Jean-Claude Juncker, der für die Europäische Volkspartei in den Wahlkampf zog, kommt bereits auf 72 Gegenstimmen. Ein einziges weiteres großes Stimmenpaket - etwa aus Italien oder Deutschland - würde ausreichen, damit er im Rat durchfällt.

So einfach geht es aber nicht zu, wenn nun - fast zwei Wochen nach der Europawahl - um Ämter und Inhalte gestritten wird. Der eigentliche Kampf ist komplizierter, geradezu episch. Wer in diesen Tagen die Gesichter der Akteure beobachtet, wer die Diplomaten mit den Taschenkarten trifft, der sieht schmerzverzerrte Gesichter wie bei Laokoon, dem Priester in der griechischen Mythologie, der von den Schlangen getötet wurde, als er auf der Suche nach der Wahrheit die List hinter dem Trojanischen Pferd erkannte.

Halbgares Versprechen

Die Annäherung an die Wahrheit also: Im Wahlkampf hatten die großen Parteien Spitzenkandidaten aufgestellt, gepaart mit dem Versprechen, dass der Sieger der Wahl auch seinen Kandidaten zum Kommissionspräsidenten machen würde. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Dieses Versprechen wurde in 28 Ländern unterschiedlich vermittelt. In Deutschland etwa mit tiefstem Ernst, in Großbritannien überhaupt nicht. Tatsächlich finden sich kaum Länder, die dem Thema Spitzenkandidat große Bedeutung beimessen.

Die dritte Wahrheit: In den Verträgen ist das Zusammenspiel zwischen Rat und Parlament mit einem sehr interpretationsbedürftigen Satz geregelt, wonach der Rat den Kommissionspräsidenten zur Abstimmung "im Licht des Ergebnisses der Europawahl" vorschlage. In der bisherigen Verfahrenspraxis und aus der Entstehungsgeschichte der Verträge abgeleitet heißt dies lediglich, dass sich die Regierungschefs an der Parteienfamilie mit den meisten Abgeordneten im Europaparlament orientierten. Die Auswahl der Kandidaten oblag den Nationalstaaten - ein zentrales Steuerelement in einem komplizierten Besetzungsverfahren, in dem viele Interessen bedient werden. Politische Absicht und die Praxis hinter den Vertragsklauseln sprechen also ebenfalls gegen Juncker.

Die Politiker und Beamte mit den verkniffenen Gesichtszügen sprechen jetzt von einem "kalten Coup", oder einem "schleichenden Putsch". Etwas vornehmer ist von einer ungewollten Änderung der Verfassungspraxis Europas die Rede. Alle sind sich allerdings einig, dass es hier um mehr als den nächsten Kommissionspräsidenten geht. Es geht um die Macht, die Dominanz des Rates und damit der Nationalstaaten im europäischen Gefüge.

Substanzielle Machtverschiebung

Als sich Jean-Claude Juncker vor zwei Tagen über den mangelnden Rückhalt beklagte, schwiegen die Regierungschefs. In der Stille liegt die Antwort: Die Rats-Versammlung ist sich mehr als bewusst, dass sie hier im Konflikt mit dem Parlament über eine substanzielle Machtverschiebung entscheiden werden.

Aber auch dies ist richtig: All die Staats- und Regierungschefs sind auch Parteimitglieder, die meisten gar Parteichefs in ihrem Land. Kaum einer hat der Nominierung von Spitzenkandidaten lautstark widersprochen. Keiner hat seinen Widerstand vor der Wahl deutlich zu Protokoll gegeben. "Jetzt dagegen zu sein ist fast unmöglich", sagt ein enger Beobachter dieses Laokoon-Kampfes, "das ist wie Robben-Babys schlachten. Das geht gar nicht."

Daher bemühen sich die Regierungschefs um Zeitgewinn, denn nur wenn sich der Horizont weitet, wenn alle Interessen auf dem Tisch liegen, könnte sich auch eine Lösung abzeichnen. Bisher galt es als undenkbar, einen Kommissionspräsidenten gegen den Willen einer respektablen Gruppe von Staaten durchzusetzen. Und gleichzeitig ist es hochriskant, in der aufgeladenen Stimmung die Öffentlichkeit zu brüskieren - und sei es nur in Deutschland.

Kurzum: Jean-Claude Juncker ist nicht gewählt, aber er ist auch nicht verhindert.

Plötzlich hat Europa so etwas wie Koalitionsverhandlungen

Der Rat hat nun seinen scheidenden Präsidenten, den Belgier Herman Van Rompuy, mit Sondierungen beauftragt: Wer will; wer soll was werden; um welche Themen soll es gehen? Plötzlich hat Europa so etwas wie Koalitionsverhandlungen. Dahinter versteckt sich eine leicht zu durchschauende Absicht: Wenn schon das Parlament den Nominierungsprozess an sich reißt, dann wird der Rat den Kandidaten mit Arbeitsaufträgen einmauern, mit denen die Kommission gebunden ist. Die Kommission ist immerhin ein Instrument der Mitgliedstaaten - das steht zumindest in den Verträgen.

Aber ist sie das wirklich? Hinter der Frage verbirgt sich der eigentliche Verfassungskonflikt, der das Kandidaten-Thema überlagert. Die Kommission ist einerseits Regulierungs- und Aufsichtsbehörde: in Kartellfragen, beim Wettbewerbsrecht. Als Aufsichtsbehörde muss sie größtmögliche Neutralität wahren. Wer demnächst blaue Briefe wegen des Verstoßes gegen die Defizitregeln nach Paris schickt, der darf nicht vom Parlament unter Druck gesetzt werden können.

Nun ist die Sache mit der Neutralität relativ, aber klar ist: Ein vom Parlament ausgesuchter und gewählter Kommissionspräsident wäre dem Parlament viel stärker Rechenschaft schuldig. Den nationalen Regierungen gegenüber würde er an Autorität verlieren.

Gesetzgebungsmaschine der EU

Womöglich wäre diese Abhängigkeit für das zweite Leben der Kommission nicht schlecht: für ihr Dasein als Gesetzgeber. Die Kommission bringt Richtlinien und Verordnungen ein, sie ist die Gesetzgebungsmaschine der EU und muss in dieser Rolle dem Parlament Rechenschaft ablegen. Verfassungstheoretisch wäre hier eine Verknüpfung mit dem Personal ideal.

Bleiben den Regierungschefs also die Inhalte, die sie in den Verhandlungen festlegen wollen. Großer Konsens herrscht im Rat, dass sich die Kommission um Wachstum und Arbeitsplätze kümmern muss. Parallel dazu verläuft Thema Nummer zwei: die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion. Das Lieblingsprojekt der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wird seit Monaten von Gipfel zu Gipfel gereicht, ohne Ergebnisse zu zeitigen. Merkel will verbindliche Regeln für die Haushaltspolitik, die Schuldenpolitik und vielleicht auch die Steuersystematik in Europa durchsetzen - all dies würde die Kommission in ihrer Aufsichtsfunktion stärken.

Der nun in den Wahlen so mächtig gestärkte italienische Regierungschef Matteo Renzi strebt jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Er will die von Deutschland durchgesetzte Reform- und Sparpolitik lockern und Investitionen in Bildung oder Infrastruktur vom Defizitkriterium der EU ausnehmen. Hier spielt die eigentliche Musik in den Verhandlungen, weil Renzi Verhandlungsmasse aufbaut, für die er im Gegenzug auch etwas geben muss: Vielleicht sein Veto gegen den Spitzenkandidaten? In Deutschland heißt es vorsorglich, die Reformpolitik sei nicht verhandelbar.

Die Frage aller Fragen

Themenkomplex drei kreist um Energie- und Rohstoffsicherheit. Nicht erst seit der Ukraine-Krise weiß die EU, dass sie verwundbar ist. Ein einheitlicher Energiemarkt, eine koordinierte Einkaufspolitik, eine besser regulierte Subventions- und Infrastrukturpolitik - das wird die Aufgabe des neuen Superkommissars für Energie sein. Bemerkenswert hier, wie häufig Merkel zuletzt den deutschen Energie-Kommissar Günther Oettinger lobt. Er könnte wieder ins Rennen geschickt werden, zumal Merkel nach dem Europawahlkampf und dem Erstarken der AfD keine Lust verspüren kann, den Sozialdemokraten einen personalpolitischen Gefallen zu tun.

Bleibt schließlich das Großthema Migration und Freizügigkeit. Sowohl im Binnenmarkt als auch an den EU-Außengrenzen zeichnet sich das Thema Armutszuwanderung und Flüchtlingsströme als ein gewaltiges Problem ab. Auch hier hat der Rat mehrere Gründe, schnell zu handeln. Die Rechtspopulisten haben ihren Aufstieg nicht zuletzt dem Migrationsthema zu verdanken.

Wenn die Themen auf dem Tisch liegen, dann werden sie auch mit Personen verknüpft, mit nationalen Ansprüchen, mit Strukturfragen. Wird die Kommission zum Beispiel neu geordnet, um der Vielzahl gleichberechtigter Kommissare Herr zu werden? Wird es einen starken Außenkommissar geben, der das zersplitterte Portfolio neu ordnet? Werden die Briten Forderungen stellen, die sie weiter isolieren? Was eigentlich wollen die europäischen Sozialisten? Und am Ende natürlich die Fragen aller Fragen: Wird Juncker nun Kommissionspräsident?

Einer mit der Taschenkarte sagt nüchtern: Das sei dann wirklich eine politische Entscheidung - eine Entscheidung für die Regierungschefs. "Vielleicht wollen wir am Ende doch lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende?" Offen bleibt da allerdings, über wen oder was man erschrecken wird: über einen Kommissionschef Juncker - oder den stillen Coup in der Verfassungswirklichkeit der EU.

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