Lyrik-Anleitung für Laien:Sturzhelm für Höhenflüge

Amateure tun oft merkwürdige Dinge. Deshalb brauchen sie Hilfe. Kerstin Hensel hat ein mal ironisches, mal rotziges Lehrbuch für den dichtenden Laien geschrieben - und sich an einer Schulung des guten Geschmacks versucht.

Von Nico Bleutge

Wenn die Tür des Klassenzimmers sich schließt, beginnt das Gedicht sich zu verkriechen. Zahllos die Stunden im Deutschunterricht, die dem Zweck dienten, die Verse einer Deutung zu unterziehen. Als wäre das Gedicht eine Geheimkapsel, der es eine dunkle Botschaft zu entlocken gelte. Als wollten Lehrer wie Schüler gleichermaßen zurückweichen vor der Offenheit des Gedichts.

Noch schwieriger indes dürfte es sein, Lyrik außerhalb der Schule zu unterrichten. Jedenfalls, wenn man der Schriftstellerin Kerstin Hensel Glauben schenkt. Dabei hat sie einen veritablen Gegner ausgemacht. Es sind die vielen Schreibenden, die ihre Freizeit dem Gedicht widmen, die "Amateurlyriker" und Erbauungsliteraten, wie Hensel sie nennt, Autoren, die nicht nur auf eigenen Homepages und in Internetforen ihre Texte veröffentlichen, sondern offenkundig auch immer wieder Hensels Lyrikseminare besuchen.

Lyrik ist Form, so Hensel, aber "Form allein ist auch keine Kunst"

Für - oder vielleicht besser - gegen diese selbsternannten "Propheten" des Gedichts hat Hensel nun ein Buch geschrieben. Ein Buch für Laien, wie sie betont. Dies macht die Qualität ihrer Sätze aus, steckt ihnen aber auch die Grenzen ab. Hensel bekennt sich zu einem didaktischen Verfahren. Es gehört zu den angenehmen Seiten ihres kleinen Lehrbuches, dass sie nur wenig mit der eigenen Schreibherkunft kokettiert. Den Kern der Kapitel bilden Textbeispiele, die Kerstin Hensel in mal kürzeren, mal längeren Absätzen deutet und deren Vorzüge und Schwachstellen sie aufzuzeigen versucht.

Gerade einmal zwei große Teile benötigt sie, um ihre Lesarten zu ordnen. Ein Gedicht ist der Form geschuldet, so ließe sich die wichtigste Einsicht zusammenfassen. Der reine Einfall genügt nicht, sondern verlangt nach einer genauen Durchführung. Im ersten Teil stellt Hensel die dafür möglichen poetischen Mittel vor und diskutiert sie, vom Reim bis zum Enjambement, vom Wie-Vergleich bis zum Symbol. Für den zweiten Teil verspricht sie, "einige ausgewählte Gedichte näher zu beleuchten". Auf den folgenden 150 Seiten geschieht nun aber nichts anderes mehr.

Kerstin Hensel weiß, wie heikel es ist, Gedichte in scheinbar überzeitliche Kategorien wie "Naturlyrik", "Liebeslyrik" oder "politische Lyrik" einzuteilen. Trotzdem wählt sie genau diese Methode und klopft die zitierten Gedichte auf ihre Bilder und ihren Rhythmus hin ab. So bekommen die Lesarten bisweilen etwas sehr Schematisches. Was Gedichte wirklich vermögen - Erfahrungen zu sprengen und neue Denkwelten zu öffnen, die Wahrnehmung zu weiten und die Sprache kritisch zu beleuchten -, bleibt bloße Behauptung.

Und was heißt überhaupt "Gedicht"? Kerstin Hensels Vorstellung vom Gedicht ist, um es höflich zu sagen, eher traditionell. Ringelnatz und Rühmkorf geben ihr die ästhetische Linie vor, nur selten tauchen Verse von H.C. Artmann oder Oskar Pastior auf, von Autoren also, die Sprache selbst in ihrer Materialität erforschen und mit den Wörtern spielen. Überhaupt ist die alte Suche nach dem Sinn so etwas wie der Leitfaden der Hensel'schen Deutungen. Dass gegenwärtige Gedichte Kategorien wie "Sinn" und "Verstehen" indes oft in die fragende Bewegung der Verse selbst einbeziehen und sie offenhalten, spielt in ihren Lektüren keine Rolle.

Eine große Rolle jedoch spielt der Ton. Sei es, dass Hensel Gedichte mag, die Wortkritik betreiben, sei es, dass sie einzelne Formulierungen auf ihre Brauchbarkeit hin abtastet. Auch bemüht sie sich um eine möglichst einfache, ohne germanistische Termini auskommende Redeweise. Und entdeckt Verse wie jene des Expressionisten Paul Boldt: "Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen, / Die wie getroffen auseinanderhinken. / Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen, / Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken."

So findet man als Leser sehr leicht in die Interpretationen hinein. Manchmal ist der Weg zur Plattitüde aber nicht allzu weit. "Form allein ist auch keine Kunst", schreibt Hensel, "wenn sie nichts Magisches, sinnlich Überzeugendes hat". Das Magische wäre also das sinnlich Überzeugende? Die Theoretiker des Magischen dürften da getroffen auseinanderhinken. Andernorts kommt sie über Floskeln wie "eindringlich, präzise, inbrünstig und suggestiv" nicht hinaus.

Dennoch: Kerstin Hensel versucht sich an einer Schulung des guten Geschmacks. Und auch, wenn man dabei vor allem etwas über den Geschmack der Autorin erfährt, folgt man ihren Sätzen oft nicht ohne Vergnügen. Denn Hensel bemüht sich gar nicht erst um einen sachlichen Ton, sondern schreibt hier ironisch, dort in einer bewusst rotzigen Diktion. Das wirkt im Vergleich zu vielen pathosschweren Büchern über das Gedichteschreiben durchaus entspannt. Die Amateurlyriker allerdings wird sie so kaum bekehren.

Kerstin Hensel: Das verspielte Papier. Über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, München 214. 239 Seiten, 14,99 Euro.

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