Gedenken an den Ersten Weltkrieg:Die Erinnerung schmeckt nach Haferflocken

Soldatenkekse für ein essbares Kunstwerk

In der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Sachsen entstehen die Kekse - in sechs verschiedenen Soldatenformen

(Foto: dpa)

Der Künstler Kingsley Baird baut im Militärhistorischen Museum Dresden ein Denkmal aus Keksen in der Form von Soldaten. Sobald es fertig ist, sollen die Besucher die Figuren aufessen. Und sich dann fragen: Was soll uns das sagen?

Von Cornelius Pollmer, Dresden

Der Künstler schubbt gerade auf Knieschonern über den Boden, als im Nebenraum eine Schulklasse an der Infotafel stoppt. Die Führerin sagt, man könne hier, im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr, mehrere Tage verbringen und habe noch immer nicht alles gesehen. Ein Junge wendet sich ab, im Gehen wirft er seinem Kumpel einen Brocken Sächsisch zu, und zwar von erstaunlich hohem Reinheitsgrad.

Er sagt: "Or nee, ni schon wieder Museum." Man kann das anders formulieren, aber im Grunde bestätigt Kingsley Baird den Jungen, als er sich aufrichtet, um über sein Projekt "Stela" zu sprechen. "Gedenken" sagt er, "ist anstrengend". So ist es, im Allgemeinen wie im Besonderen.

Zum Besonderen. Kingsley Baird verbringt seine Zeit gerade tatsächlich im Museum, zehn Tage am Stück, und wenn ihn jemand fragt, was er da macht, dann muss die Antwort lauten: Ich staple Kekse. Viele Kekse. 18000 schichtet Baird um ein Scheingrab, ein Kenotaph aus Stahl.

Sechs Ebenen sind zu bestücken, für Kingsley Baird ist die Arbeit ein einziges, langwieriges Aufrichten. Er beginnt auf Knien, fährt fort auf einem Feldstuhl sitzend, endet im Stehen. Gedenken ist anstrengend.

Keksgrab als interaktives Gedenken

Am nächsten Samstag soll das Keksgrab fertig sein, und die Frage ist dann, wie zügig sein Rückbau beginnt. Baird möchte, dass die Besucher selbst dieses spektakulären Museums nicht an Infotafeln verweilen, sie sollen stattdessen an "Stela" herantreten und sich dann gerne einen Keks nehmen.

Man kann auch das anders formulieren: Alle Gäste, sagt Baird, dürften "Erinnerung verinnerlichen". Die Kekse wurden von der Akademie des Bäckerhandwerks gebacken, nach dem Originalrezept der "Anzac biscuits", womit dann auch die Fährte vom Genuss zur Geschichte gelegt ist. Angehörige wählten bevorzugt dieses Rezept, als sie für die Soldaten des Australian and New Zealand Army Corps im Ersten Weltkrieg kleine Päckchen schnürten.

Im schlimmsten Fall hält so ein Keks länger als ein Soldatenleben, und auch zu diesem Gedanken möchte Kingsley Baird aus Wellington, Neuseeland, die Besucher des Museums führen.

Zum Allgemeinen. Baird sucht als bildender Künstler seit Jahren nach neuen Formen der Gedächtniskultur. Sein Großvater reiste noch nach Europa, "um das Kriegshandwerk auszuüben". Er selbst tut dies nun, um zu erinnern, sich und andere. Baird sagt, er könne nicht viel anfangen mit dem, was er "totes Gedenken" nennt. Selbst die Monumente unter den Denkmälern schrumpfen mit der Zeit zu stummen Ansammlungen von Steinen, wenn sich immer wieder Menschen neu um Auseinandersetzung mit dem bemühen, woran sie sich erinnern.

Die Aussicht auf einen kostenlosen Keks ist da natürlich ein hervorragender Köder, und wer sich dann auch nur einen kleinen Moment nimmt, diesen zu betrachten, der kommt an der Auseinandersetzung eigentlich nicht mehr vorbei.

Essbare Soldaten - eine Unanständigkeit?

Kingsley Baird angelt sich einen Keks aus seinem Vorrat, er hält ihn kurz ins Licht. "Das hier ist ein Franzose", sagt er, das erkenne man am mürben Stahlhelm, Typ Adrian M15. Gerade lag der Kamerad noch neben einem einarmigen Soldaten aus Deutschland und einem Brodie-behelmten Briten. Jeder Keks: ein Individuum. Alle zusammen: eine im Grunde grauenvolle Masse. "Es geht mir nicht darum, einzelne Nationalitäten herauszupicken, im Gegenteil, ich möchte damit zeigen, dass die Soldaten in ihrem Tod eins sind."

Die Idee möchte sich freilich nicht jedem erschließen, schon während des Aufbaus geriet Baird freundlich mit einer Gruppe von der Marineschule Kiel aneinander. Einen Soldaten essen? Fanden sie unanständig, Meta-Ebene hin oder her.

Letztlich aber geht es auch bei dem Projekt von Kingsley Baird um die "Instandhaltung von Menschlichkeit", wie er sagt. Wer sich an Krieg, Tod und Verderben der Vergangenheit erinnert, dem soll es leichter fallen, den Frieden der Gegenwart zu schätzen.

So meint er das, richtig? Moment, sagt Baird, das mit der Vergangenheit könne man so natürlich nicht stehen lassen. Syrien, Ukraine, "es ist ja noch nicht vorbei, das sehen wir doch jede Nacht im Fernsehen". Kriege von heute, Kriege von gestern, da muss man seine Aufmerksamkeit schon sorgsam verteilen.

Und selbst wer mit einer gelungenen Mischung aus Vollkornmehl, Haferflocken und Kokosraspel für sein Anliegen werben kann, steht doch in heftiger Konkurrenz zu den Anliegen anderer. Als man Baird verlässt, passiert man noch ein paar Stuhlreihen und wird auf eine Veranstaltung des Museums am Abend hingewiesen.

Fast eine Abwechslung dieser Tage: Es geht mal nicht um den Ersten Weltkrieg, sondern um den Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

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