Oper auf der Kinoleinwand:Fast wie in der Met

Oper in der Kleinstadt

In Aichach wird die Oper "Manon Lescaut" von Giacomo Puccini live aus dem Royal Opera Hose in London übertragen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Hat Puccini tatsächlich so tolle Filmmusik komponiert? Warum Menschen Opernübertragungen so gerne im Kino verfolgen: Eine Geschichte über den Glamour am Popcorn-Automaten.

Von Michael Stallknecht

Man solle sich auf jeden Fall gut anziehen, hat die Marketingchefin am Telefon geraten. Gerade die Journalisten kämen immer so schlampig und wunderten sich dann. Drei Tage später steht man zum ersten Mal in seinem Leben in Anzug und Krawatte mitten in einem Kino. Der Fußweg ging eine halbe Stunde die Ausfallstraße entlang, vorbei an Autohäusern und einem Gefängnis. Aichach ist ein hübsches, im zentralen Baubestand aus dem Barock erhaltenes Städtchen im bayerischen Schwaben. Das örtliche Cineplex jedoch repräsentiert auch hier den Stand bundesdeutscher Kinoarchitektur in den vergangenen zwanzig Jahren. Da hilft auch der rote Teppich nichts mehr, der vom Parkplatz hineinführt.

Für die Inszenierung ist der Teppich allerdings so wichtig wie der Anzug oder der Sekt, der am Eingang ausgeschenkt wird. Das Aichacher Cineplex überträgt an diesem Abend die Neuproduktion von Giacomo Puccinis "Manon Lescaut" aus dem Royal Opera House in London, die Hauptrollen singen die lettische Sopranistin Kristine Opolais und der deutsche Tenor Jonas Kaufmann.

Man hätte auch ins Cinestar nach Gütersloh fahren können, nach Bad Soden am Taunus oder in den Waiblinger Traumpalast. An fast hundert deutschen Standorten verfolgen Kinobesucher an diesem Abend live, wie Opolais die schöne Manon singt, die sich zwischen Geld und wahrer Liebe nicht entscheiden kann. Oper im Kino, das ist ein boomender Markt, der sämtliche Studien widerlegt, dass sich Menschen immer weniger für klassische Musik interessierten. Allein London überträgt seine Neuinszenierungen in mehr als 1500 Kinos in über vierzig Ländern.

"Da brauchst dich um nix kümmern"

Warum das in Gegenden mit geringer Operndichte funktioniert, versteht man noch. In vielen mittelgroßen deutschen Städten aber kann man Oper fast jeden Abend live erleben. Viele dieser Häuser haben mit ihren Auslastungszahlen zu kämpfen, an Karten kommt man auch kurzfristig. Warum sieht man sich in Aichach Opern aus London an, statt ins eine halbe Autostunde entfernte Augsburg zu fahren und das ganze "in echt" zu sehen?

Die erste Antwort ist einfach: Bequemlichkeit. Der Parkplatz vor dem Haus spielt eine wesentliche Rolle. "Wir sind in zwei Minuten daheim", sagt eine ältere Dame, die ihre beste Freundin mitgebracht hat. "Wenn ich nach München fahren muss, ist das schon eine Unternehmung." Für die Getränke müsse man nicht anstehen, sagen die Aichacher, die Sitze seien im Kino auch breiter. Auch das Klo spielt eine kaum zu überschätzende Rolle. Angeblich findet man es leichter als im Theater. "Da brauchst Dich um nix kümmern", fasst ein Herr mit stark dialektaler Färbung zusammen. "Da kommst her und relaxt."

Klar: Die hochmobilen Eliten werden solche Argumente spießig finden. Der Frankfurter Jungbanker wird die neue Freundin noch immer ins Frankfurter Opernhaus ausführen. Die Übertragungen bedienen ein anderes Publikum: Leute, die in München nicht ins Nationaltheater gingen, sondern ein Abo im Gärtnerplatztheater hatten, um sich Spielopern und Operetten in freundlichen Inszenierungen anzuschauen. Auch in Aichach waren viele schon in der "echten Oper", wie man hier sagt. Aber es ist eben etwas anderes. Die Kinoübertragungen kommen deshalb verblüffenderweise gerade auch in den Großstädten gut an. In München füllen allein die Bilder aus der Metropolitan Opera regelmäßig zwei komplette Kinos.

Das New Yorker Opernhaus war im Jahr 2007 das erste, das mit den Übertragungen begann. Für die Met geben manche Kinos bereits Abonnementreihen aus. Im Münchner Gloria Palast kostet die Edelvariante immerhin 670 Euro im Jahr, Getränke und Pausenbuffet eingeschlossen. Das Kino füllt die Übertragungen bereits zu zwei Dritteln über Abonnements. Und die übrigen Karten für das ganze Jahr gehen am ersten Vorverkaufstag weg. Das Gloria ist vor eineinhalb Jahren zum "Premium Film Palast" umgebaut worden: Die Preise sind höher, dafür hat jeder Besucher seinen eigenen Ledersessel mit Fußbank und wird am Platz mit Essen bedient. "Die älteren Herrschaften lieben es, dass sie die Füße hochlegen können", sagt die Assistentin der Geschäftsführung Petra Lo Sciuto.

Mit Schöner-Anziehen, aber ohne Buffet

Am Pausenbuffet hat man auch in Aichach nicht gespart. Die Garnelen im Teigmantel und die Melonenspießchen fallen deutlich üppiger aus als das Essen auf den Premierenfeiern in den meisten Theatern. Die Konkurrenz schläft schließlich nicht: Ins eine halbe Autostunde entfernte Gröbenzell überträgt die Met, das Augsburger Cinemaxx ist ebenfalls dabei. Dort seien die Opern zwar "auch mit Schöner-Anziehen, aber ohne Buffet", sagt eine rundliche Dame im lachsfarbenen Oberteil. In Berlin könne man die Opernübertragungen auch "in Jeans und mit Popcorn" anschauen, für Aichach sei das aber nichts, sagt die Marketingchefin Susanne Ehring, die viele Gäste persönlich am roten Teppich begrüßt.

Es ist eine seltsame Umkehrung der Verhältnisse. In den Großstädten muss man sich für den Opernbesuch längst nicht mehr "schöner anziehen", Sakko und Jeans reichen aus. Die Kinooper dagegen inszeniert die Hemmschwellen von dazumal wieder als Event. Es stellt die Pausenbuffets wieder auf, die die deutschen Theater gerade beiseite geräumt hatten. Es inszeniert die Oper als die gesellschaftliche Konvention, die sie für Chefdramaturgien und Feuilletons schon lang nicht mehr sein soll. Sogar das gute alte Abo hat da plötzlich wieder Konjunktur.

Schonkost kommt denn in Aichach auch auf der Bühne nicht gut an. Die reduzierten deutschen Bühnenbilder, das sei "nix für die Emotionen", heißt es aus einer Gruppe, die regelmäßig gemeinsam kommt. Wer Oper im Kino schaut, sucht das Mondäne, das deutsche Opernregisseure lieber hinter dem festen Willen zur radikalen Kunstübung verstecken. Deshalb bestreiten die Met und Covent Garden, das Moskauer Bolschoi, die Pariser Opéra Bastille und die Opera Australia den Markt. Aus Deutschland senden seit 2012 nur einmal im Jahr die Bayreuther Festspiele, da zieht der Mythos. Das Publikum der Kinoübertragungen will glamouröse Bühnenbilder, opulente Kostüme. Aber auch unkonventionellere Inszenierungen haben ihre Fans.

"Manon Lescaut" aus London jedenfalls kommt gut an. Regisseur Jonathan Kent hat die Handlung aus dem Paris des 18. Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt und lässt Kristine Opolais im zweiten Akt eine lesbisch angehauchte Stripshow hinlegen. "Deftig" oder "kraftvoll" findet man das in der Pause, aber es passe gut zum Stück. Spießig will man nicht sein. Wer Oper im Kino ansieht, sucht den Blick in die große weite Welt, nach London oder New York eben. "Wenn ich in die Oper gehe, will ich auch g'scheite Sänger hören", gibt eine ältere Dame zu Protokoll. Heißt: Wenn man schon Geld ausgibt, dann gleich für Jonas Kaufmann. Könnten die Kinoübertragungen am Ende sogar zur Gefahr für die kleinen Häuser werden?

Man will die zitternden Hände sehen

Klar ist: Sie liegen exakt in der Logik, die das Fernsehen schon immer bedient - die große Welt auch im kleinsten Dorf ganz nahe zu haben. Der "Kitzel einer Liveübertragung" sei wichtig, erklärt Susanne Ehring, schon minimale Zeitversetzungen akzeptiere das Zielpublikum nicht. Man will die Schweißperlen auf dem Gesicht von Jonas Kaufmann sehen und die zitternden Händen des Basses Maurizio Muraro, den im ersten Akt angesichts der weltweiten Übertragung sichtlich das Lampenfieber plagt.

"Viel intensiver" als in der "echten Oper" sei das, loben die Aichacher, man sehe viel mehr. Die Fernsehästhetik prägt die Erwartungshaltung. Lob finden die Sänger vor allem dafür, dass sie inzwischen realistischer spielen. "Man muss sich wundern, was die Sänger heute alles machen müssen", lautet der halb zweifelnde, halb anerkennende Kommentar zu Opolais' Stripshow. Wie zuhause am Fernseher soll es der ganz große Star sein - der aber bitteschön zum Anfassen. Beim Pausenprogramm setzen die übertragenden Opernhäuser dann auch auf den tiefen Blick ins Nähkästchen. Für "Manon Lescaut" hat London eigens den walisischen Starbariton Bryn Terfel engagiert. Er singt nicht, sondern führt Gespräche mit den Mitwirkenden, während im Hintergrund die Bühnenarbeiter umbauen.

Traditionelle Opernliebhaber dürften das eher seltsam finden. Unter ihnen gilt es schon als vulgär, in der ersten Reihe sitzen zu wollen. Die Aficionados finden sich in den großen Häusern noch immer auf den Stehplätzen oder auf der obersten Galerie. Dort sind die Sänger zwar am fernsten, der Klang aber, der ist am klarsten. Im Kino will man es auch an diesem Punkt direkter. "Besser als in der echten Oper" findet mancher gar den flachen, aber lauteren Klang aus Kinolautsprechern. Die Kinooper formt den reibungslosen Korridor zwischen Fernsehsessel und Weltstadt, zwischen Ausfallstraße und rotem Teppich.

Der Schluss der Übertragung fühlt sich dann auch verblüffend ähnlich an wie seinerzeit das Ende von "Titanic": Jonas Kaufmann über der sterbenden Kristine Opolais in amerikanischer Wüste statt Kate Winslet über Leonardo DiCaprio im Ozean. Hat Puccini tatsächlich so tolle Filmmusik komponiert? Das Aichacher Publikum bleibt mucksmäuschenstill sitzen, bis auch in London der Schlussapplaus verstummt. Wie in der echten Oper, nur ohne Klatschen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: