NS-Raubkunstskandal:Die Bergpredigt aus Zelle 6

Frans Francken

Der flämische Barockmaler Frans Francken aus Antwerpen malte diese detailreiche "Bergpredigt" um 1620.

(Foto: AP)

In München tauchte ein Meisterwerk auf, das Hildebrand Gurlitt 1943 an Adolf Hitler verkaufte. Nun wurde es zurückgegeben - nicht an Vertreter der Opfer, sondern an die Familie eines NS-Kasernenwartes.

Von Kia Vahland

Wo war Alois R. in der Nacht auf den 30. April 1945, den Tag, an dem Adolf Hitler in Berlin Selbstmord beging? Vielleicht lag er in seinem Bett in der Münchner Türkenkaserne und träumte vom Frieden. Vielleicht aber hat der Kasernenwart seine Stiefel geschnürt und ist durch die Trümmerfelder spaziert, vorbei an seinem alten Haus in der Arcisstraße, das nun ausgebombt dalag. Und ist die Straße heruntergelaufen bis zum Königsplatz, dem zentralen Aufmarschplatz der Nazis. In den vergangenen Kriegsmonaten hatten Tarntücher die Granitplatten auf dem Boden bedeckt. Deswegen hatten die amerikanischen Bomberpiloten ihr Ziel verfehlt: Hitlers "Führerbau" zu treffen, jenen wuchtigen Bau von grauer Strenge, der seit der Nazizeit den Platz verriegelt, gemeinsam mit dem NSDAP-Parteizentrum und den Ehrentempeln für die "Blutzeugen der Bewegung".

An diesem Abend standen vor den viel zu schweren Toren unter Hitlers Balkon keine Wachen mehr stramm. Amerikanische Truppen hatten tagsüber bereits das KZ Dachau befreit, und über den Rundfunk riefen einige Deutsche zur Jagd auf die letzten Parteibosse in der Stadt auf. Die Keller des "Führerbaus" waren noch gut gefüllt. In den Katakomben, die durch Geheimtunnel mit dem NSDAP-Parteizentrum verbunden sind, gab es einen Wein- und einen Bierkeller, eine Roheisanlage und einen Kühlraum für Wild und Geflügel. Eine Raumflucht unter der Arcisstraße war von extra verstärkten Türen gesichert. Hinter diesen stapelten sich mehr als 600 museale Kunstwerke, gekauft oder geraubt für das "Führermuseum", das Hitler in Linz plante. In Zelle Nummer sechs drängten sich deutsche Liebhaberstücke des 19. Jahrhunderts neben großen Meisterwerken des Goldenen Zeitalters, des niederländischen 17. Jahrhunderts: Ein Jan Vermeer zugeschriebenes Gemälde war darunter und zwei Werke des Antwerpener Barockmalers Frans Francken (1581-1642).

Einige der geraubten Bilder fand man in den Kartoffelkellern Münchner Bürger

Was in dieser Nacht geschah, wissen nur die Beteiligten. Am nächsten, spätestens am übernächsten Morgen waren die Keller leer. Über 100 Bilder tauchten nach dem Krieg im Handel oder in den Kartoffelkellern von Münchner Bürgern auf. Die große Mehrzahl aber, genug für ein ganzes Museum: verschwunden. Einer der größten Kunstdiebstähle des 20. Jahrhunderts ist bislang nicht aufgeklärt. Wer die Hintermänner waren, wer Brecheisen, Schutzplanen und Laster organisierte: unbekannt. Bescheid wussten die Nachbarn, die sich womöglich im Anschluss an eine organisierte Bande bereicherten, die letzten Profiteure in einer Kette von Dieben, Erpressern, Hehlern. Doch sie schwiegen.

Jetzt ist nicht nur die Generation von Alois R. tot, auch ihre Kinder vererben schon ihr Hab und Gut. Inzwischen verfügen zwei Großnichten von Alois R. über die "Bergpredigt" von Frans Francken, dokumentiert von den Nazis als Nummer 3202 in Zelle sechs des "Führerbau"-Bunkers. Der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt hatte das schmale, mit feinem Pinselstrich hingehauchte Gemälde im Herbst 1943 im besetzten Frankreich für 7500 Reichsmark (150 000 Franc) erstanden und für 10 000 Reichsmark an den Planungsstab des "Führermuseums" verkauft. Das belegen die Unterlagen der Nazis ebenso wie die Geschäftsbücher Gurlitts, welche die international besetzte Taskforce geheim hält, die gerade im Auftrag der Bundesrepublik den Fundus seines Sohnes Cornelius erforscht.

Die Bilder des inzwischen gestorbenen Cornelius Gurlitt, die meisten ebenfalls von seinem Vater in Frankreich erworben, erregen seit einem halben Jahr internationales Aufsehen, beschäftigten erst Polizisten und Staatsanwälte, dann Politiker bis hin zu Angela Merkel. Exekutive, Jurisdiktion und Legislative unternehmen in Deutschland alles, was in ihrer Kraft steht, um von Cornelius Gurlitt jahrzehntelang in seiner Schwabinger Wohnung versteckte Bilder, wo nötig, an die Erben enteigneter jüdischer Sammler zurückzugeben.

SZ-Recherchen ergeben nun: Parallel zum Fall Gurlitt geschah in München im Fall Alois R. das genaue Gegenteil. Seine Nachkommen besitzen Frans Franckens "Bergpredigt" aus dem "Führerbau". Das LKA Bayern zog das Werk ein, die Staatsanwaltschaft ermittelte, das zuständige Bundesamt für offene Vermögensfragen bezog Stellung, es kam zu einem Gerichtsverfahren. Im Mai dieses Jahres wurde das Gemälde schließlich herausgegeben. Nicht an Interessensvertreter der jüdischen Sammlerin, der das Werk vor ihrer Deportation womöglich gehört hatte. Auch nicht an Frankreich, wo es Gurlitt zu Besatzungszeiten erstand. Sondern an die Erben des Münchner NS-Kasernenwartes Alois R., einem Besitzer von Diebesgut. Damit hat Bayern einen neuen Raubkunst-Skandal.

Typischer Aufstieg eines kleinen Mannes in Zeiten der Diktatur

Cornelius Gurlitt ist in Augen der deutschen Öffentlichkeit ein Täterkind. Nachfahre von "denen", die "uns" den Nationalsozialismus und seine Folgen eingebrockt haben. Alois R. dagegen war ein kleiner, im Ersten Weltkrieg verwundeter Haus- und Bürodiener aus dem Bayerischen Wald, der es im Nationalsozialismus zu einer Wohnung in einem Haus der Heeresstandortverwaltung brachte, nur wenige Blocks vom "Führerbau" entfernt. Seine Nachbarn waren Feldwebel, mit über 50 Jahren bekam er noch eine Anstellung als Kasernenwart. Diese Eckdaten erfährt, wer die alten Bestattungsanzeiger in der Süddeutschen Zeitung durchblättert sowie die dicken vergilbten Adressbücher in der Bibliothek des Deutschen Museums liest. Keine großartige Karriere ist da dokumentiert, aber ein typischer Aufstieg eines kleinen Mannes in Zeiten der Diktatur.

Übergabe der neuen Truppenfahnen am Königsplatz in München, 1936 | Hand-over of the new flags on Koenigsplatz (King`s Square) in Munich, 1936

Der Tatort: Links auf diesem Propagandafoto von 1936 steht der "Führerbau" am Königsplatz. Dort verschwanden in der Nacht zum 30. April 1945 über 600 Kunstwerke.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Der Fall zeigt: Für ein mutmaßliches Raubkunstgemälde aus dem Besitz eines Kleinbürgers gelten in Deutschland andere Regeln als im Fall Gurlitt. Nämlich immer noch die alten: Wir behalten, was wie auch immer in unsere Hände geriet. Und vererben es weiter, zumal die anderen, die jüdischen Opfer, außer ihrem eigenen Leben meistens auch ihre Kinder und Verwandten verloren.

Die Nichten wissen nicht, wie Alois R. und seine Frau an das Stück kamen

Spricht man mit den Akteuren, den Vertretern der Polizei und der Staatsanwaltschaft, dem Rechtsanwalt der Erbinnen von Alois R. und dem Bundesamt für offene Vermögensfragen, dann beteuern alle, sich nur an Recht und Gesetz gehalten zu haben. Und das haben sie auch getan. Nur dass Recht und Moral nicht zusammenfallen, wenn Gesetze für Friedenszeiten geschaffen wurden, aber auf die Zeugen von Gewalt und Krieg angewendet werden.

Das LKA erfuhr 2008 von dem Münchner Kunsthistoriker und Raubkunstexperten Stephan Klingen von dem Fall. Entdeckt hatte Klingen das Stück in der BR-Sendung "Kunst und Krempel", in der Bürger ihre Erbstücke schätzen lassen können. Es hat einen charakteristischen Riss quer durch die Mitte und konnte nur die Fassung der "Bergpredigt" sein, die zu NS-Zeiten im "Führerbau" fotografiert worden war. Die Kommissare ermittelten im Verdacht auf Hehlerei und baten die Bevölkerung um Hinweise auf die Besitzer. Die meldeten sich freiwillig: Die Tochter von Alois R. hatte das Bild von ihren Eltern bekommen und jahrzehntelang zu Hause hängen, bevor sie nun als über 90-Jährige krank wurde, und die nächste Generation den anstehenden Nachlass sichtete. Inzwischen ist die Dame gestorben. Ihre Nichten erklärten sich nach Angaben des Rechtsanwaltes und LKA zu einer Rückgabe des Bildes an die Nachfahren von NS-Opfern bereit, wenn sich dies als der rechte Weg herausstellen würde.

Damit war die Justiz am Zug. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelte - und konzentrierte sich gesetzestreu auf die vergangenen fünf Jahre, in denen Diebstahl und Hehlerei strafrechtlich nicht verjährt sind. In diesem Zeitraum aber war das Gemälde nicht gestohlen worden. Und wie der Rechtsanwalt anmerkt, haben die letzten Besitzerinnen das Werk guten Glaubens erhalten - sie wissen nicht, wie Alois R. und seine Frau einst an das Stück kamen, haben es also im juristischen Sprachgebrauch möglicherweise "ersessen".

Nun könnte die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des deutschen Reiches ein Veto einlegen, denn das Bild befand sich ja bis April 1945 im "Führerbau". Es tritt auf: Der Vertreter des Bundesamtes für offene Vermögensfragen. Er stellt fest, dass die Gestapo im Jahr 1938 in Wien die Jüdin Valerie Honig unter Druck setzte und ihre Sammlung taxierte. Honig musste eine "Bergpredigt" von Frans Francken für nur 700 Reichsmark abgeben, bevor sie auch das Geld verlor und deportiert und ermordet wurde. Mit Sicherheit lässt sich nicht sagen, dass es sich um dasselbe Gemälde handelt, das später im "Führerbau" lagerte.

"Keine Ansprüche bezüglich der ,Bergpredigt' geltend gemacht"

Der Kunsthistoriker Stephan Klingen, einer der besten Kenner der Materie, erforscht gemeinsam mit Christian Fuhrmeister und Meike Hopp am Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte den "Führerbau"-Raub vom April 1945. In seinen Augen ist es unwahrscheinlich, dass die Gestapo ein Bild erst in Wien beschlagnahmt, es dann in den Pariser Kunsthandel gelangt und von dort über Hildebrand Gurlitt an die Nazis für Linz in Österreich zurückverkauft wird. Zudem liegt der Preis, den Gurlitt zahlte, um ein Vielfaches über dem Wert in dem Wiener Inventar der Gestapo und die Bildtitel sind in dieser Liste und der des "Führerbaus" nicht identisch. Es könnte sich also um zwei verschiedene Fassungen desselben Motivs handeln. Weil das Werk Hitlers Apparat gehörte, wäre dann die Bundesrepublik Eigentümerin, bis die Herkunft geklärt ist.

Wenn aber dagegen die Annahme des Bundesamtes für offene Vermögensfragen stimmt, dass dieses Bild aus jüdischem Besitz stammt, müsste es dann nicht erst recht restituiert werden? "Die Erben von Frau Honig oder jüdische Interessenvertretungen haben keine Ansprüche bezüglich der ,Bergpredigt' geltend gemacht", antwortet das Bundesamt auf Nachfrage der SZ lapidar. "Die maßgeblichen Fristen zur Geltendmachung von Ansprüchen nach dem deutschen Wiedergutmachungsrecht sind bereits abgelaufen." Und die Selbstverpflichtung der Bundesrepublik zur Rückgabe verschollener Werke, wie sie 1998 in der Washingtoner Erklärung vereinbart wurde, erstrecke sich nicht auf Kunstwerke in Privatbesitz. Cornelius Gurlitt hat seine Bilder freiwillig erforschen lassen - dies aber müssen die Erbinnen von Alois R. nicht tun. Es wäre auch nicht einfach: Recherchen der jüdischen Gemeinde in Wien nach Nachfahren der Sammlerin Valerie Honig führten zu keinem Ergebnis.

Die Familie von Alois R. verlangte das Werk zurück - und bekam es von dem Gericht zugesprochen. Nicht weil ihr Eigentum nachgewiesen ist, sondern weil die Bundesrepublik ihre Ansprüche nicht geltend machen konnte: Es soll ja rechtmäßig nicht Hitler, sondern Honig gehört haben. Und wenn sich kein klarer Eigentümer ausmachen lässt, geht ein Gegenstand an den zurück, der zuletzt über ihn verfügte. Das Bundesamt nutzte die Chance nicht, den Fall in einem Zivilverfahren noch einmal aufzurollen: Es sah, so eine Sprecherin, "keine Aussichten auf Erfolg".

Was jetzt aus dem Bild wird, ist unklar. Die Erbinnen lassen über ihren Anwalt ausrichten, sie hätten sich noch nicht entschieden, was sie mit Franckens Meisterwerk planten. Die Gesichter der Figuren, die Landschaft und die Gebäude im Hintergrund, all das ist so feinfühlig und farbintensiv gemalt, dass dieses Gemälde auch ein gutes Museum schmücken würde. Auf dem freien Markt könnte es, theoretisch, einen sechsstelligen Betrag erzielen - praktisch aber dürfte die immer noch fragwürdige Herkunft viele Käufer abschrecken.

Es gibt keinen Schuldigen in dieser neuen bayerischen Raubkunst-Tragödie - keiner der Akteure ist aus der Rolle gefallen, jeder hat für sich genommen gesetzestreu gehandelt, auch die Erbinnen. Niemand aber, die außenstehenden Kunsthistoriker einmal ausgenommen, hat das ganze Drama in den Blick genommen. Und so finden es alle normal, dass am Ende ein Bild, das Hitler von Hildebrand Gurlitt für sein Parademuseum bekam, nicht zurückgegeben wird an die Opfer des Regimes. Und dass ein doppelter Diebstahl - einmal vermutlich aus einer jüdischen Sammlung, einmal aus dem Führerbau - nicht geahndet wird, wenn nur genug Zeit verstrichen ist. Das Skandalon ist also, dass sich alle an Regeln und Gesetze hielten, diese aber nicht ausreichen, um endlich Gerechtigkeit walten zu lassen.

Deutsche Gesetze helfen nicht weiter

Noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit wäre die Sache anders ausgegangen. Damals entschieden amerikanische "Monuments Men", was aus den Nazi-Schätzen wird. Im früheren "Führerbau" und der NSDAP-Zentrale am Münchner Königsplatz lagerten und sichteten sie die Werke aus den von den Nazis besetzten Gebieten. Wäre die Holztafel von Frans Francken nicht im April 1945 gestohlen worden, die Amerikaner hätten sie nach Paris zurückgeschickt - damit die Franzosen selbst herausfinden, aus welcher Quelle das Bild stammt. So einfach und moralisch klar konnten die Dinge damals laufen.

Wem werden die Deutschen künftig in Raubkunstfragen nacheifern - dem Kunsthändlersohn Cornelius Gurlitt und seiner späten, halb erzwungenen und doch freiwilligen Versöhnlichkeit oder dem Kasernenwart Alois R. und seinen Nachkommen, die beanspruchen, was sie guten Glaubens bekamen? So, wie die Regeln sind hierzulande, werden weiterhin nicht die Nachkommen der Opfer entschädigt werden, sondern die Bilder bleiben bei Privatleuten ohne solche tragischen Familiengeschichten wie die der ermordeten jüdischen Sammlerin Valerie Honig.

Der Münchner Fall Frans Francken zeigt, was sich schon in der Causa Gurlitt offenbarte: Die deutschen Gesetze mit ihren Verjährungsfristen und der Möglichkeit, Diebesgut "gutgläubig" zu ersitzen, helfen im Umgang mit NS-Raubkunst nicht weiter. Der Staat vernachlässigt seine Verantwortung, wenn er sich nicht, ähnlich wie in Österreich, zweifelhafter Bilder selbst annimmt. Die Bundesrepublik ist Rechtsnachfolgerin des NS-Staates, vielleicht deshalb zögern Gesetzgeber und Gerichte, ihr mögliche NS-Raubkunst anzuvertrauen. Nur der Staat aber könnte dafür sorgen, dass solche Werke erforscht und an die Erben der Opfer zurückgegeben werden. Von Privatleuten ist dies sehr viel verlangt.

Mitarbeit: Ira Mazzoni, Benjamin Schaper

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